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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Ihr Weg
©Andrea Hudlet
Unbarmherzig raste die Zeit Sekunde für Sekunde der Abenddämmerung entgegen. Durch das halbgeöffnete Fenster konnte sie Straßengeräusche hören, quietschende Reifen von Autos, in denen Väter und Mütter saßen, froh über den mühsam erreichten Feierabend. Niemand der schnell vorbeieilenden Menschen mit ihren Regenschirmen, die Mantelkragen weit hochgezogen, sah in ihr tränenverschmiertes und ausdruckslos blickendes Gesicht. Seit nahezu drei Stunden saß sie in einem Cafe, an den Namen konnte sie sich nicht erinnern,
wie an so vieles, als sie mit klopfendem Herzen und schweißnasser Haut in einem ihr scheinbar fremden Bett aufgewacht war.
Nichts in dem ordentlich aufgeräumten Zimmer hatte etwas Vertrautes, kein Gegenstand hatte ihr verraten können, an welchem Ort sie sich befand.
Aufgerichtet hatte sie sich umgesehen, ihre Hände auf warmer weicher Bettwäsche, an der auch noch ein anderer Duft als ihrer zu hängen schien.
Die Augen geschlossen, hatte sie nach dem kleinen Kissen neben ihr gegriffen, an ihr Gesicht gehoben und tief eingeatmet. Ein ihr unbekannter süßlicher aber angenehmer Duft. Jedoch hatte sie keinen Zweifel, ein Mann musste mit ihr das Bett geteilt haben. Schnell hatte sie die Augen geöffnet, wissend, es musste wohl längst Zeit sein, zu gehen.
Mit zitternden Händen hatte sie sich ihre Bluse zugeknöpft, verwundert, dass all ihre Sachen fein säuberlich über eine Stuhllehne gelegt waren.
Keine Anzeichen von gieriger Lust, von Händen, die an Gürteln ziehen, hastig Hemden über den Kopf zerren und ungeduldig unbekannte Haut anfassten. Sie kannten sich. Doch lag da ein großer Schatten über einer Erinnerung, irgendwo tief in ihr, die ihr gesagt hätte, was geschehen war.
Langsam tauchte sie wieder auf, ihre Augen schauten nun nicht mehr ins Leere sondern blickten auf das junge Paar am Nebentisch, das sich ruhig und mehr mit Blicken als mit Worten Liebesschwüre zuwarf, selig dreinblickend und nur aufeinander fixiert. Hinter ihr hörte sie den Kellner Tische abräumen, das Klappern der Gläser schienen seine Enttäuschung über das lausige Trinkgeld laut herauszuschreien. Er würde auch bei ihr missmutig an den Tisch treten und ihr mit missmutigem Gesicht die Rechnung präsentieren, und
wissen, dass sie ihm das abgezählte Geld auf die leicht verhornte gelbliche Handfläche legen würde.
Ihr Blick wanderte hinüber zum Tresen, bemerkte die ältere Dame, die auch ihren Kaffee mit schnellen geübten Handgriffen in die milchigweiße Tasse geschüttet und zwei Stücke Zucker daneben auf den Unterteller gelegt hatte.
Sie erinnerte sich, schon öfters war sie hier, jedoch nicht allein. Immer mit Begleitung, einem Mann. Den sie kannte. Gut kannte. Doch jetzt war irgendetwas anders. Das spürte sie.
Ihre Hand griff zum dem kleinen silbernen Löffel, der noch unberührt auf dem braunen runden Tisch lag, an dem sie saß, und begann, mit langsamen Kreisen im lauwarmen Kaffee zu rühren. Das konnte nicht sein. Es durfte einfach nicht sein. Nichts hatte es zu bedeuten, dass sie alleine aufgewacht war, noch benommen von Ereignissen, die jenseits dem Hier und Jetzt lagen. Doch unablässig und ohne, dass sie es kontrollieren konnte, sausten Abermillionen winziger Bibliothekare in ihrem Kopf hin und her, sammelten Seiten
auf, hefteten sie ab, stellten die durcheinander geratenen Bücher wieder an ihre Stelle. Ein Bild schoss ihr ins Gedächtnis. Ein Bild von ihm, also musste sie ihn kennen. Sehr gut kennen.
Es konnten nicht mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen sein, als sie, wie nun die vielen grauen regennassen Gestalten draußen auf der Straße, nach Hause geeilt war, die Arme um zwei Taschen geschlungen. Sie war nach Dienstschluss in dieses neue Einkaufscenter gefahren, die Werbung hatte sie am Vortag in der Zeitung gelesen, ganz sicher würde sie dort alles finden, was sie für das Essen brauchte. Ja, es sollte eine Überraschung sein, jetzt endlich wollte sie ihn fragen ...
Ein plötzlicher Schrei durchschnitt ihre Gedanken, sie hob verstört den Kopf und drehte ihn zum Eingang. Der unfreundliche Kellner, nun über sein am Boden liegendes Tablett gebeugt, schimpfte auf einen vor Nässe triefenden Eins Achtzig großen dunklen Mantel ein, aus dem zwei unglückliche dunkelblaue Augen schauten.
Er stand einfach da in der Tür, kleine fast kaum sichtbare Wölkchen kamen ihm mit jedem Atem aus dem weit geöffneten und beinahe entrüstet wirkenden Mund. Der Regen rollte ihm wie Tränen aus dem dunklen Haar die Wangen hinab und als er in ihre Richtung schaute, erkannte sie auch dicke salzige Tropfen darunter. Sie kannte ihn. Und sie wusste, er war es, warum sie alles vergessen, die Erinnerungen in einem Sack gut verschnürt in den Brunnen ihrer Seele werfen wollte. Nein, sagte sie sich, sie würde sich wieder
umdrehen und ihn hinter sich lassen, so wie er dastand, nass und seiner Schuld bewusst. Niemals mehr würde er sie belügen, denn sie würde nicht mehr beim ihm sein. Sie nahm es sich fest vor und als sie begann, ihre Aufmerksamkeit auf die Dinge, die vor ihr lagen, zu richten, da stürzte er ihrem Platz entgegen, und kurz bevor er sie fast von ihrem Stuhl warf, blieb er mit einem Ruck stehen.
Sie war früher nach Hause gekommen und obwohl sie einige Mühe hatte, den Weg vom Auto zum Haus hinaufzugehen, hatte ein Lächeln auf ihrem Gesicht gelegen. Sie hätte noch genügend Zeit, ihr neues Kleid wartete schon griffbereit im Schlafzimmer, sie hatte gehofft, es nicht lange tragen zu müssen, denn mehr noch als den seidigen Stoff wollte sie seine warmen und leicht rauen Hände auf ihrer Haut spüren. Eine Tüte auf das rechte Knie gestützt hatte sie den Schlüssel vorsichtig ins Schloss gleiten lassen, ihn langsam
umgedreht und dabei gegen die Tür gedrückt, während der Schlüssel wieder heraus glitt.
Mit einem Schwung war die Tüte wieder in ihrem Arm gelandet. Unwissend, dass ihre Pläne vorerst zu all den anderen Wünschen wandern würden, hatte sie die Küche betreten und ihre Einkäufe abgestellt. Erst da hatte sie dieses leise Stöhnen vernommen, immer unterbrochen von Worten, die sie noch nie gehört hatte aber dennoch verstand. Muskeln, Sehnen und Knochen machten sich selbständig, Stimmen in ihrem Kopf, der nicht zu ihr gehören schien, trieben sie an, angezogen vom Zimmer nebenan, von dem mit jedem Schritt,
Geräusche zweier sich liebender Körper, lauter und lauter wurden. Wie durch eine dicke Schneewehe hindurch musste sie sich gegen die Tür stemmen und als sie aufgeschwungen war, ihren Augen nichts mehr verheimlichte, war in ihrem Kopf nur noch Schreien, das sich gebündelt aus ihrem Mund herausdrängte. Wie im Zeitraffer blickten erschrockene Gesichter auf, begannen halbbedeckte Körper eilig umherzulaufen und ihr lautes Entsetzen immer mehr anzuschwellen.
Was er getan hatte, nein, sie konnte es einfach nicht verstehen, auch jetzt noch nicht.
Er hatte vor ihr gestanden, ihre Schultern fest gepackt, sie geschüttelt, doch erst als sie zu Boden gefallen war, war auch ihr Schrei verstummt.
Feine Bluttropfen rannen ihr aus den geballten Fäusten, heiße Tränen stürzten von ihrem Kinn. Sie wollte sich nicht umdrehen und sich selbst noch mehr verletzen, als er seine Hand auf ihre Schulter legte. Sie kannte sie.
Sie kannte sie sehr gut. Bis jetzt.
Eingereicht am 09. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.