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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Kleine Leben

©Doris Fischler

Ein Kleines Leben war kein Leben.
Ein Kleines Leben war ein Atmen.
Wenigstens atmen.
Nicht mehr.
Es war ein gebücktes, ein gedrücktes, ein ängstliches Leben.
Neue Morgen brachten neue Schwierigkeiten.
Die Welt war dunkel - auch am Tag.
Voller Gefahren.
Die Nacht war schlimmer. Ihr Schwarz erdrückte das Kleine Leben.
Manchmal wurde es von eben diesem Schwarz vollkommen eingehüllt ohne die kleinste Ritze, welche einen Lichtschein auch nur erahnen lassen hätte können.
Allein sein musste das Kleine Leben nicht. Es kannte viele Menschen, aber es mochte nicht gern mit ihnen zusammen sein.
Denn auch sie waren selbst meist nur kleine Leben, die atmeten. Nicht mehr.
Es wollte nicht das sehen, was es täglich an sich selbst sah.
Und die anderen, die wenigen Leben, die atmeten und lebten, lösten Ängste im Kleinen Leben aus.
Viele Ängste.
Veränderungsangst, Versagensangst, Zukunftsangst, Gegenwartsangst, Vergangenheitserinnerungsangst, Sichselbstanschauenmüssenangst ... und die schlimmste von allen: Die Angst vor den Ängsten!
Das Kleine Leben versuchte so gut es eben ging, diese Ängste im Zaum zu halten, indem es sie beiseite schob und sich nicht mit ihnen auseinander setzte.
Und auch nicht mit sich selbst.
*****
Dann kam ein Traum.
Mitten in einer dieser schwarzen Nächte fraß er sich in das Gehirn des Kleinen Lebens und okkupierte es. In diesem Traum war es umgeben von all seinen Ängsten.
Soweit eine Situation wie an einem ganz normalen Tag.
Aber dann kamen seine Ängste näher, umkreisten, umzingelten und umfingen es. Eine Frage stieg in den Raum, beherrschte ihn, füllte ihn voll und ganz aus, so sehr, dass dem Kleinen Leben kaum noch genug Luft zum Atmen blieb.
Zuerst war sie nur ganz leise diese Frage, beinahe ein Flüstern nur, dann schwoll sie an, lauter und lauter, bis sie in seinen Ohren dröhnte:
"Warum ist dein Leben so klein?"
Das Kleine Leben wollte antworten.
Spontan. Schnell.
Doch in diesem Augenblick kam keine Antwort.
Und auch später nicht.
Die Frage jedoch blieb, war noch lauter geworden zu einem unerträglichen Geräusch, das seinen Kopf schmerzen und es die Hände auf seine Ohren pressen ließ, aber die Stimme blieb.
Sie war nicht länger außerhalb, sie war in ihm drin, hatte sich rein gefressen, durchgefressen, und sie würde es auffressen, wenn es nicht endlich Antwort fand.
"Warum ist dein Leben so klein?"
Dann, als das Kleine Leben schon jede Hoffnung aufgegeben hatte und nur noch Schmerz zu sein schien, schrie es - wie von selbst - wenige Worte hinaus:
"Weil ihr so groß seid!" Worte, die seine Fesseln lösten, seine Schmerzen linderten. "Weil ich euch groß sein lasse!" Im selben Moment war Stille. Im selben Moment waren die Stimmen abgebrochen.
Das Kleine Leben sah sich um. Waren die Ängste noch da?
Sie waren. Doch sie zogen sich zurück, machten um das Kleine Leben herum Platz. Ehemals stolze, aufrechte Gestalten waren nun gebückte, gebrochene Kreaturen.
Das Kleine Leben starrte sie mit offenem Mund an. Es hatte etwas gesagt. Einen Satz nur, und seine Ängste hatten sich zurückgezogen. Es hatte Einfluss auf sie.
Bisher war es überzeugt gewesen, dass nur sie, die Ängste, dazu bestimmt waren, das Kleine Leben zu drücken. Doch jetzt erkannte es, dass es auch Macht über sie hatte. Ein einziger Satz und alles schien sich gewandelt zu haben. Alles hatte sich gewandelt. Die Karten waren neu gemischt.
Doch die Ängste rappelten sich bereits wieder hoch, wurden größer, dehnten sich aus, gewannen an Stärke.
Das Kleine Leben bebte am ganzen Körper und wusste nicht, ob dies die Aufregung über seine gerade erfahrene Macht oder seine Angst vor den Ängsten bewirkte. Es hatte keine Zeit, sich darüber klar zu werden, denn da war etwas in ihm, das Wort für Wort, Satz für Satz in ihm aufsteigen ließ und ...
"Ihr seid groß, weil ich euch groß gehalten habe, aber ich brauche euch nicht - weder groß noch klein. Ihr seid in meinem Leben nicht erwünscht. Wohl brauche ich eine Verwandte von euch, die Furcht, die mich warnt und mich beschützt. Ihr aber haltet mich ab vom Leben, lasst mir manchmal kaum genügend Luft zum Atmen. Ihr habt keinen Platz mehr in meiner Welt. Geht! Lange genug hab ich euch geduldet, sogar genährt. Jetzt ist es damit vorbei. Geht mir aus den Augen!"
Das Kleine Leben sah seine Ängste, direkt an. Jede einzelne. Und jede einzelne war starr vor Schreck. Das Kleine Leben hatte seine Macht erkannt. Ihre Zeit vorbei.
Dem Kleinen Leben schien, als bliebe nichts zurück.
Und doch war es viel - mehr als es je zuvor hatte:
Freiheit, Leben, helle Tage und strahlende Nächte!
*****
Als das Kleine Leben an jenem Morgen erwachte, lag ein Lächeln auf seinen Lippen, und es fühlte sich beschwingt und leicht. Der Tag war strahlend! Es lebte! Gegen Abend wurde ihm klar, dass alles doch nur ein Traum gewesen war. Im gleichen Augenblick spürte es die gewohnte Schwere nahen.
Es wurde von einem letzten Sonnenstrahl berührt. Da wurde ihm bewusst, dass es diesen Traum doch den ganzen Tag über gelebt hatte. Warum sollte es daraus aufwachen? Es fiel ihm kein einziger Grund ein, um aufzuwachen, aber tausend Gründe weiter zu träumen.
Heute lebt es jeden Tag und jede Nacht - das INTENSIVE Leben.


Eingereicht am 13. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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