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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Opa Knorr
©Albrecht Pitzken
Gern erinnere ich mich an die unterschiedlichen Patienten, die ich in meiner Allgemeinpraxis in einem der ärmeren Viertel Kölns erleben durfte.
Wie verwundert war ich, als am 3. Tag nach der Praxisübernahme die alte Dame, die wochenlang an Schmerzen nach Herpes zoster gelitten hatte, mir die Hände küsste, weil es mir gelungen war, sie von den Schmerzen zu befreien.
Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass der kurdische Familienvater, dessen Haupt ein Turban des Mekkapilgers zierte, plötzlich vor mir auf die Knie fiel und Allah und "den großen Doktor" in einem Atemzug pries, weil ich seine Frau vor einem Krankenhausaufenthalt bewahrt hatte.
Überrascht war ich auch, als ein Patient, der als chronischer Säufer tief in die Asozialität abgerutscht war und mir in einem unbewachten Augenblick mein Handdiktiergerät geklaut hatte, reumütig in die Praxis zurück kam und mir erklärte: "Da sind ja nur Sachen drauf, die ich nicht verstehe, die aber für Sie wohl wichtig sind."
Doch all diese Patienten werden in der Erinnerung überschattet von unserem Opa Knorr*, einer unvergesslichen Persönlichkeit.
Opa Knorr hatte ich von meinem Vorgänger "geerbt".
Zerlumpt wie ein Landstreicher und manchmal mit etwas strengem Körpergeruch, jedoch mit ausgezeichneten Manieren erschien er mindesten 3mal in der Woche, damit wir "seine Beine wieder etwas schlanker" machten. Nein, untersuchen lassen von mir wollte er sich nicht. Nur die dicken Beine sollten wieder gewickelt werden. Meine Arzthelferin war schon mit der Prozedur vertraut. Brav entblößte der ansonsten recht magere alte Herr seine Unterschenkel und ließ eine vorsichte Lymphdrainage und anschließende Wickelung
über sich ergehen.
Als er eine Woche lang nicht erschien, beschloss ich, ihn spontan zu Hause zu besuchen. Nach mehrfachem längerem Klingeln, hörte ich hinter der Wohnungstür Schlurfen und erbärmliches Husten.
Mit einem nicht allzu sauberen Nachthemd und einer grauen Strickjacke bekleidet öffnete Opa Knorr die Tür und geleitete mich in sein Miniappartement. Schwere alte herrliche Möbel, die kaum Platz zum Gehen ließen, verrieten, dass Opa Knorr sicherlich bessere Zeiten gesehen hatte. Die Wohnung war zwar nicht sehr sauber, aber sehr ordentlich aufgeräumt. Der alte Herr zog sich in sein Bett zurück und erlaubte mir großzügig, seinen Brustkorb abzuhorchen. Mehr durfte ich nicht: "Nein, nein, Herr Doktor, das ist
nicht nötig. Wenn Sie nur was gegen meinen Husten tun, dann ist das gut." Nachdem ich ihn aus meinem Notfallkoffer gut versorgt hatte, versuchte ich, etwas mehr aus seinem Leben zu erfahren. Es stellte sich heraus, dass er Sargschleifenmaler war und Unterhaltungskünstler.
Schließlich fasste er mehr und mehr Zutrauen und holte ein dickes Buch heraus mit den besten seiner selbstverfassten Gedichte, die er auf Feierlichkeiten vorgetragen hatte, und begann voller Inbrunst vorzulesen. Offensichtlich war er froh und stolz, dass ihm jemand mit großem Interesse zuhörte.
Nach 2 Tagen kam er wieder in die Praxis, um die Beine schlanker machen zu lassen. Ich wagte nun, ihn mit etwas Nachdruck zu bitten, sich doch endlich von mir untersuchen zu lassen. Nach einigem Zureden willigte er endlich ein. Die Untersuchung bestätigte meinen gehegten Verdacht: Krebs mit Metastasen in den Lymphknoten im Inguinalbereich.
Schweren Herzens sprach ich zu ihm von meinem Untersuchungsergebnis: "Herr Knorr, Sie müssen unbedingt ins Krankenhaus um zu sehen, wieweit man Ihnen helfen kann."
"Sehen Sie Herr Doktor, ich hab gewusst, dass Sie das sagen würden. Deshalb wollte ich mich nicht untersuchen lassen von Ihnen. Ich war doch schon vor einiger Zeit im Krankenhaus. Der junge Doktor dort wollte mir den Krebs wegmachen. Da habe ich ihn gefragt, ob er wüsste, wie der Krebs in mich hinein gekommen ist. Er meinte, das wüsste niemand. Da habe ich ihm gesagt: Wenn Sie nicht wissen, wie er hinein gekommen ist, wissen Sie auch nicht, wie Sie ihn rauskriegen. Dann bin ich gegangen."
Opa Knorr - übrigens schmerzfrei - hat uns noch viele Wochen besucht, bis er eines Tages friedlich eingeschlafen ist. Er hatte uns für unsere "Örtchen" in Sargschleifenschrift ein Türschild gemacht:
Toilette
Ich habe es immer noch aufbewahrt.
Eingereicht am 08. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.