Der Mann, der vergewaltigt wurde und andere Geschichten
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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Scharlachroter Honigesser

© Christian Heynk

Friedrich war schon immer ein Fischnarr gewesen. Schon zur Schulzeit war er nach dem Ertönen der Glocke nicht nach Hause gelaufen, sondern an den nahe gelegenen Weiher, wo er im Gestrüpp seine selbst gebastelte Angelrute versteckt hatte. Er fing Fische, er kaufte sich von dem wenigen Taschengeld, das er bekam, Bücher über Fische, und leider roch er manchmal auch nach Fisch. Wenn ich mich mit ihm traf, dann musste ich mir immer seine Geschichten über exotische Fische in fremden Gewässern anhören, Geschichten über Quastenflosser, Ohrensardinen und Papageifische. Noch Jahre später fand ich es manchmal ermüdend, wenn ich mich mit ihm auf ein oder zwei Bier verabredete, und er endlos über die zahlreichen Arten der Angelruten fachsimpelte, oder die Unzulänglichkeiten bestimmter Angelhakenmarken anprangerte. Oder wenn er immer und immer wieder die Geschichte von dem kapitalen Hecht, den er einmal, vor über zwanzig Jahren, in einem Flussarm der Mosel gefangen hatte, erzählte. Wenn ich dann versuchte, ihn auf ein anderes Thema zu bringen, dann lächelte er, und sagte: Du hast ja Recht, Gregor, ich rede zu viel über Fische. Aber glaub mir, sobald ich mir so einen schönen Flussbarsch gefangen habe, dann werde ich mich zufrieden zurücklehnen und wissen, dass ich im Angelsport alles erreicht habe was man nur erreichen kann. Flussbarsche, das wusste ich schon, galten unter Anglern als selten und gewitzt, was sie besonders begehrenswert machte. Der Fang eines Flussbarsches muss so etwas wie die Krönung eines jeden Anglerlebens sein. Durch diese repetitiven Fischgespräche wusste ich auch, dass Friedrich Stichlinge als Köder für seine Angelhaken benutzt hatte, aber dass die Stichlinge in letzter Zeit so teuer geworden waren, dass er sich wieder künstliche Köder gekauft hatte, die man mehrmals benutzen konnte.
Auch bei ihm zu Hause musste man nicht lange überlegen, was wohl Friedrichs Leidenschaft sein könnte. Über die ganze Wohnung verteilt hingen unzählige Poster von Fischarten an den Wänden. In seinem Schlafzimmer hatte er ein 2 mal 2 Meter großes Poster von einem vor Gibraltar photographierten Flughahn (Dactylopterus volitans), der wirklich bizarr aussah. Friedrich hatte mir erklärt, dass dieser Fisch den lieben langen Tag nichts weiter tat, als über dem sandigen Meeresboden zu schweben, und dass er, obwohl man ihn Flughahn nannte, und obwohl er flügelartige Brustflossen hatte, nicht wirklich fliegen konnte. Auch in der Küche, in der wir uns eines Abends mit zwei Flaschen Wein betrunken hatten, hing ein gerahmtes Bild von einem unwirklich aussehenden Fisch. Als wir beide schon recht angeheitert waren, war Friedrich plötzlich aufgestanden, hatte auf das Bild gezeigt, und mir stolz verkündet, dass dieser Fisch ein Lungenfisch sei, der an die Wasseroberfläche steigen muss, um atmen zu können. Um meinem Gastgeber zu gefallen, heuchelte ich ein wenig Interesse vor, was Friedrich dann als Anlass nahm, mir einen etwa halbstündigen Vortrag über diese bestimmte Fischart zu geben, und mich mit den blödesten Details und dem ausuferndsten Hintergrundwissen zu füttern. Irgendwann, nach langer Zeit, plumpste er dann besoffen auf seinen Stuhl zurück, legte seinen Kopf auf die Tischplatte und schlief ein. Da ich Alkohol schon immer besser vertragen hatte als er, schaffte ich es, ihm unter die Schultern zu greifen, und ihn in sein Schlafzimmer zu transportieren. Als ich die Tür zu seinem Zimmer aufstieß, glaubte ich zu träumen. Das riesige Bett war von einem Vorhang aus Fischnetzen umgeben, und die Bettdecke sowie der Kissenbezug zeigten ein Fischmotiv, einen Schwarm Heringe, die sich unter dem Meereswasser und im Schein der durch die Oberfläche brechenden Lichtstrahlen synchron fort bewegte.
Als ich an diesem Abend nach Hause ging, wurde mir klar, dass ich nie das ganze Ausmaß seiner Vernarrtheit verstanden hatte. Erst an diesem Abend war mir klar geworden, dass für Friedrich Fische nicht nur ein Zeitvertreib, ein Hobby oder eine Leidenschaft waren, sondern eine sein Leben bestimmende Obsession. Nie, dachte ich, werde ich so eine Obsession nachvollziehen können.
*
Ich selbst war, übrigens, ein Ornithologe. Aber ich war nicht verrückt nach Vögeln. Ich hatte nur ein einziges Poster mit einem Vogelmotiv in meiner ganzen Wohnung. Wenn ich mich mit Friedrich traf, dann erzählte ich selten von meiner Arbeit im Vogelschutzgebiet oder von meiner Arbeit als Professor für die ornithologische Station der Universität. Ich hätte mich bestimmt komisch gefühlt, wenn ich ihm von meiner Promotionsschrift über Zugvögel erzählt hätte, oder über meine wirklich unkonventionellen Theorien bezüglich des Kalifornischen Kondors. Ich glaube auch nicht, dass er meine Verachtung für die Goldoriolen verstanden hätte, eine Vogelart, die vor allem unter Laien für ihre glänzenden, goldgelben Federn verehrt wird. Nein, ich hatte es schon lange aufgegeben, meine Umwelt für meine beruflichen Fähigkeiten zu begeistern, und war auch immer gut damit gefahren. Manchmal kam es vor, dass Leute mich von selbst über meinen Beruf ausfragten, sobald ich ihnen erzählte, dass ich Vogelkundler war. Diesen interessierten Menschen hatte ich dann immer gerne Rede und Antwort gestanden, und ich hatte ihnen bei weitergehendem Interesse auch Bildmaterial gezeigt oder sie zu einem Besuch im Naturschutzgebiet eingeladen. Auch an der Universität machte mir die Arbeit mit den Studenten Spaß, denn sie sahen mich als eine Koryphäe auf diesem Gebiet, und ihre manchmal demütige Art, mich über eine bestimmte Spezies auszufragen, gab meinem Selbstbewusstsein einen ungeahnten Auftrieb. Aber, und ich bin stolz, das sagen zu können, für mich war die Vogelkunde immer nur ein Beruf, nicht mehr. Im Gegensatz zu Friedrich hatte ich es immer vermocht, Berufliches von Privatem zu trennen. Und so erzählte ich Friedrich, wenn wir uns trafen, nichts über Vögel.
Bis auf eine Ausnahme. Wir waren zusammen in Urlaub nach New York gefahren. Wir hatten uns in einem Hotel in der Nähe des Central Parks einquartiert, und in den ersten Tagen hatten wir die eher unüblichen Sehenswürdigkeiten erkundet. Wir waren raus nach Staten Island gefahren, um uns den höchsten Punkt New Yorks, Todt Hill, anzusehen, und waren dann auch noch bis nach Montauk gefahren, weil wir beide den Autor Max Frisch verehrten. Die üblichen Sehenswürdigkeiten wie die Freiheitsstatue, das Rockefeller Center oder den Trump Tower hatten wir uns nicht angesehen, dafür waren wir zu naturverbunden. Einzig und allein den Times Square waren wir hinauf- und hinab gelaufen, um das Gefühl einer Großstadt, die der Moloch New York ja nun einmal war, in uns aufzunehmen.
Am letzten Tag vor unserer Abreise waren wir dann in den Central Park gegangen. Wir liefen schon eine gute Stunde in dem Park umher, als Friedrich mich plötzlich am Arm festhielt, auf etwas zeigte, und sagte: Schau mal, ein Sperling. Ich schaute in die Richtung, die Friedrich mir angedeutet hatte, und brach sofort in Gelächter aus. Ich lachte so sehr, dass ich mich auf eine Bank setzen musste. Friedrich muss wohl gedacht haben, dass ich einen epileptischen Anfall oder so etwas hatte, denn er versuchte mich zu halten und fragte ganz aufgeregt: Was ist los, Gregor, was ist los? Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, zeigte ich mit dem Finger auf den Vogel, den Friedrich als einen Sperling identifiziert hatte, und sagte, immer noch grinsend: Das, mein lieber Friedrich, ist kein Sperling, sondern eine Elster. Du hast absolut keine Ahnung von Vögeln, oder?
Friedrich hatte daraufhin das Gesicht verzogen. Nein, hatte er dann ruhig erwidert, ich habe keine Ahnung von Vögeln, genauso wenig, wie du Ahnung von Fischen hast.
*
An dem Tag, an dem ich sie zum ersten Mal traf, hielt ich gerade eine Vorlesung an der Universität. Die Vorlesung war schon fast eine halbe Stunde alt, als die Tür aufging und sie herein kam. Sie stieg die Stufen herab und setzte sich in die erste Reihe, als ich gerade beginnen wollte, die unverkennbaren Merkmale des farbenprächtigen Pfirsichköpfchens zu erklären. Ich erinnere mich noch gut an diesen Tag, und ich erinnere mich noch besser an ihre Erscheinung. Sie war in einen schwarzen Mantel gehüllt und sie trug ihr rotes Haar geschlossen in einem Zopf. Ich muss zugeben, dass ich für eine Weile so sehr von ihrer Schönheit geblendet war, dass ich mich nicht wirklich konzentrieren konnte, als ich ein Dia vom Austernfischer an die Wand projizierte. Der Austernfischer ist an Küsten und im Marschland anzutreffen, fing ich an, und er ähh, er ähh, nun, seit einiger Zeit wird er auch im Binnenland gesichtet. Ein Student fragte mich, ob er Austernfischer hieß, weil er sich von Austern ernährt, und ich erwiderte, Natürlich, sonst hieße er wohl kaum Austernfischer. Erst als es schon zu spät war, fiel mir ein, dass der Austernfischer sich hauptsächlich von Muscheln ernährt, und so gut wie gar nicht von Austern.
Vor lauter Aufregung beendete ich die Vorlesung dann zehn Minuten früher, was einige der Studenten, die mich und mein Pflichtbewusstsein genauestens zu kennen schienen, leicht verwunderte. Meine Aufregung ließ leider auch nicht nach, als sie plötzlich vor meinem Pult stand und mich anlächelte. Ich studiere Entomologie, sagte sie, und ich brauche ein paar Informationen über den Weidenlaubsänger. Für einen langen Moment starrte ich sie an, dann gab ich mir einen Ruck, und beantwortete ihre Frage. Wissen sie, sagte ich, meine Kenntnisse bezüglich des Weidenlaubsängers sind leider etwas limitiert. Wie wäre es, wenn wir uns, sagen wir, Samstagabend zum Essen treffen, bis dahin kann ich ihnen ganz bestimmt eine kleine Mappe zusammenstellen, die alle nötigen und unnötigen Informationen zum Weidenlaubsänger enthält.
Sie schaute mich belustigt an. Die Zeit, die zwischen meiner Einladung und ihrer Reaktion auf meine Einladung verging, kam mir wie eine kleine Ewigkeit vor. Der Blick, den sie mir in diesem Moment zuwarf, brannte sich an diesem Tag für immer in mein Gedächtnis ein. Ich weiß, dass es dieser Moment gewesen sein muss, in dem ich mich unsterblich in sie verliebt habe.
Warum nicht, sagte sie lächelnd. Wie wäre es mit Samstagabend um Acht?
Ich kenne ein tolles Restaurant, sagte ich. Als sie ging, musste ich mich erst einmal hinsetzen und laut aufatmen. Ich habe sie, übrigens, nie gefragt, warum sie Informationen über den Weidenlaubsänger brauchte, wenn sie doch Entomologin war, und ich glaube, dass sie mich auch deshalb mochte, weil ich nie zu viele Fragen stellte.
*
Wir heirateten zwei Jahre später, am 11. Juli 1991, an dem Tage, an dem man von Mexiko aus eine totale Sonnenfinsternis beobachten konnte.

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Dr. Ronald Henss Verlag, Saarbrücken
ISBN 3-9809336-8-7
Erscheinungstermin: September 2006
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Eingereicht am 06. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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