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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Nur einmal noch
©Uwe During
Sie war früher eine sehr schöne Frau gewesen. In ihrem Zimmer hingen alte Fotos aus ihren frühen Jahren in der alten Heimat. Auf einem Bild war eine junge, hübsche Frau zu sehen, mit kleinen Grübchen um den Mund und lachenden Augen. Sie stand auf einem Stuhl, in der Hand eine Rose und sang vor den Gästen eines Pubs.
Man kann immer noch die markanten, klassischen Züge erkennen, welche so vielen irischen Frauen zu Eigen war. Ihr Haar war im Gegensatz zu vielen Frauen der Insel tiefschwarz gewesen und die kräftigen natürlichen Locken machten sie zu einem Blickfang für die jungen Männer.
Sie hat immer noch ihr langes Haar, doch nun dominierte das Grau des Alters, nur ganz vereinzelt ist das Schwarz noch zu erkennen.
Sie sitzt auf ihrem Lieblingsstuhl vor dem großen Fenster und starrt in die grauen Häuserschluchten. Der Rücken durchgedrückt, aufrecht, die faltigen Hände in den Schoß gelegt. Der Kopf ist leicht nach links geneigt und die blassblauen Augen scheinen einen imaginären Punkt zu fixieren. Kleine Fältchen haben sich um ihren Mund gebildet, doch diese haben weniger etwas mit ihrem Alter zu tun. Sie öffnet den Mund nur noch zum Essen und Trinken. Ansonsten presst sie die Lippen fest aufeinander, angespannt und starr.
Es gibt nur eine Ausnahme. Manchmal, völlig unmotiviert schaut sich suchend um und ihr rissigen Lippen formen leise, aber deutlich drei Worte:
"Nur einmal noch."
Immer wenn das passiert, eilt eine Pflegekraft zu ihr. Doch auf die sofort gestellte Frage, was sie wünsche, reagierte sie nicht. Sie nimmt sofort wieder ihre ursprüngliche, verkrampfte Haltung an und schweigt. Die Mitarbeiter der Pflegestation haben etliche Hypothesen aufgestellt, was sie alte Dame bewegt. Vielleicht will sie noch ein letztes Mal die alte Heimat sehen? Oder ist es der Wunsch, noch ein letztes mal ihre mittlerweile verstorbenen Kinder berühren? Dazwischen sind den Spekulationen Tür und Tor geöffnet.
Heute sind viele Besucher zugegen, denn das Haus richtete sein jährliches Gemeinschaftsfest aus. Die Heimbewohner sind sichtlich guter Stimmung, einige fahren aufgeregt im Slalom durch die Gruppen, auf der Suche nach Angehörigen, Angehörige, ein alter Herr mit schlohweißem Haar redet aufgeregt auf einen gestressten Pfleger ein. Mitten im Hauptgang hat sich eine zierliche alte Dame samt Stuhl platziert und strickt. Jeder, der an ihr vorbeikommt, wird lautstark begrüßt. Das Pflegepersonal wird ungewollt zu Garderobieren
und Kellnern degradiert.
Das Stimmengewirr war ziemlich laut, doch die alte Dame sitzt immer noch weit hinten am Fenster und nimmt von allem dem keine Notiz.
Auf der kleinen, leicht erhöhten Bühne sammelt sich gerade eine Gruppe Schülerinnen. Es war der kleine Mädchenchor der Nachbarschule, welche die Anwesenden mit einigen Liedern unterhalten will. Umständlich versuchen sie ihre richtigen Positionen zu finden. Langsam wird es ruhig im Raum und die Zuschauer drängen in Richtung Bühne. Ein junges Mädchen mit langen blonden Haaren tritt an das Mikrofon und stellt den Chor vor. Heute sollen traditionelle Lieder aus dem deutsch- und englischsprachigen Raum vorgetragen
werden. Es wird sowohl der Chor wie auch einzelne Mädchen singen.
Man applaudiert höflich und eine ältere Lehrerin tritt vor , um zu dirigieren. Der Chor singt zu Beginn einige traditionelle deutsche Weisen, die den meisten Anwesenden bekannt sind. Anscheinend hat der Chor mit der Auswahl der Lieder den Geschmack der Leute getroffen. Gerade die Älteren unter ihnen applaudieren besonders laut und lange. Nach einer kurzen Pause, welche die Gäste zumeist zum Getränkeholen nutzen, tritt ein junges Mädchen in langem blauem Kleid vor den Chor. Neben ihr stehen nun andere Mädchen
mit Gitarren und Geigen. Nun soll ein Solo aus dem englischsprachigen Raum vorgetragen werden. Nachdem Ruhe eingekehrt ist, erfüllt der helle Klang der Geigen den Raum und die Saiten der Gitarren werden sanft gezupft.
Die alte Dame sitzt immer noch auf ihrem Stuhl am Fenster und scheint die Musik gar nicht wahrzunehmen. Eine melancholische Melodie erfüllt nun den Raum. Das junge Mädchen ergreift das Mikrofon und beginnt mit klarer, heller Stimme eine alte irische Ballade zu singen.
-The Rose-
Die Zuhörer sind augenblicklich von dieser Stimme fasziniert und keiner wagt sich zu bewegen. Eine eigentümliche Stimmung erfüllt nun den Raum. Da ist nur noch diese Stimme, welche die Zuhörer vollkommen in ihren Bann zieht. Doch dann ist im Hintergrund ein Scharren zu hören, Stuhlbeine kratzen über den Holzfußboden. Einige Zuhörer schauen verärgert über die Schulter und schütteln den Kopf. Die anwesenden Pflegekräfte können kaum glauben, was sie sehen.
"Nur einmal noch"
Die alte Dame ist aufgestanden und schreitet hoch aufgerichtet mit langsamen Schritten auf die Bühne zu. Ihre Augen scheinen zu leuchten und sind nun einzig auf das junge Mädchen fixiert. Die Lippen bewegen sich lautlos. Sie nimmt die Menschen gar nicht wahr, die eher verwirrt zur Seite treten und so eine Gasse bilden.
Eine Pflegerin will sie stützen, doch sie wehrt ab und tritt unmittelbar vor die Bühne. Mit entspannten Gesicht und feuchten Augen lauscht sie dem Soli des jungen Mädchens. Bewegungslos steht sie da, vollkommen in die Melodie versunken, genießt jede Sekunde und berauscht sich am warmen Klang der hellen Stimme, welche leidenschaftlich die Sanftheit der irischen Seele besingt. Das Lied klingt aus und das letzte Vibrieren der Saiten verklinkt. Für einen Moment ist es absolut still und die alte Dame lächelt.
"Danke", hauchte sie.
Während die anderen Zuhörer applaudieren, wendet sie sich um und verlässt immer noch lächelnd den Raum. Die Pflegekräfte sind unschlüssig und wissen nicht recht, wie sie sich nun verhalten sollen. Doch jedem ist klar, dass die Spekulationen nun ein Ende gefunden haben.
Eine junge Pflegerin folgt ihr bis zu ihrem Zimmer, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Die alte Dame zieht sich aus und legt sich in ihr Bett. Sie lächelt immer noch. Die Pflegerin schließt beruhigt die Tür.
Am anderen Morgen bleibt ihr Platz am Frühstückstisch leer. Das ist sehr ungewöhnlich, denn die alte Dame sitzt schon immer sehr früh an ihrem Tisch. Offensichtlich hat sie verschlafen. Eine Pflegekraft geht daher in ihr Zimmer, um sie zu wecken. Sie liegt tatsächlich noch im Bett. Ihre Hände ruhen auf ihrer Brust und halten eine kleine Harfe. Das traditionelle Symbol ihrer irischen Heimat.
Die Pflegerin erkennt sofort an der wächsernen Blässe ihres Gesichtes, dass die alte Dame irgendwann in der Nacht verstorben ist. Sie fühlt keinen Puls mehr. Das Herz steht still. Ein hinzugezogener Arzt stellt daraufhin förmlich den Tod fest.
Ursache Herzversagen.
Das Lächeln liegt immer noch auf ihrem Gesicht.
"Nur einmal noch".
Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.