An einem milden Nachmittag im Oktober machen Silvia und Steffen einen seltenen Besuch. Silvia hatte sich schon lange vorgenommen, dies zu tun, aber irgendetwas kam immer dazwischen. Heute endlich nimmt sie sich Zeit.

Schon auf dem Weg kommen ihr alte Erinnerungen ...

Es ist schon etwa 30 Jahre her:

Wie klein doch das Dorf war. Dort, in Kossenblatt hatte Elli also ihre Kindheit verbracht. Ein Berliner Großstadtkind wie Silvi konnte sich nicht vorstellen, wie dort Menschen leben konnten. Jede Familie hatte ein eigenes Haus und einen Garten dazu. Etwas außerhalb des Dorfes waren Wälder, Felder, Gewächshäuser und Ställe, die von den Dorfbewohnern gemeinsam bewirtschaft wurden. Wenn die Menschen auf den Feldern waren, war es im Dorf besonders ruhig. Ab und zu krähte ein Hahn und geschwätzige Hühner tratschten leise miteinander.

Silvi und Elli waren müde vom Laufen und setzten sich am Wegrand hin, um ein wenig auszuruhen. Das also war der Spreewald, von dem Elli so oft erzählt hatte. Unter hohen Kiefern und Laubbäumen waren sie endlos gewandert. Elli hatte einen Korb voller bunter Pilze gesammelt. Sie stellte ihn zwischen die violett schimmernden Erikapflänzchen. Wildbienen und Hummeln summten unermüdlich um die winzigen Blüten. Silvi schloss die Augen und ließ ihr Gesicht von den Sonnenstrahlen wärmen, die auf die kleine Waldlichtung schienen. Sie atmete die frische Waldluft und den Duft der Pilze tief ein.

Silvi dachte an den täglichen Schulhof-Lärm. Keine Pause ohne Prügelei, ohne Streit. Sie horchte. Wirklich niemand, der laut schrie? Zum ersten Mal nahm sie wahr, wie Bäume rauschen. Vögel zwitscherten unermüdlich ihre Liedchen und zahllose Insekten summten durch die Luft. Alles schien zusammen zu gehören. Es gab nichts, was störte, auch Elli nicht, die immer wieder unwillig vor sich hin murmelte und aufdringliche Mücken mit ihrem Tuch verscheuchte.

Kam niemand, dem etwas missfiel, hatte niemand eine Frage, einen Wunsch, eine Forderung? Silvi spitzte die Ohren. Dann blickte sie auf ihre Schuhe, die staubig geworden waren. Das Haar, sicher etwas zerzaust, wen störte es?

Alles ringsumher schien sie so anzunehmen, wie sie war, wie sie schon immer war, eben Silvia. Ja, auch sie gehörte dazu.

Sie versuchte, sich zu erinnern. Doch niemals zuvor hatte sie so lange Zeit ungestört an einem so schönem Ort gesessen und sie hatte das Gefühl, sie könnte dies tun, so lange sie wollte ...

In diese Gedanken versunken steht Silvia am Grab von Elli. Elli wäre in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden.

Eine aufkreischende Kettensäge aus der benachbarten Garten-Siedlung bringt sie wieder in die Gegenwart zurück. Hinter der Friedhofsmauer toben rasende Autos vorbei. Ein Flugzeug lärmt über sie hinweg und übertönt das Gebell wütender Hunde.

"Wie lange willst du noch bleiben?"

Sie schaut zu Steffen, der ungeduldig fragt.

"Wollen wir am Wochenende Pilze suchen gehen?", antwortet sie lächelnd.