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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Gold im Strom

©Kerstin Langhoff

Die Sonne spiegelte sich wie geschmolzenes Gold in der Strömung des breiten Flusses. Er teilte die Stadt. Die östliche Hälfte beherbergte den Stadtkern, die westliche trug, neben Villen, Weinberge, von denen man über die Stadt hinaus zu den Feldern blicken konnte. Eine Stahlbrücke vereinte jedoch beide Teile und hatte damit dem trennenden Strom schon seit Jahrzehnten ein Schnäppchen geschlagen.
An jenem Morgen vor 23 Jahren schob eine junge Frau langsam einen Kinderwagen über die Brücke in Richtung Westen. Auf der Mitte der Brücke blieb sie stehen. Der frische Herbstwind blies durch ihr langes, braunes Haar. Mit ihrer kleinen Tochter auf dem Arm blickte sie zu den Frachtern, die mit tonnenschweren Containern auf dem Strom verkehrten. Das monotone Geräusch der Schiffsgetriebe verbreitete einen Hauch von der Freiheit des scheinbar endlosen Meeres.
Ich habe mich oft gefragt, wie mein Leben verlaufen wäre, hätte sie damals nicht auf der Brücke Halt gemacht. Es gibt auf viele Fragen keine Antwort, aber es Antworten, die für das Leben weitaus wichtiger sind.
Auf der westlichen Uferseite nahe der Brückenpfeiler angelten damals drei alte Männer. Ein grauhaariger Mann mit Gummistiefeln und einem fransigen, weiten Strohhut klappte seinen Fischerschemel zusammen. "Hey, kommt lasst uns gehen, die Fische sind jetzt am Grund des Wassers, bei der Sonne haben wir kein Glück mehr. Ich schlage vor, wir machen einen Abstecher bei Anna." Seine Freunde nickten: "Alles klar Wilhelm, wir brechen auf." Vor fünfzehn Jahren wurde Wilhelm pensioniert. Im selben Jahr starb seine Frau Käte. Seit dem ging er fast täglich angeln und danach aß er ein Bauernfrühstück in Annas Bistro, einer kleinen Kate am Binnenhafen. Von da wanderte er dann häufig alleine am Ufer des Flusses entlang zu einsameren Gegenden außerhalb der Stadt. Der Strom hatte ihn schon immer fasziniert. Er war wie sein Vertrauter. Oft begab sich der Mann in die Uferböschung, die so hoch war, dass er auf fünf Meter Entfernung nicht mehr zu sehen war. Dann erzählte er dem wandernden Wasser von seiner Frau, ihrer Einzigartigkeit, ihrer Lebensfreude und ihrer inneren Stärke, die ihn so häufig ermutigt hatte. In ihren 45 Ehejahren empfand er sie immer wunderschön. Als seine Frau nach einem Schlaganfall nicht mehr aufwachte, brach seine Welt zusammen. Nach dem Tod seiner Frau streifte der alte Mann wie blind durch die Straßen. Doch eines Abends, ein paar Monate nach ihrem Tod, traf er auf ein hell erleuchtetes Gebäude in der Innenstadt. Lebendige Musik tanzte aus den Räumen. Ehe er sich versah, sank er auf die hintere Bank einer Kirche. Die fröhlichen Klänge des Gospelchores schienen ihm die Last zu erleichtern, die mit der Trauer sein Herz fast erdrückte. An den darauffolgenden Sonntagen lernte er die Menschen der Gemeinde kennen. Durch sie entdeckte er einen Gott des Trostes und sein Leben bekam wieder Sinn. Hier waren Menschen, die an ein Leben nach dem Tod glaubten.
Der Fluss kannte die Erzählungen der Menschen. Doch selten nahm er eine Geschichte wie diese mit auf seine Reise.
Als er an jenem Morgen vor 23 Jahren seinen Fischerschemel zusammenklappte und nach seinen Freunden rief, übertönte ihn ein ohrenbetäubendes Krachen. Entsetzt wandte er sich zur Brücke. Er sah, wie der gesamte Mittelteil sich binnen von Sekunden heulend entzwei bog. Die Strömung erfasste Menschen und Autos wie ein riesiger Hai, der gierig sein Maul für seine Beute aufsperrt. Die panischen Hilferufe verblassten neben dem unerträglichen Quietschen der Brückenpfeiler. Ohne zu zögern, riss sich der alte Mann die Stiefel von den Füßen und stürzte sich in den Pfuhl des Schreckens. Seine Freunde blieben in ein paar Metern Entfernung wie gebannt stehen: "Wilhelm, bleib hier, was machst du, Wilhelm!". Der Wahnsinnige kraulte mit der Kraft eines Zwanzigjährigen den leidenden Menschen entgegen. Sie warfen ihre Arme aus dem Wasser und kreischten in Todesangst: "Aah, Hilfe, so hilft uns doch!" Ein gewaltiger Frachter mit Containerladung trieb mitten im Unglücksort. Die wenigen Schiffsmänner schmissen Taue in die Strömung, um die noch Lebenden zu retten. Wilhelm hastete weiter, bis das helle Schreien eines Babys zu ihm drang. In einigen Metern Entfernung sah er Arme, die panisch versuchten, einen Säugling über Wasser zu halten. Eine Frau kreischte:"Mein Kind, Hilfe, mein Kind." Immer wieder schwappten Wellen über das kleine Köpfchen. "Halte durch, ich komme!" In dem Moment wurde er wieder von einer eiskalten Welle erfasst. Er tauchte durch die Welle der Mutter und ihrem Baby entgegen. Das dreckige, mit Blut vermischte Wasser versperrte ihm die Sicht. Er griff nach Gliedern, deren Körper regungslos im Wasser taumelten. "Gott hilf!", schoss es ihm durch den Kopf. Als er auftauchte, um Luft zu schnappen, erspähte er lange Haare und dann die zwei Arme, die das Baby in die Höhe stemmten. "Hier, ich hab es", keuchte er aus letzter Kraft. Die Mutter taumelte in die Tiefe und wurde vom Wasser begraben. Wilhelm legte das kleine Mädchen auf seine Brust und stützte ihr Köpfchen, während er mit dem anderen Arm schwamm als wollte er den Tod besiegen. Seine Augen blickten zur Sonne. Ihre goldenen Strahlen leiteten ihn zum Ufer. "Nehmt ihm das Kind ab, schnell, hier ist meine Jacke. Wärmt es! Ich beatme ihn!" Zwei kräftige Arme nahmen ihm das Baby von der Brust.
Kurz darauf spürte er keine nasse Kleidung mehr. Leicht wie eine Feder schwebte er dem Licht entgegen. Jetzt würde er sie wieder sehen - seine Frau. An einem Ort mit Klängen, die ihm auch noch die letzten Lasten seines Lebens nehmen würden.
Seine Freunde spürten, dass sein Geist seinen Körper verlassen hatte, aber Frieden war wie auf sein Gesicht geschrieben. Er wusste, wohin er ging.
Während ich heute hier am Rande der Weinebene stehe, schaue ich auf die Stadt. Die Brücke, die der Frachter vor 23 Jahren am Mittelpfeiler rammte und damit 48 Menschenleben versenkte, wurde neu erbaut. Goldene Spätsommerstrahlen spiegeln sich im Wasser. Bei dem glänzenden Metall der Brücke starben zwei tapfere Menschen, die ich vermisse. Ich lausche dem Fluss, der mir von ihnen und meiner Rettung erzählt. Sie sind Teil meiner Seele. Bei ihnen hatte der Tod nicht das letzte Wort. Diesen Glauben trage ich in mir.


Eingereicht am 12. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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