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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Na, war es schön?

©Manfred Briese

Sie beugte sich über ihn. "Du hast doch schon mal etwas mit einem Mädchen gehabt, oder?"
Seine Schritte beschleunigen sich. Ohne dass der Kopf den Befehl dazu erteilt hätte. Es ist wie damals. Die Erinnerung hat ihn voll im Griff. Trotz der vergangenen sechzehn Jahre, von denen er jetzt den Eindruck hat, sie seien an ihm vorbeigerauscht.
Während die Mädchen und Jungen seiner Klasse mit den anderen Herbergsgästen durchmischt in den Arbeitsgruppen Motoren auseinander nehmen, das Fotografieren erlernen, Muscheln bestimmen oder Aquarelle zaubern, stiehlt er sich davon. Ihren Lehrer zieht es zum Strand hinaus.
Wie kann es nur angehen, dass er diesen Tag vor sechzehn Jahren immer noch nicht löschen kann. Weil er es gar nicht will? Er versuchte selbst zu beantworten: Warum hat die Geschichte eine derartige Wirkung hinterlassen? Weil sie ihm peinlich war, weil er sich geschämt hat wie noch nie in seinem Leben? Auch später nicht? Oder weil sie bei alledem auch wunderschön war? Er kann sie einfach nicht abschütteln, sich nicht befreien! Immer wieder überfällt ihn die Erinnerung, zu den unpassendsten Gelegenheiten. Heute zieht sich bei den Gedanken an das so aufwühlende Ereignis die Röte fast noch über das Gesicht. Die wenigen Mädchen und Frauen in seinem Leben verstanden nicht, was mit ihm los war. Wie sollten sie auch? Eine richtige Beziehung, wie es modern heißt, hat es für ihn eigentlich gar nicht gegeben.
Der frische Wind kühlt ordentlich durch. Irgendwann im Laufe der Woche ist ihm bewusst geworden, dass er gerade diese Runde jeden Tag geht. Wie ferngelenkt. Immer zu diesen Strandkörben. Sicherlich werden sie in den nächsten Tagen auf einen Lastwagen gehievt und ins Winterquartier gefahren. Klar, Saisonende. Die Sonne schafft es kaum noch, halbwegs warme Strahlen zur Erde zu schicken.
Sie beugte sich über ihn. Erschreckt zuckte er zurück, machte sich ganz klein unter ihr. Es beginnt sich zu drehen. Das Karussell wirbelt ihn herum. Was geschieht hier? Es war so eng! Sie war so nah. Bedrohlich nah! So wunderbar nah! "Du hast doch keine Angst vor mir?" Sie lächelte ihn lieb an, nahm seinen Kopf in die Hände. Plötzlich spürte er ihre Lippen. Sie küsst mich, schoss es ihm durch den Kopf. Er konnte seine Aufregung nicht bändigen. Es dreht sich schneller!
An den letzten Körben ist er jetzt vorbei und versucht sich der freien Sicht auf die Grenzlinie zwischen Himmel und Meer zu öffnen. Winzige Schiffssilhouetten kleben scheinbar unbewegt dort am Horizont. Frachter von Bremen, Tanker von Wilhelmshaven, vielleicht auf der Fahrt nach Übersee.
Lady Madonna hatten sie die Helferin in der Jugendherberge getauft. Unter den Jungen der Klasse war eine Beatles-Renaissance ausgebrochen. Und sie waren die "Children at your feet", so verstanden sie sich, in erstaunlicher Selbstironie und britischer Untertreibung. Das hing natürlich alles auch damit zusammen, dass ihr Englischlehrer von den Beatles schwärmte und immer wieder zu beweisen versuchte, wie tiefgründig die Songtexte waren.
Lady Madonna schwebte als guter Geist des Hauses überall dort ein, wo sie erwünscht war. Spiele vorbereiten, Grillabende organisieren, Wehwehchen jedweder Art verarzten, das war ihr Metier. Und immer mit einem strahlenden Lächeln. Die weißen Zähne blitzten in dem gebräunten Gesicht. Volle, schöne Lippen, das Haar kurz und dunkelblond. Sportlich, flink, beweglich. Eigentlich weit entfernt von einer Lady, und erst recht keine Madonna. Und alle waren in sie verliebt. Aber sie schien bei aller Freundlichkeit unerreichbar, obwohl sie höchstens zwei Jahre älter war. Weil sie sich bisher noch nicht für eine Berufsausbildung entscheiden konnte, absolvierte sie ein freiwilliges soziales Jahr in der Jugendherberge,
Am Sonntag stand das Volleyballturnier auf dem Programm, zwei Tage vor der Abreise. Bis zur Erschöpfung kämpften sie um Ball und Punkte. Aber wie es unter Schülern meistens ist, wenn es ums Aufräumen geht - am Schluss waren alle verschwunden. Nur er hatte die Zeit irgendwie vertrödelt. "Hilfst du mir ein bisschen?" Das war Madonnas Stimme! Sein Herz klopfte. Na, klar! Gern! Das Netz zusammenlegen, die Spielfeldmarkierungen einsammeln, vergessene Klamotten aufnehmen - schnell hatten sie Ordnung geschaffen.
Madonna hatte noch zwei Tüten Saft in ihrer Kiste. "Komm, die trinken wir erst leer! Wir nehmen doch so etwas nicht wieder mit zurück zur Herberge!" Sie überlegte kurz. "Fass mal mit an!" Fragend schaute er ihr ins Gesicht. "Hier, den Strandkorb! Wir machen es uns ein bisschen gemütlich!" Sie zeigte, was sie damit meinte, und mit vereinten Kräften zogen sie den Strandkorb vor die Öffnung eines anderen. "Jetzt muss der Wind draußen bleiben!" lachte sie fröhlich. Allzu lange dauerte es nicht, den Inhalt einer Safttüte mit dem Strohhalm herauszusaugen. "Bleib noch!" unterbrach sie seine Versuche, sich zu erheben und das Domizil zu verlassen.
Warum landen seine Gedanken jetzt so unvermittelt bei Sabine? Ihre schüchternen Versuche sind bei ihm bisher erfolglos gewesen. Dabei ist sie sehr, sehr nett. Das muss er zugeben. Das lange blonde Haar verleiht ihr etwas Skandinavisches. Er nimmt sich fest vor, sie zum Essen einzuladen, wenn sie wieder zurück sind. Jedoch der Gedanke, mit ihr auf der Insel Urlaub zu machen, am Strand zu laufen ... Unvorstellbar. Das war bestimmt nicht ihre Welt.
"Müssen wir nicht zur Jugendherberge!" Sie legte ihm den Finger auf die Lippen. Was war denn noch? "Du darfst mich ruhig ein bisschen berühren. Hab keine Angst, ich beiße nicht!" Plötzlich fasste sie überkreuz ihr T-Shirt in der Taille und zog es über den Kopf! Wohin sollte er schauen? Er drehte den Kopf zur Seite. Das Karussell! Es drehte sich, ihm wurde schwindlig. An ihr vorbeigucken - das ging gar nicht! So eng, wie es war!
Auch heute noch, nach den vielen Jahren, stockt ihm der Atem. Das Mädchen lässt ihn nicht los. Dann lächelt er in sich hinein. Wie hässlich er sich in dem Alter fand! Der morgendliche Blick in den Spiegel zog ihn immer wieder auf den Boden zurück. Bedachte ein Mädchen in der Schule oder anderswo ihn mal mit einem Lächeln, so klopfte sein Herz eine höhere Frequenz. Aber schon funkte ihm sein Spiegelbild dazwischen. Vergiss nicht, wie hässlich du bist. Sieht sie das denn nicht? Bei Lady Madonna gab es keine Ängste, vorher komischerweise nicht und später auch nicht. Sie hielt ihn in Bewegung, sie ließ ihm gar keinen Spielraum für solche Gedanken.
Ein Blick, über die Schulter zufällig zurückgeworfen, lässt ihn verharren. Im Westen ziehen dunkle Wolken auf. Musste heute nicht mit Regen gerechnet werden? Vielleicht empfiehlt es sich, nicht ganz so mutig drauflos zu marschieren. Nässe und Gegenwind sind nicht nur unangenehm, sondern ideal, wenn man wild auf eine ordentliche Erkältung ist. Also umdrehen.
Ganz behutsam, fast widerwillig, ohne Atem strich er über ihre Schulter und den gebräunten Oberarm. Sie lächelte, nahm seine Hand und führte sie dorthin, wo gerade noch das T-Shirt die Haut bedeckt hatte. Wie warm! Und weich! So fremd!
Mit dem Wind im Rücken denkt man kaum an die Gegenrichtung. In den Wind hinein wird es unangenehm. Inzwischen muss seine Lady Madonna von damals über dreißig sein. Mutter mehrerer Kinder, wer weiß. Das passt zu ihr. Er verlässt den Strand auf einem Weg, der durch die Dünen geleitet.
Als sie ihn kräftig umarmte, nutzte er die Zeit sich zu fangen, ohne ihrem Blick ausgeliefert zu sein. Viel zu schnell ließen ihn die Fänge frei. "Mach die Augen zu!" befahl sie ihm leise und ein bisschen grob.
Er beschleunigt seine Schritte. Was jetzt kommt, lässt ihm keine Ruhe. Auch heute noch nicht. Regt ihn auf. Macht ihn krank. Macht ihn zum Spielball. Heute noch, nach sechzehn Jahren.
"Mach die Augen zu!" Er gehorchte mit offenem Mund, atmete im Stakkato. Ihre Hände verirrten sich. Was machte sie da? Was hatte sie vor? Was geschah mit ihm?
Bis heute weiß er nicht: War es peinlich? Ist es heute noch peinlich? Warum das Glückgefühl? Dieses Schämen und Glücklichsein zugleich!
"Nicht so schlimm!" hauchte sie und küsste ihm auf den Mund. Das war - wie im Kino. Er betrachtete sich selbst, er war der Schauspieler. Er begriff gar nichts. "Mach dir nicht draus. Ich werde es keinem erzählen!" Was meinte sie? Er war nicht imstande, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden, zwischen gut und schlecht, zwischen gut und böse. Nur, dass etwas mit ihm passiert war. Etwas Schönes!
Die Fahrt seiner Klasse auf die Insel mit ihm ist Teil des Gesamtplans der gymnasialen Mittelstufe. Mit einiger Neugier hatte er, der Klassenlehrer, die Reise vorbereitet, wohl wissend, dass ihm seine eigenen Erinnerungen womöglich einholen würden. Er wähnte sich ihnen aber längst überlegen. Seit damals hatte er die Insel gemieden. Aber ein kleiner Unterschied nur zwischen seiner Zeit als Schüler des Johanneums und jetzt. Wie man sich täuschen kann.
"Lass uns noch zum Wasser laufen. Du solltest einmal ganz untertauchen, damit man nichts mehr sieht!" Ja, wirklich, das war nötig. Er schaute an sich herab. Langsam begriff er. Halb schwindlig stolperte er zum Wasser, rannte hinein, ließ die kräftigen kühlen Wellen ihre reinigende Arbeit tun.
"Schreibst du mir mal?" Was er? Er sollte ihr schreiben? Sie wünschte von ihm einen Brief?
Am nächsten Morgen suchte er ihren Blick. Ohne Erfolg. Sie hatte offensichtlich zu viel zu tun. Schade. Aber das Leben ging weiter. Und er fühlte sich gar nicht so schlecht. Lady Madonna war freundlich zu allen, wie gewohnt. Wenn es sich so ergab, auch zu ihm. "Mein Kleiner, ich mag dich," flüsterte sie ihm zu, als er vor dem Eingang stand, unschlüssig, verwirrt. "Schade, dass ihr morgen nach Hause müsst," und weg war sie, bevor er so richtig kapierte, wie ihm geschah.
Am Tag darauf hieß es Abschied nehmen. Er war mit mehr Gepäck beladen als auf der Hinreise. Viel Schweres zu tragen. Lady Madonna hatte ihren freien Tag. Von ihr war nichts mehr zu entdecken. Später, auf der Fähre, drängte es ihn schon einen Brief zu beginnen. Aber er befürchtete, neugierige Fragen seiner Freunde beantworten zu müssen. Sich vielleicht ihrem Spott auszusetzen. Also steckte er die Schreibsachen wieder ein.
Als die Eltern ihre nach einigen Stunden Busfahrt vor dem Gymnasium in Empfang nahmen, trat die Erinnerung in den Hintergrund. Aber verflixt - sie fragten: "Na, wie war's denn? War's schön?" und schon spürte er die Röte aufsteigen. Zum Glück achteten die Eltern nicht darauf. Sein knappes "Ja" genügte ihnen bereits.
Geschrieben hat er schließlich doch nicht. Aus Angst. Aus Angst vor der ungewissen Zukunft. Er fürchtete insgeheim, Madonna könnte bei ihm zu Hause aufkreuzen! Klingeln an der Haustür. "Hallo, hier bin ich!" Was hätte er seinen Eltern erklären sollen? Was hätte er sagen sollen, woher er sie kannte? Und was sie von ihm wollte? Es versuchte, Herr über die Vergangenheit zu werden, sie möglichst zu vergessen. Die Scham wog offenbar schwerer als das Glücksgefühl im Strandkorb.
Als er durch das Tor der Jugendherberge schreitet, muss er sich in die Gegenwart zurückholen. Keine Lady Madonna wirbelt im Speisesaal und sonst wo herum. Er muss sich den alltäglichen Fragen und kleinen Problemen seiner Kinder zuwenden. Aber eine Sache nimmt er sich fest vor. Er kann Sabine nicht weiter mit Desinteresse begegnen. Sie scheint es gut mit ihm zu meinen.
Etwa fünfzig Schritte noch bis zum Hauptgebäude. Eine Gruppe von Mädchen und Jungen tritt aus der Tür heraus. Ach, das sind die Neuankömmlinge. Zwitschernd und lachend kommen sie ihm entgegen. Mitten unter ihnen - das kann doch nicht sein! Braungebrannt, strahlendes Lächeln, blitzende Zähne, das T-Shirt! Himmel! Dieses T-Shirt! - Alles beginnt sich zu drehen! Madonna? Das Karussell dreht sich wieder! Scheußlich schräge, schrille Musik! Er tritt zur Seite, den jungen Leuten aus dem Weg. Halt suchend lehnt er sich an die abgewandte Seite des Pergolapfostens! Die Augen geschlossen.
Als die jungen Leute vorbei sind, schaut er ihnen nach, tief durchatmend. Langsam kommt das Karussell hinter seiner Stirn wieder zum Stehen. Er schüttelt den Kopf. Ungehalten über sich selbst.


Eingereicht am 10. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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