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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Blackout

©Lilian Bungarten

Ich bin in meinem Kopf und staune. Es ist dunkel, aber gleißende Blitze schießen kreuz und quer durch den weiten Raum. Ich drehe meinen Kopf, die Arme zu beiden Seiten weit ausgebreitet, und staune. Es ist unglaublich spannend. Ich weiß, dass ich in meinem Gehirn bin und den Neuronen beim Feuern zusehe. So ist das also. Wenn das Sterben ist, ist es wahnsinnig spannend. Und überhaupt nicht Furcht erregend. Ich habe gar keine Zeit, Angst zu haben. Ich muss meinen Neuronen zuschauen.
Ich sitze in einem Rollstuhl. Zusammengekauert. Ohne Schuhe. Mein linker Zeh hat sich durch den dünnen schwarzen Strumpf gebohrt. Ich empfinde keine Scham. Das ist echtes Selbstbewusstsein!
Selbst-Bewusstsein? Ich schaue auf meinen rechten Arm. Etwa drei Fingerbreit über dem Handgelenk sitzt eine Nadel mit Öffnung in meiner Vene. Dass diese Konstruktion Braunüle heißt, werde ich in den kommenden Stunden und Tagen mehrfach hören. Als ich diesen Begriff endlich in meinen aktiven Wortschatz übernommen hatte, wurde das Ding entfernt.
Im nächsten Moment liege ich, durchaus bequem und entspannt, in einer langen dunklen Röhre. Meine Augen sind geschlossen. Um mich herum brummt es in angenehm beruhigendem Takt. Es wird warm. Ein knatternder Puls tastet über mein Gesicht.
Dann stehe ich vor einem Bett. Im Krankenhaus. Mit einer Kollegin, die rührend um mich besorgt scheint. Ich erkenne meine Reisetasche neben dem Bett. Der Reißverschluss meiner schwarzen Hose steht offen. Ich registriere es, schließe ihn aber nicht. Es ist nicht wichtig.
Ich fühle Erschöpfung und lege mich aufs Bett. Ich sehe aus dem Fenster. Die vergoldete Kuppel einer russisch-orthodoxen Kapelle glänzt in der Sonne. Ein schöner Anblick, sehr bunt, sehr reizvoll. Ich beuge mich etwas nach vor. Der Hochzeitsturm. Aha, die Mathildenhöhe. Ich bin ganz offensichtlich in Darmstadt. Meine Reisetasche ist auch hier. Also muss es Montag sein, mein üblicher Anreisetag. Zurück zum Hochzeitsturm. Nicht unbedingt das Gebäude, das mir gefällt. Stinkefinger dachte ich damals, bei der Stadtführung. Stinkefinger denke ich auch jetzt.
Meine Kollegin zeigt mir das Telefon. Ich weiß doch, was ein Telefon ist. Ich wundere mich nur, dass die Uhr bereits den Nachmittag anzeigt. Alles ist wie im Nebel. Sie fragt mich nach der Hausnummer meines Appartements.
"52. Hauptstraße 52."
"Gerade eben wusstest du sie noch nicht."
Ich wundere mich. Warum sollte ich die Hausnummer nicht wissen?
"Du hattest einen Schlaganfall."
Ich sinke in die Kissen zurück. Na prima. Das wär's also gewesen. 54 Jahre alt und arbeitsunfähig. Schlaganfall. Um Gottes willen, mein Vater! Er hatte doch im selben Alter seinen ersten Anfall. Drei Jahre und mehrere Schlaganfälle später sollte er ziemlich elend, am ganzen Körper gelähmt, sterben. Tolle Aussichten!
Ich wundere mich, dass ich mich nicht weiter aufrege. In mir ist alles ruhig und ich betrachte mich und meinen Zustand mit klinischem Interesse. Dann fällt mir meine letzte ebay-Aktion ein. Ich hatte doch auf einige Porzellanfiguren geboten. Was war daraus geworden? Wenn ich etwas ersteigert hatte und mich dann nicht melde, gibt es negative Bewertungen. Und ich arbeite doch aktiv an meinem ersten Stern!
Meine Kollegin spricht langsam und mit ausgeprägten Sorgenfalten in der Stirn. Ich höre, kann aber die Worte nicht über das Ende eines Satzes hinaus behalten. Ist wohl nicht so wichtig. Ich bitte sie also, meinen ebay-account zu checken und gebe ihr Benutzernamen und Passwort. Sie wundert sich wieder, verspricht aber, alles pünktlich zu erledigen.
"Ich mache es gleich morgen früh, weil ich doch am Mittwoch in Urlaub fahre."
"Ich weiß, nach Kosamui."
"Das weißt du also noch?"
Wieder die Sorgenfalten und dieser Blick. Als ob ich verrückt wäre. Oder nicht ganz zurechnungsfähig. Stimmt aber doch auch. Zumindest ein wenig. Oder? Schließlich hatte ich ja einen Schlaganfall gehabt.
Dann geht sie. Ich fühle mich total verloren. Wie ein Kind, dessen Hand losgelassen wurde. Ich sehe ihr nach, wie sie das Zimmer verlässt. An der Tür winkt sie nochmals kurz.
Die Schwester kommt herein. Sie bringt ein Nachthemd - aus der Hospital Collection. Nicht mehr ganz weiß, schlecht gebügelt, kniekurz, hinten offen, mit Bändchen am Hals zu schließen. Ich finde es ganz zu meinem Zustand passend. Außerdem habe ich in meiner Reisetasche kein Nachthemd. Ich trage seit mehr als zwanzig Jahren kein Nachthemd mehr. Seit ich mit Dieter verheiratet bin.
Hm. Dieter. Meinen Mann sollte ich vielleicht besser bald anrufen. Ich hebe den Hörer und drücke auf einige Tasten. Nichts. Das Modell kenne ich nicht, aber Telefone funktionieren doch immer gleich - abheben, wählen, sprechen. Schließlich arbeite ich in einem Telekommunikationsunternehmen. Seit mehr als 10 Jahren. Na also, endlich ein Tuten. Ich tippe eine Nummer ein, sie ist offensichtlich richtig, denn mein Mann hebt nach zwei-, dreimal Klingeln bereits ab.
Es tut so gut, seine Stimme zu hören. Er wirkt nicht sonderlich beunruhigt und ich bin froh darüber. Er weiß schon alles. Noch mehr Panik in einer Stimme könnte ich nicht aushalten. Ich bin schließlich nicht tot, oder gelähmt, oder so. Gelähmt?
"Ich komme morgen, was soll ich dir mitbringen?"
"Etwas Nachthemdartiges, und meinen Morgenrock. Findest du im Schlafzimmerschrank oder in der Kommode. Und meine weißen Pantoffel."
"Gut."
"Eine homöopathie-verträgliche Zahnpasta."
"In Ordnung. Was sonst?"
"Danke, nichts, ich habe ja alles hier. Ich sage dir noch meine Telefonnummer." Die hatte ich auf einem Zettel gefunden, der ebenfalls auf der Ablage neben meinem Bett gelegt worden war. Von mir? Oder von meiner Kollegin? Aber er hatte sie bereits bekommen. Meine Kollegen hatten ihn in der Zwischenzeit mehrfach angerufen und ihn im Viertelstundentakt auf dem Laufenden gehalten. Die Uhr auf dem Telefon zeigte bereits Abend. Die letzten Sonnenstrahlen bringen das Kreuz auf der Kuppel der russischen Kapelle zum Funkeln. Wunderschön.
Wir verabschieden uns zärtlich und lange. Es tut so gut, nur seinen Atem zu hören. Ich spüre, wie ich müde werde. Dann lege ich behutsam den Hörer auf.
Auf der Ablage liegt auch eine weitere Fernbedienung. Ohne Lesebrille kann ich die Beschriftung der einzelnen Tasten nicht entziffern. Also raten und ausprobieren. Try and error. Oder heißt es pray and error? Beides ist in meiner Lage nicht von der Hand zu weisen.
Ich lege mich probeweise hin. Der Reißverschluss meiner Hose ist immer noch offen. Vielleicht wäre jetzt der Moment gekommen, das Klinikmodell überzustreifen. Ich lege also die Fernbedienung wieder ordentlich auf die Ablage, stehe auf und ziehe meinen rosa Rollkragenpullover aus und auch meinen Büstenhalter. Den verstecke ich in der Ablage, er gehört nicht gerade zur neuesten Kollektion Reizwäsche. Übergewicht hat Nachteile.
Hatte ich nicht eine Kette um? Plötzlich sehe ich mich, wie ich zuhause vor dem Badezimmerspiegel eine lange Kette mit dem schlicht gefassten Goldstück vorsichtig über den Kopf hebe. Ich habe die Kette nicht mehr um. Es stört mich aber nicht. Wie gewonnen, so zerronnen. Wenn sie weg ist, ist sie halt weg. War zwar das letzte Geschenk meiner Schwiegermutter, aber was soll's. Mir gefällt meine neue, entspannte und gelassene Haltung. Ich bin zu erschöpft, um mich aufzuregen. Dann streife ich die Hose ab. Geht ganz leicht. Die Kniestrümpfe folgen. Pulli und Strümpfe lege ich auf meine Reisetasche. Den Slip behalte ich an.
"Achte immer darauf, eine frische Unterhose anzuhaben. Du weißt nie, wann dir etwas passiert und dann stell dir vor, wie peinlich … im Krankenhaus …"
Beruhigend, dass zumindest dieser Ratschlag meiner Mutter sich als lebensnah erwiesen hat. Von Löchern in Strümpfen hat sie übrigens nie etwas gesagt.
Meine Mutter. Hoffentlich ist Dieter so gewitzt und erzählt ihr nichts von meinem Schlaganfall. Sie ist 87 Jahre alt und seit Wochen bei uns zu Besuch. Da ich die Woche über nicht zu Hause im Rheinland, sondern in Darmstadt bin, ist es für mich einigermaßen erträglich.
Dann schlüpfe ich in das weiße Hemd. Ich knüpfe im Nacken eine Schleife, damit es einigermaßen hält. Ab dieser Schleife klafft es weit auseinander. Ich sehe an mir herunter. Es reicht knapp über die Knie. Neckisch. Ziemlich lange her, seit ich ein so kurzes Kleid getragen habe. Gut, dass ich den Slip anbehalten habe. Auch gut, dass er weiß ist - Zufall, ich trage lieber Schwarz. Nicht wegen des Reizeffektes, aber meine schwarze Hose hat eine Tendenz dazu, im Schritt eine etwas brüchige Naht zu haben. Aber weiß passt eindeutig besser zum Clinic-Look. Ich sehe auf das Bild, das die Wand beherrscht, auf die wir starren, wenn wir im Bett liegen. Es ist überraschend interessant. Groß, ebenfalls weißgrundig, eine angedeutete Frauenfigur, Brustbild, mit einem gelb-rot geringelten Pullover. Sehr flaches Relief, der Pulli stärker als die Trägerin herausgearbeitet. Ein fröhliches Bild. Ich werde es nicht abhängen müssen. Oder zur Wand drehen. Wie Dieter nach seiner Hüftoperation. Aber dieses Bild war auch scheußlich gewesen, in knalligem Rot mit komischen schwarzen Strichmännchen. Eigentlich nicht komisch, sondern nur einfallslos und völlig deplaziert für ein Krankenzimmer. Da ist dieses Bild schon ganz was anderes! Viel besser. Nettes Haus hier, gut geführt. Geschmackvoll. Bis aufs Nachthemd. Das ist nur praktisch.
Ich lege mich wieder aufs Bett. Es ist überraschend bequem, das Kopfteil etwas erhöht. Aber man könnte es sich noch bequemer machen. Also wieder die Fernbedienung zur Hand und drauf gedrückt. Es summt, aha. Der Kopfteil senkt sich. Will aber höher liegen. Drücke nochmals. Der Kopfteil ist jetzt ganz flach. Mist.
Aber da ist noch was im Hinterkopf. Gelähmt? Ich stehe auf, um einen Spiegel zu suchen. Auf dem Weg zur Tür sehe ich rechts von mir ebenfalls eine Tür. Ein Bad? Fast richtig! Waschbecken und Behindertentoilette und - über dem Waschbecken ein großer Spiegel. Ich prüfe mein Gesicht, alles wie immer. Gott sei Dank. GOTT SEI DANK! Kein Augenlid, das hängt, kein schiefer Mund. Also nur ein leichter Schlaganfall.
Ich gehe zurück ins Bett. Jetzt bin ich wirklich erschöpft. Aber das Kopfteil muss nach oben, sofort. Also wieder raus und meine Aktentasche durchwühlen. Die Brille ist dort, wo sie immer ist. Wieder zurück aufs Bett, Brille auf die Nase und Fernbedienung in die Hand. Jetzt ist es gleich viel einfacher. Nur mehr zwei Knöpfe kommen in Frage. Sekunden später habe ich das Kopfteil dort, wo ich es haben will. Dann ruhe ich mich erst einmal aus.
Eine Schwester kommt. Sie erzählt mir etwas, auf das ich offenbar immer die richtigen Antworten gebe, und stöpselt mir eine Infusion an die Braunüle. Ich beschäftige mich damit, den Tropfen zuzusehen und bin erst zufrieden, als ich am Widerschein des steten Tropfens im Auffangbehälter des Infusionsschlauches erkennen kann, dass hier wirklich etwas in meine Venen kommt und sich nicht unterwegs staut. Ich schließe kurz die Augen.
Ich öffne sie wieder, weil jetzt die Blase heftig drückt. Wie schnell wirkt so eine Infusion? Und wie viel Flüssigkeit haben die eigentlich in mich hinein gepumpt?! Ich suche mit der linken Hand nach meiner Fernbedienung. Und nach der Brille. Beim Aufrichten verliere ich einige Tropfen Harn. Ich sehe den kleinen Fleck auf dem Leintuch. Auch dafür schäme ich mich nicht. Aber ich registriere den Verlust von Würde, der mit der Hilflosigkeit einhergeht. Für den Rest meines Lebens?
Auf Knopfdruck erscheint die Schwester, die mir hilft, die Infusion aus der Halterung zu nehmen und mich zur Toilette zu begleiten. Dort klemmt sie den Infusionsbeutel so geschickt in den Handlauf nahe der Toilettenschüssel, dass die Infusion weiter laufen kann. Oben rein, unten raus - der Spruch meiner Großmutter bezog sich zwar auf Gänse, aber passt heute auch auf mich. Die Professionalität tut gut.
Dann wieder die Tür. Eine weitere Kollegin kommt herein. Wieder dieser betroffene Blick und die Sorgenfalten. Diesmal zusätzlich kaum verhaltene Tränen. Kaum von einem Termin in Bonn zurück, zu mir ans Krankenbett. Wir hatten die vergangene Woche gemeinsam im Ruhrgebiet verbracht. Drei sehr gute Termine. Ein wunderschöner Nachmittag im Zoo. Bilder vom riesigen Braunbären tauchen auf. Drei Meter hoch. Gigantisch. Dann das Schwirren der Kolibris in der Freiflughalle.
Sie erzählt vom Termin, alles ok, alles wie erwartet. Keine Sorgen machen. Ich mache mir keine Sorgen. Es liegt alles so weit außerhalb meiner augenblicklichen Existenz. Ich bin froh, dass ich weiß, wie sie heißt. Sie ist mindestens genauso froh darüber. Dann geht sie wieder. Ich hätte sie am liebsten zurückgehalten. Sie ist der einzige Beweis, dass ich mitten im Leben stehe. Aber ich sehe die Müdigkeit in ihren Augen, Tränen, und lasse sie gehen. Sie wird wiederkommen.
Dann liege ich wieder im Bett. Draußen ist es dunkel. Die Dämmerung habe ich irgendwie verpasst. Das Abendessen auch. Es steht unberührt auf dem Tisch. Allein beim Gedanken ans Essen wird mir schlecht. Ich bin ohnehin zu dick. Außerdem könnten die mich ja per Infusion ernähren. Schmeckt gut und trägt nicht auf.
Dafür kommt jetzt der Arzt, den die Schwester angekündigt hatte. Er ist nett. In meinem Alter, vielleicht etwas jünger, kurze, braun-graumelierte Haare, das gewisse Embonpoint, das jedwede Diätvorschläge ad absurdum führt, rotes T-Shirt, Jeans. Kein Gott in Weiß. Dafür ebenfalls mit Sorgenfalten auf der Stirn. Über das Betrachten verabsäume ich es, genau zuzuhören. Oder mir das Gehörte zu merken. Aber wieder gebe ich offenbar die richtigen Laute an der richtigen Stelle. Wirklich haften bleiben nur "30%. Sie müssen um 30% reduzieren." Was für 30%? Keine Ahnung, wahrscheinlich von allem. Essen, Arbeiten, Stress - was anderes mache ich ja nicht. Seit Jahren schon. Seit zu vielen Jahren, wie mir jetzt klar wird. Ich erzähle ihm, dass mein Kurzzeitgedächtnis weg ist und ich mich nur mehr an das Frühstück im ICE von Siegburg nach Frankfurt erinnern kann. Danach nur mehr Schwärze. Er fragt nach der CT.
"Ja, ist gemacht worden."
Das muss das Brummen in der Röhre gewesen sein. Habe ich also nicht geträumt. Gut zu wissen.
"Schon ein Befund bekannt?"
"Ja, nichts Auffälliges."
War offenbar auch richtig. Jetzt erzählt er etwas von meinem Blutdruck. Extrem hoch. Ups, da habe ich wohl was übersehen. Bin doch so gesundheitsbewusst. Na ja, gesundheitsbewusst - den ganzen Tag am Bildschirm, dass bereits mittags die Augen blutunterlaufen sind, Stress ohne Ende, Sport ist Mord, aber Hauptsache, es schmeckt. Das relativiert wahrscheinlich die Tatsache, dass ich nicht rauche und kaum Alkohol trinke.
Nun lässt er sich beide Hände drücken. Ich bemerke einige Kontrollfragen und subtile Versuche, meine Reaktionen zu testen. Offenbar bestehe ich den Test, denn die Sorgenfalten werden deutlich milder. Mit aufmunterndem "Gute Nacht" verlässt er mich. Diesmal fühle ich mich nicht verlassen.
Die Schwester kommt wieder und wechselt die Infusion. Sie hat mir auch eine Kanne mit Mineralwasser hingestellt. Ich mag zwar nur stilles, aber das leichte Prickeln auf der Zunge erfrischt. Ich greife mir die Mappe mit den bisherigen Befunden. Manche Ärzte haben die sprichwörtliche Klaue. Schwer, sich daraus ein Bild zu machen. "Leicht adipös" bleibt haften. Höflicher Ausdruck für "zu fett". Na ja.
Wieder betrachte ich die Infusion und zähle aus Gewohntheit die Tropfen, um sie mit meiner Pulsgeschwindigkeit zu vergleichen. Bei zu hoher Geschwindigkeit bekomme ich erfahrungsgemäß Kopfschmerzen. Aber nein, es scheint alles in Ordnung. Ich schließe die Augen und dämmere vor mich hin. Zwischendurch muss ich nochmals zur Toilette. Das Zeug, das da in mich hineintropft, will wieder hinaus. Diesmal hebe ich die Infusionsflasche selbst vom Ständer und wandere nach draußen. Ich habe ein Stück Selbständigkeit wieder gewonnen.
Mitten in der Nacht wache ich wieder auf, die Infusionsflasche ist leer. Ich klingle nach der Schwester.
Wieder ein anderes Gesicht. Aber ebenfalls nett. Sie erinnert mich an Monika, meine Bekannte aus dem Qi Gong-Kurs. Hätte ich vielleicht schon früher machen sollen, aber man schiebt ja alles vor sich her, was mit Anstrengung verbunden ist. Ist aber nicht Monika. Klar, kann sie auch nicht sein, die ist ja Dialyse-Schwester in einem ganz anderen Klinikum. Oder nicht?
Ich werde abgeklemmt und die Schwester wickelt mir weiche, schneeweiße Mullbinden um die Braunüle. Ich spüre weder Stechen noch Drücken. Die Kanüle sitzt offenbar im idealen Winkel in der Vene. Professionell. Sehr beruhigend.
Ich schließe die Augen und versuche mich zu erinnern. Jin Shin Jiutsu-Griffe. Ich kann mich nur mehr an die einfachen Fingerübungen erinnern, aber die Panik bleibt unter der Oberfläche meines Bewusstseins. Also halte ich jeden meiner Finger, minutenlang, stundenlang, wie es mir vorkommt, vom Daumen bis zum kleinen Finger, erst hält die rechte Hand die linken Finger, dann die linke Hand die rechten Finger. Plötzlich lösen sich einige der Wolken in meinem Innern auf. Es klart auf. Ich versuche, mich an meine Kontonummer zu erinnern. Klappt. Meine PIN. Klappt. Meine Telefonnummer. Klappt. Wirklich? Ich frage mich, ob es in der Tat meine Telefonnummer ist, die ich seit mehr als sechs Jahren habe, oder vielleicht doch die alte aus Bayern. Bei einem Schlaganfall soll man ja alles Rezente vergessen und nur das Alte … Aber dann fällt mir auch die alte Nummer aus Bayern ein. Anhand der Vorwahl kann ich sie auseinander halten. Eine Leistung, auf die ich stolz bin, die eigentlichen Nummern sind nämlich fast identisch.
Jetzt Computerpasswörter. Dienstlich eins - zehn Stellen, klappt. Dienstlich zwei - eine Zahlenreihe, klappt. Der Geburtstag meines Mannes, klappt. Der Geburtstag meines Sohnes, ich brauche zwei Anläufe, dann klappt es - der übliche Zahlendreher. Dann die Nagelprobe: der Geburtstag meiner Mutter. Klappt nicht. Passt auch, diesen Tag merke ich mir seit 54 Jahren nicht.
Mein Gehirn klart langsam auf. Als ob sich Wolken am Himmel erst lichten und dann auflösen. Ich beginne, meine Situation zu bewerten. 54 Jahre, das Alter, das auch mein Vater hatte, als die Arteriosklerose begann, seine Gefäße zu verengen und ihm Schlaganfall um Schlaganfall versetzte. Beim vorletzten war ich dabei. Ich sehe wieder das Zimmer, höre ihn stammeln "waswaswas" und fühle wieder die kopflose Verzweiflung, mit der ich die lange Auffahrt durch den Garten renne und am Gartentor unseres Nachbarn, eines Arztes, rüttle. Warum ich nicht sofort die Rettung per Telefon gerufen habe, weiß ich bis heute nicht und habe es mir im Grunde wohl auch nie verziehen. Zwei Wochen später war er, fast vollständig gelähmt, im Krankenhaus gestorben. Seit dieser Zeit bekomme ich bei nächtlichen Telefonanrufen auch heute noch Panikattacken.
Und jetzt war es offensichtlich bei mir so weit. Dasselbe Muster, dasselbe Zeitraster. War alles umsonst gewesen, kein Rauchen, kaum Alkohol, viel Schlaf. Viel Arbeit und Stress zwar, aber ein Job, der Spaß macht. So höllischen Spaß, dass die Hölle jetzt nicht mehr sehr weit ist. Obwohl, wenn das Sterben so ist, wie dieses Erleben heute Nachmittag, ist es nicht schlimm, eher spannend. Aber mein Mann, und meine Kinder, und die Tiere, und das Haus! Ich rechne langsam alle Hypotheken durch sowie die Lebensversicherungen und Geldanlagen. Gottlob, es reicht. Dieter wird das Haus behalten können. Und die Gewerbe-Immobilie für die Zusatzrente auch. Ich merke, wie sich ein, zwei Tränen bei mir einschleichen, wenn ich an ihn denke. Dass immer erst solche Dinge passieren müssen, damit die tiefe Liebe spürbar wird. Als ob sie sich ins Innerste zurückgezogen hätte und nur in ganz seltenen Momenten zum Vorschein käme. Wir wollten doch gemütlich gemeinsam alt werden.
Wie lange würde ich jetzt aus dem Verkehr gezogen? Zwei, drei Wochen im Krankenhaus, dann in die Reha. Würde dann noch meine Arbeitsstelle auf mich warten? In dieser Zeit? In dieser Firma? Obwohl, auf meinen Chef konnte ich mich bisher immer verlassen. Die Gedanken kreisen, aber ich bleibe trotzdem merkwürdig ruhig. Zum ersten Mal kommt es mir, dass die harmlos wirkenden Tabletten zum "Abendessen" keine Placebos gewesen waren.
Ich drehe mich auf die Seite und versuche zu schlafen. Mein Schicksal kann ich erst mal nur annehmen. Und dann das Beste daraus machen. Wenn ich die Chance dazu bekomme.
Zwei Tage, etliche Ultraschall- und andere Untersuchungen später erklärte mir dann der hinzugezogene Neurologe den Vorfall als kurzfristige Störung des Episodengedächtnisses, wobei die Symptomatik in einigen Punkten durchaus Ähnlichkeit mit einem leichten Schlaganfall aufweisen könne.
Am vierten Tag wurde ich aus der Klinik entlassen und für zwei Wochen nach Hause in Krankenurlaub geschickt.
Jetzt sitze ich wieder Tag für Tag an meinem Schreibtisch, aber noch sitzt der Schock tief. Das Leben ist kostbar geworden und hat seine selbstverständliche Leichtigkeit verloren. Die Versicherung des Arztes, dass der Anfall keinen Schaden angerichtet hat und sich sehr wahrscheinlich auch nicht wiederholen würde, beruhigt nicht wirklich.
Gestern habe ich mich im Fitness Center angemeldet.


Eingereicht am 10. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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