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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Einsicht
©Marc Hieronimus
Im Leben eines jeden Menschen gibt es einen Augenblick völliger Klarheit, Einsicht in das Wesen der Dinge hinter den Erscheinungen, in dem die Zeit stillsteht und alle Schmerzen, Ängste, Alltagssorgen in nichts als Seligkeit zerstieben. Meist ist das das Ende; Weiterleben ist nur wenigen vergönnt.
Am Karnevalssamstagabend 2004 fuhr Beatrice mit dem Rad den Gürtel entlang zum Geisterzug. Hinter dem Melatenfriedhof nahm sie die gerade auf Grün gesprungene Ampel über die Weinsbergstraße mit und wurde von einem seitwärts kommenden Mercedes mit achtzig km/h verpasst. Das hätte ihr Tod sein müssen. Sie bremste, stieg ab, setzte sich auf den Gehweg und begann zu weinen. Passanten strömten unbekümmert weiter. In diesen Tagen wird so viel an Bordsteinen gesessen und geweint. Es hatte nicht lange gedauert, von außen
gesehen vermutlich keine zwei Sekunden, aber in dieser Erfahrung ist die irdische Zeit bedeutungslos. Es war groß und scharf gewesen, einsichtig, friedlich, aber auch verstörend, revolutionär. Unsagbar. Ihr Leben war bereits ein anderes, als sie sich fragte, wie es weitergehen sollte. Sie würde niemandem davon erzählen; niemand würde sie verstehen.
Beatrice stand auf und schob ihr Rad wenige Meter; hat man keinen neuen Plan, folgt man dem alten. Dann blieb sie stehen und schaute sich um.
Alles war so leer und falsch auf einmal, die Menschen in ihren Kostümen mit ihrer mutwilligen Freude und der Erwartung, etwas Großartiges zu erleben, wo doch nur ein paar weitere Narren trommelten und tanzten. Sie dachte, vielleicht ist das ein Schock und folgte ihnen wieder. Von überall strömten sie herbei und sangen zotige Lieder. An der Kreuzung Venloer/Gürtel wäre sie mit ihrem Freundeskreis verabredet, Marlene, Dora, Suse und wer sich noch vergessen wollte in Alkohol und Ungezwungenheit. Zum Feiern waren
sie immer gut. Es würde Küsschen geben, Sekt und musternde Blicke. Ein Pulk rasierter Junggesellen schrie ihr im Vorbeigehen vergewaltigungsphantasiegetränkte Komplimente hinterher. Es kam ihr vor, als zeigten sie nur jetzt ihr wahres Ich. Am Aschermittwoch würden sie wieder brav und höflich hinter ihren Schaltern sitzen. Der McDonald's an der Kreuzung kam ins Sichtfeld. Welches von den Mädchen wäre wohl für sie da, wenn es ihr dreckig ginge? Wer überhaupt von ihren vielen neuen Freunden?
Auch Carsten würde auf sie warten, im Affenkostüm. Carsten machte immer ein bisschen den Affen, aber in der Fünften Jahreszeit war er so ganz er selbst. Das war das dritte Mal Karneval zusammen, das zweite Mal als Paar. Carsten. Sie glaubte ihn schon zu sehen, da tanzte ein Gorilla auf der Kreuzung und zog albern an den Kostümen fremder Menschen.
Ein letztes Mal verschnaufte sie. Alles war so klein in dieser Stadt, dass man beim Denken innehalten musste. Ihm zuliebe hatte sie Erasmus in Paris ausgeschlagen. Ich brauch dich hier, wir zwei, wir sind das Paar des Jahres, hatte er in seiner Affenart gesagt. Alles war so klar auf einmal. Beatrice gehörte nicht hierher. Köln, das ganze Rheinland, diese Clique, all das passte nicht zu ihr. Wie hatte sie achtzehn Monate mit Carsten gehen können? Einem Kerl, der schwitzt und schnauft wie ein Schwein und Witze
erzählt nach dem Vögeln, als wäre es ihm peinlich!
Einmal, am Anfang, hatte sie ihn mit Strümpfen und ihren feinsten Haltern von Aubade überrascht. Alles, was ihm einfiel, war, das erinnert mich an meine Mutter. Warum tat sie sich das an? Diese Verkleidung, das Gehabe. Selbst das Fahrrad passte nicht zu ihr, ein Damenrad von Carstens Mutter.
Der Affe auf der Kreuzung hüpfte jetzt und winkte. Er hatte sie entdeckt. Beatrice zog die Perücke aus und legte sie über den Sattel, dann tauchte sie ab, lief zurück und schlug die erste Nebenstraße ein.
An der Ecke drehte sie sich um: Carsten tanzte affig durch den Strom und sog alle paar Meter an einer Flasche Apfelkorn. Er sollte wohl verstanden haben, wo das Fahrrad steht, dachte sie. Die garstige Perücke konnte er auch behalten, sie hatte sie nur ihm zuliebe angezogen. Einige Minuten lief sie noch geduckt und machte Buh-Geräusche, wenn Passanten komisch guckten, das vertrieb sie. Beatrice war als Skelett verkleidet und geschminkt, auch ohne graue Haare war der Tod ihr deutlich anzusehen. Die Leute nahmen
es als Scherz.
Sie richtete sich auf, als sie zuhause war, schminkte sich ab und packte ihre Sachen. Die Wohnung war schon gekündigt; nach Karneval hatten sie zusammenziehen wollen.
Eingereicht am 11. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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