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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Wettkampf

©Katherina Brey

Grübelnd saß er vor der Einladung. Unentschlossen und zweifelnd. War es richtig, zu diesem Wettbewerb zu fahren? War es wirklich klug, sich dem Vergleich mit fast 50 anderen jungen Nachwuchstalenten aus ganz Deutschland zu stellen? Er kämpfte mit sich. Kämpfte mit seiner Angst, den vertrauten Ort zu verlassen, dieses kleine, abgeschiedene Dorf, in dem ihn jeder kannte, zahlreiche ihn schätzten, nicht wenige ihn bewunderten. Wie hatte man ihm zugejubelt, als er vor zwei Wochen im Gemeindesaal mit seiner Geige fast 300 Menschen zu wahren Begeisterungsstürmen hinriss. "Der ganze Ort ist stolz auf dich", hatte der Bürgermeister feierlich verkündet und hinzugefügt: "Unser Martin wird einmal ein ganz Großer!" UNSER MARTIN. Hunderte von Füßen hatten bei diesen Worten getrampelt, unzählige Besucher sich ihm zu Ehren von ihren Sitzen erhoben und enthusiastisch applaudierend eine Zugabe gefordert. Ein Glücksgefühl hatte ihn in jenem Augenblick ergriffen. Ein seltenes Gefühl von Mut und eine Zuversicht, alles, aber auch alles schaffen zu können, selbst einen Wettkampf in einer fremden großen Stadt, 400 km entfernt von seinem Heimatort. Nun lag sie also vor ihm, die Einladung, diese heiß ersehnte, jedoch zugleich auch so gefürchtete Chance. Ein Zucken und Rütteln ging durch seinen Körper, wie eine Welle, die ihn mit sich riss, von den Füßen aufsteigend, die Beine entlang bis zu den Schultern. Seine Hand umschloss krampfartig das Stück Papier, zerknüllte es und seine Faust schlug - wie ein Blitz aus heiterem Himmel -, mit voller Wucht auf den schweren Eichentisch. Sorgenvoll betrachtete er wenig später die geschwollenen Knöchel seiner rechten Hand. Noch acht Wochen bis zum Wettbewerb, ging es ihm durch den Kopf. Er starrte auf seine Hand, verdrehte den Hals, als müsse er würgen und stöhnte "uuahh". Stunden später hatte tiefer Schlaf seinen Körper entspannt und ein glückliches Lächeln auf sein Gesicht gezaubert. Mit der Geige in der Hand betrat er in diesem Moment in gleißendem Scheinwerferlicht unter dem tosenden Applaus von mehr als tausend Menschen die Bühne eines riesigen Konzertsaales. Der Dirigent eines gewaltigen Orchesters gab ihm die Hand, und die Musiker klopften als Zeichen der Anerkennung mit ihren Bögen auf die Notenpulte. Mit großer Geste beglückwünschte ihn der Bundespräsident zu einer Tournee durch Europa und überreichte ihm als Geschenk feierlich eine Strativari.
"Martin träum nicht, wir müssen weiter!" Ein Griff nach seiner Hand, ein kurzer energischer Ruck und schon zog ihn Marie mit sanfter Gewalt von der Auslage mit den Musikinstrumenten fort. Sehnsüchtig wandte er den Kopf und warf einen letzten Blick auf das Prachtstück von Geige in der Auslage. "Hast du sie gesehen", fragte er begeistert, "die ist nach Giuseppe Testore gebaut. Ein Traum, nicht wahr?" Scheinbar gleichgültig zuckte Marie die Schultern und antwortete leichthin: "Sieh an, der Carlo, nicht schlecht, aber 3800 Euro? Ich wette, dass du dir eines Tages eine viel bessere leisten kannst. Eine..." "Strativari", ertönte es parallel aus beider Munde. Sie blickten sich einen Moment verblüfft in die Augen, grienten, fingen an zu kichern und bogen sich schließlich vor Lachen, bis ihnen die Tränen kamen. Eine Strativari. Einmal eine Strativari in den Händen. Was vor acht Wochen im Traum als Realität erschien, taugte in der Realität nicht mal für einen Traum und schien daher zum Brüllen komisch. "Los jetzt, wir müssen weiter", befahl Marie energisch, "sonst verpassen wir noch den Zug." Heftig stampfte er mit dem Fuß auf und zwickte Marie in den Arm. "Scheii-ße", entfuhr es ihm "Schei-ßße". Unbeeindruckt rieb sich Marie den Arm und lächelte ihn strahlend an. "Ja, Scheiße", bestätigte sie zuckersüß, "und zur Bank müssen wir leider auch noch." Wenig später betraten beide eine kleine Sparkassenfiliale und während Marie in der Handtasche nach ihrer EC-Karte kramte, schnitt Martin eine Grimasse, schlug sich an den Hinterkopf und unvermittelt brüllte er aus voller Kehle: "Überfall!" Niemand nahm groß Notiz von diesem Schrei, nur eine ältere Frau kreischte entsetzt auf, ließ ihre Handtasche fallen, kniff die Augen zu und riss panisch die Hände über den Kopf. Zitternd wie Espenlaub spürte sie, dass jemand sie zart am Arm berührte und kreischte daraufhin vorsichtshalber gleich noch einmal. Hernach öffnete sie vorsichtig ein Auge und blickte verblüfft in das sympathische Gesicht eines kleinen Jungen, gerade mal zehn Jahre alt, vielleicht auch elf, höchstens zwölf. Es war schwer zu schätzen dieses Gesicht, denn seine Züge wirkten eigenartig reif, mehr wie die eines jungen Mannes, als die eines kleinen Jungen. Weiches kastanienbraunes Haar umspielte seine Stirn und zwei strahlend blaue Augen lächelten sie vertrauensvoll an. "Keine Angst, nichts passiert", sagte er beruhigend und reichte ihr ihre Handtasche, was sie jedoch nicht bemerkte, ja nicht bemerken konnte, da sie fortwährend mit stierem Blick, wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf seinen Geigenkasten starrte. Seufzend öffnete er ihn, präsentierte ihr den unspektakulären Inhalt und setzte hinzu: "Eine Geige, nichts weiter, eine ganz gewöhnliche Geige". Marie stand derweil unschlüssig am EC-Automaten und rief ihm fragend zu: "250 oder 300, was meinst du Martin?". "150", gab er zurück, und fast ein wenig empört setzte er hinzu, "das ist ja schließlich das Doppelte. Ganze 300 Mark." Das Geld in Händen - man hatte sich auf 200 Euro geeinigt - vernahmen sie hinter sich, laut zeternd aufgebrachtes Schimpfen: "Eine Unverschämtheit, anständige Leute so zu erschrecken. Überfall! So ein Unfug! So ein ungezogener Rüpel!" Die Geschwister waren bereits an der Tür, doch bei diesen Worten verharrten sie, schauten sich einen Moment an und - fast gleichzeitig - drehten sie sich um. Sie schwiegen und blickten der Frau abschätzend in die Augen. Es hat keinen Zweck, dachte Marie, sie wird es nicht verstehen. Dennoch hub sie an zu erklären, zu entschuldigen, öffnete den Mund und... "Komm!", sagte Martin. Nur dieses eine Wort. "Komm!", ergriff Marie hart am Arm und verließ im Sturmschritt mit ihr die Sparkasse. Vorsichtig lockerte sie wenig später seinen Griff, der ihr Handgelenk wie in einem Schraubstock umklammert hielt. Besorgt blickte sie auf ihren kleinen Bruder herab und ... schwieg. Sie kannte ihn gut, besser als jeder andere, ja besser noch als die eigenen Eltern und sie wusste, dass es Momente gab, in denen er es leid war, sich immer und immer wieder zu rechtfertigen, für etwas, das nicht in seiner Macht lag. Im Speisewagen des Intercity nach Köln, vielmehr in seinem 'Bordrestaurant', rührte Marie zwei Stunden später gedankenverloren in einer Tasse Kaffee. Es war die gleiche Frage, immer wieder die gleiche Frage, die ihr durch den Kopf ging. Dieselbe Frage, die sich Martin damals vor acht Wochen gestellt hatte: "Ist es richtig, zu diesem Wettbewerb zu fahren?" Verdammt, ging es ihr durch den Kopf, und ich Trottel habe ihn auch noch dazu ermutigt. Das ist ein Wettkampf, habe ich hochtrabend gesagt, nicht nur mit anderen Geigern, sondern auch ein Wettkampf mit dir selbst. Ein Kampf gegen deine Angst, unser kleines Kaff irgendwann einmal zu verlassen. Sie schüttete ihren mittlerweile kalt gewordenen Kaffee in einem Zug hinunter, schaute aus dem Fenster und betrachtete schwermütig die vorbeifliegenden Landschaften. So ein Schwachsinn, dachte sie, ein Wettkampf mit sich selbst. Welcher Mensch hat ein Leben lang die Kraft sich anstarren zu lassen, wie ein Wesen mit zwei Köpfen und die Nerven, ständig Beschimpfungen zu ertragen? Beschimpfungen dafür, dass der Körper ein merkwürdiges und anstrengendes Eigenleben führt, auf das der Kopf nun mal keinen Einfluss hat. Wen kann es gleichgültig lassen, wenn der Friseur mal wieder leider keinen Termin mehr frei hat, der Arzt einen bittet, nicht im Wartezimmer Platz zu nehmen und die Kundschaft den Laden verlässt, sobald man ihn betritt? Was geht in einem kleinen Jungen vor, dessen Eltern ihn beschwören, sich wenn Besuch kommt, doch bitte nur mal für eine Stunde zu konzentrieren und seine ´Tics´ zu unterdrücken? Marie erinnerte sich ungern an diesen Tag. Wie hatte sie ihre Eltern gehasst für diese Taktlosigkeit und sich selbst verachtet, für ihre Unfähigkeit, dem damals Sechsjährigen beizustehen. Er war tapfer gewesen an jenem Tag. Oh ja, er hatte es tatsächlich geschafft, seine Tics zu beherrschen. 45 Minuten lang. Als er es nicht mehr konnte, hatte er unter einem Vorwand den Raum verlassen, um neue Kraft zu schöpfen. Ich muss zurück, dachte sie, ich wollte ihn gar nicht so lange allein lassen, aber zum Glück ist Tourette für das Ehepaar in unserem Abteil ja kein Buch mit sieben Siegeln. "Na klar", hatte der Mann sie beruhigt, "'TS'. Das Tourette-Syndrom. Da hab ich mal einen Bericht im Fernsehen drüber gesehen. Das hat man doch ständig diese...diese 'Tics', wo der Körper immer mal zuckt und man ständig irgendwelche Laute oder Wörter ausstoßen muss, ob man will oder nicht. Wie bei einem Schluckauf oder Niesen". "So ungefähr", hatte Martin erleichtert bestätigt und seinen interessierten Zuhörern eifrig einen - beachtlich fast wissenschaftlichen - Vortrag über vokale und motorische Tics gehalten. Marie erhob sich und machte sich auf den Weg zu ihrem Waggon, doch eine böse Vorahnung erfasste sie, als sie sich die letzten Meter zu ihrem Abteil durch eine Menschenmenge kämpfen musste und vor der Tür das aufgeregt gestikulierende Ehepaar entdeckte. "Verzeihen Sie, es ging nicht anders, wir ... wir mussten ihn einschließen", stammelte der Mann verlegen. "Meine Frau hat ... also er hat sie plötzlich gekniffen und ... A ... Aaarschloch genannt. Er ..." "Er ist krank!", schrie Marie. Ihre Stimme überschlug sich, außer sich vor Wut. "Eingesperrt? Er ist krank, verdammt noch mal, aber doch nicht verrückt. Er ist so normal wie Sie und ich. Zum Teufel! Er ist der Beste in seiner Klasse. Mit einem Durchschnitt von 1,2 und Sie ...?" "Ich?", stotterte der Mann verblüfft, "ich ... ich war nie der Beste." Marie winkte erschöpft ab und befahl der Schaffnerin mit einer Stimme, schneidend wie ein Rasiermesser, einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: "Öffnen Sie! Sofort!" Martin saß ruhig da und schaute seine Schwester schweigend an, doch dann urplötzlich, schnellte sein Kopf nach vorne und er schlug mit dem Knie zwei Mal hart gegen seine Stirn. Anschließend schüttelte er sich wie ein nasser Hund, lehnte sich langsam zurück und stellte dem Kreis der Schaulustigen vor dem Abteil sarkastisch die Frage: "Ist schon ganz schön krass, oder?" Marie ergriff vorsichtig seine Hand und drückte sie. Ganz fest. "Verzeih mir", sagte sie leise, "ich hätte dich nie zu dieser Reise überreden sollen." Peinlich berührt entzog er ihr seine Hand und entgegnete unwirsch: "Verzeihen, warum? So ein Unsinn, ich habe heute meinen ersten großen Wettkampf gewonnen." Energisch packte er seine Geige aus und begann zu spielen. Er spielte, und die gaffende Menge vor dem Abteil begann zu staunen. Was für eine Musik, was für eine Virtuosität. Aber das Erstaunlichste war für sein Publikum, dass solange er spielte - und er spielte lange - ihm seine Hände gehorchten. Nur ihm, einzig und allein nur seinem eigenen Willen.


Eingereicht am 08. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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