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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüssel der Träume

©Gudrun Vogler

Auf Bahnsteig sechs fand ich ihn, und er ist mein größter Schatz.
Niemals würde ich ihn hergeben, denn er wird mir bestimmt mal zu einem besseren Leben verhelfen. Immer wieder lasse ich Bilder vor meinem inneren Auge ablaufen, wie es sich abspielen wird.
Es wird alles gut. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, diese Worte hätten eine Bedeutung.
Tommy, 19 Jahre alt, Abiturient, sitzt neben mir auf dem Boden und wir beobachten die Menschen, die auf dem Weg zu ihren Lieben, ihren Anschlusszügen oder einfach nur nach Hause sind. Sie hetzen, rasen, flitzen und ich sitze hier und amüsiere mich mit Tom über ihre Raserei.
Ein paar Blicke treffen uns flüchtig, einige verächtlich, manche mitleidig und andere unergründlich. Einige Menschen werfen uns im Vorbeigehen Münzen in die Kasse und gehen weiter, fühlen sich gut.
"Ätzend", meint Tom nur und deutet mit seiner spitzen Nase auf eine Frau, die ihr Kind hinter sich herzerrt. "So war meine Alte auch."
Jeder von uns hat andere Gründe, hier zu sein. Jenny, die meistens vor dem Kiosk steht und sich mit alten Säcken unterhält, hatte einfach keinen Bock mehr auf ihre Familie. Kathleen, die schwarz den ganzen Tag U-Bahn fährt auf der Suche nach Freiern, wurde zu Hause von ihrem Vater verprügelt. Tommy hat seine Eltern durch einen Unfall verloren, als er zwölf war und ist aus der Pflegefamilie abgehauen. Er sagt immer, er könne auf beide, seine richtige und seine Pflegefamilie verzichten, aber ich glaube ihm das nicht, denn er erzählt nie von seinen wahren Eltern.
Keiner von uns braucht eine Familie. Wir sind unsere eigene Familie und auch, wenn wir oft "zu Hause" rausgeschmissen werden, zehn ist im Bahnhof meistens Schluss, kehren wir doch hierher zurück.
Gerade jetzt im Winter gibt es draußen keine anderen Schlafplätze.
Außerdem ist der Park, in dem die Junkies wohnen, nicht halb so sicher und interessant wie der Bahnhof.
"Da kommt Paule", meint Tommy in seiner wie üblich sehr wortreichen Art. Paule ist der Sicherheitstyp hier auf dem Bahnhof. Aber da es vor zweiundzwanzig Uhr ist, brauchen wir nichts zu befürchten.
"Wie gehn die Geschäfte?", fragt er und lächelt uns an. Paule ist eigentlich in Ordnung. Macht auch nur seinen Job. Trotzdem find ich ihn scheiße, wenn er uns nachts raussetzt.
Na ja, aber eines Tages setzt mich keiner mehr raus.
Ich fasse nach meiner Brusttasche und kann die kleine Metalldose ertasten. Da ist er drin, mein Schatz. "Isser noch da?", fragt mich Tommy, der mich immer wieder damit aufzieht. Er begreift einfach nicht, wie wertvoll er ist. Er wird uns auf jeden Fall hier rausholen.
Aber jetzt ist es noch nicht soweit. Es dauert noch.
"Wann gibst du den Scheiß endlich auf?"
"Noch nicht. Ich brauche noch ne Menge." Mich nervt das Thema. Ich stehe auf und lasse Tommy zurück. Er wird auf unsere Kasse aufpassen und fair mit mir teilen. Wir sind sozusagen Geschäftspartner und das ist wichtig, wenn man so lebt wie wir. Ich schlendere durch die Hallen.
Die Massen umspülen mich wie Wasser, Leute eilen von Zug zu Zug und rennen in die vielen Geschäfte, die es hier am Bahnhof gibt. Nachdem ich im Zeitungsladen die neusten Exemplare durchgeblättert habe und erfolglos weitergegangen bin, dann jedoch bei Pommesjonas ein paar Fritten gekriegt habe, die schon kalt waren (er ist froh wenn er die kalten loswird), will ich nach meiner Schatztruhe sehen.
Auf der Treppe zu Bahnsteig vier kommen mir viele Menschen entgegen.
Der Regionalexpress ist gerade angekommen, mit Verspätung. Einige drängeln sich in seine Richtung an mir vorbei. Ich erkenne genau, wer ihn verpassen wird, es sind immer die gleichen: die Frau da hinten, die versucht, zwei Reisetaschen zu tragen, ein Baby auf dem Arm zu balancieren und zwei anderen Kinder vom Gleis fernzuhalten, genau die wird es nicht schaffen.
Was die zwei Kinder am Gleis fasziniert, weiß ich. Da unten leben Mäuse und die freuen sich, wenn man ihnen was zuwirft. Ich habe manchmal Kekse gekauft und sie gefüttert, aber seitdem ich meinen Schatz habe, ist es mir zu teuer.
Auf dem Bahnsteig sehe ich meine Schatztruhe. Ich warte, bis die Reisenden weg sind und ich meine Ruhe habe.
Es ist ein kleiner grauer Kasten hier auf Bahnsteig vier und er enthält alles, was ich brauche. Alles, was mir eine schöne Zukunft bescheren wird. Alles.
Wieder taste ich nach meiner Brusttasche. Er ist immer noch da. Kathleen kommt auf mich zu. "Fluppe?", frage ich sie.
Sie nickt.
"Du siehst fertig aus", bemerke ich. Tatsächlich sieht sie nicht mehr so schön aus, wie vor sechs Monaten, als sie zu uns kam. Damals sah sie aus, als würde sie nie zu uns gehören. Sie fragte mich damals, ob ich eine Zigarette hätte und ich gab ihr eine, obwohl ich mich fragte, was sie hier will. Sie kam an, völlig gestylt und in guten Klamotten, mit einer Reisetasche und dem Gedanken, nicht lange hier zu bleiben. Aber das hält sich nicht lange. Gerade die "aus gutem Hause" bleiben am längsten und fallen am tiefsten.
Das Gerücht geht um, ihr Vater wäre ein Professor.
Einige haben sie deshalb verachtet. Aber nun, da sie auf der Leiter auf der vorletzten Stufe angekommen ist, ist es nicht mehr so.
Aber mittlerweile juckt das keinen mehr. Mittlerweile ist sie eine von uns, vielleicht noch etwas schlimmer dran als wir.
Rauchend sitzen wir auf den Stahlbänken auf dem Bahnsteig und sie weiß wohin ich schaue.
"Miesen Tag gehabt?", frage ich und nehme einen Zug.
"Miesen Freier", antwortet sie mir und ich bemerke, dass sie diesmal nicht mal mehr Tränen in den Augen hat. "Familienvater, sprach von seinen Töchtern, seiner Frau, wollte das volle Programm und hat dann danach erst geheult und mir dann eine gelangt, als ich das Geld wollte."
"Hats wenigstens was gebracht?"
"Zwei Tage, dann gehts weiter."
Sie klingt so hoffnungslos, dass ich das Bedürfnis habe, sie aufzumuntern.
"Ich nehme dich mit."
"Wie?", fragt sie verständnis- und emotionslos.
"Wenn ich das Geld zusammenhabe." Ich klopfe auf meine Brusttasche, dann muss sie doch verstehen.
"Ach so."
Wahrscheinlich muss ich es ihr noch mal erklären. Sie kifft, vielleicht ist es das Dope, das ihr Verständnis trübt. "Wenn ich das Geld zusammenhabe, dann kann ich es öffnen. Und vielleicht ist ja viel Geld drin!"
Aber auch jetzt schaut sie mich nur müde an. Ich fahre fort: "Stell es dir doch einfach mal vor! Ich habe diesen Schlüssel seit anderthalb Monaten und es hat sich keiner gemeldet, was wenn es die siebenhundertfünfzigtausend Euro aus dem Überfall sind?!"
Noch immer keine Reaktion. Nur ein müdes: "Warum solltest ausgerechnet du den Schlüssel zu dem Schließfach finden, in das die Typen das Geld gelegt haben. Und meinst du nicht, die hätten das den Bullen gesagt?"
Jeder von uns hat die Bankraubstory verfolgt und die Tatsache, dass die Beute nicht gefunden wurde, gibt uns allen Grund zum Träumen, aber meine Hoffnungen sind real, weil ich ihn habe. Den Schlüssel.
"Vielleicht wollen sie es selbst, wenn sie wieder draußen sind?!", kontere ich und bin siegesgewiß. "Siebeneinhalb Mille. Das wär geil."
"Träum weiter."
"Aber stell es dir vor, was man damit machen kann. Ich würde ein Haus kaufen, ein großes und ich würde dich und Tommy mitnehmen und wir würden uns alles kaufen können, was wir wollen. Nie wieder widerliche Freier, kein blödes Rumgeficke mehr. Nur noch du, ich, Tommy und erst mal n Haufen zu Fressen."
Kathleen schließt die Augen. "Und ein eigenes Zimmer."
"Klar! Und stell dir das vor: ein Bad und ne Heizung und Schuhe so viele du willst und Pizza zum Bestellen und wir könnten einen Hund haben."
"Der auch ins Haus darf?", fragt sie dazwischen.
"Klar! Und alle, die sich aufwärmen wollen können kommen und wir haben immer was Warmes für alle und - stell dir vor: n Weinkeller."
Kathleen lacht und ich freue mich, dass sie sich endlich entspannt.
"Und Sonntag morgen sitzen wir alle im Sonnenschein, trinken Kaffee und Rauchen Kippen aus ner Schachtel!" Sie drückt die Selbstgedrehte aus.
"Und das Dope bauen wir im Balkonkasten an."
Kathleen lacht jetzt richtig. Und wird schnell wieder ernst. "Wie viel noch?", fragt sie.
"Für heute brauch ich fünf und ums zu öffnen zweiundachzig."
Kathleen beginnt in ihrer Tasche zu graben und drückt mir einen Zwacken in die Hand. "Ich mach mit. Und wenns nur dreckige Socken sind, darf ich dir eine runterhauen."
Ich geb ihr einen Kuss auf die vernarbte Wange. "Danke, ich geh nur fix wechseln und dann fütter ich ihn heute."
Im Zeitungsladen oben wechsel ich das Geld. Zwanzig Euro sind viel.
Eigentlich zu viel. Kathi wird morgen wieder losmüssen, jetzt, da sie mir das Geld gegeben hat. "Wieder für deinen Schatz?", fragt Klausi, der fette Verkäufer desinteressiert.
"Jepp."
"Wann gibst du es endlich auf?", fragt er kopfschüttelnd.
Er drückt mir mein Wechselgeld in die Hand und ich mache mich davon.
Zurück am Schließfach stellt sich Kathi neben mich.
"Willst du?", biete ich ihr an und die nimmt mir die fünf Euro aus der Hand und steckt sie in den Schlitz.
Es ist schwierig, jeden Tag so viel Geld zu machen, dass man den Euro übrig hat um es am Laufen zu halten. Wenn man nach fünf Tagen noch kein Geld reingesteckt hat, wird das Schließfach vom Bahnhofspersonal geöffnet und man kann es nur mit Gebühr auslösen. Ich habe die letzten fünf Tage die Frist nicht geschafft und bin froh, dass Kathleen es mir ermöglicht hat. Denn das Bahnhofspersonal würde mir die siebenhundertfünfzigtausend nicht geben, wenn sie die hätten. Alles wäre aus.
Später, zurück bei Tommy berichte ich von Kathleen. "Jetzt spinnt die auch noch", sagt er und wir machen den Kassensturz. Heute sind es siebzehn Euro in der Mütze, ein guter Schnitt. Wenn ich jetzt durch zwei teile sind das achtfünfzig für jeden. In der Metalldose in meiner Brusttasche sind neben dem Schlüssel auch meine bisher ersparten Mäuse drin. Dreiundfünfzig Euro und siebzehn Cent. Zusammen mit den acht Euro fünfzig von heute sind das ... und Minus einsfünfundzwanzig für nen Burger später ... Dann noch die fünfzehn die von Kathleens Geld übrig sind, machen zusammen fünfundsiebzig Euro und zweiundvierzig Cent.
Euphorie heizt mich plötzlich auf. "Tommy!", rufe ich und kann es nicht verhindern, laut zu werden. "Tommy, noch sieben Eus und ich kann es öffnen."
Genervt schaut Tommy zur Seite.
"Du kriegst keine Kohle von mir."
"Oh bitte, Tommy. DU musst mir das Geld geben, ich tu alles für dich."
"Ha."
"Bitte" Irgendwie muss er sich doch überzeugen lassen. "Wenn ich das nicht morgen schaffe, dann sind es wieder acht Euro, die mir fehlen und wer weiß wie es morgen läuft!"
Er ist angepisst. "Sieh mal, du sagst es selbst, wer weiß wie es morgen läuft. Und wenn nichts drin ist, dann hab ich morgen nix zu fressen und kein Bier mehr."
"Sollte da nichts drin sein, und ich sage dir, da ist was drin, kriegst du morgen dein Geld verdoppelt."
Geschäftstüchtig hebt er eine Augenbraue. "Wie?"
"Dann tu ichs."
Er verdreht die Augen. "Dann willst du so enden wie Kathleen?"
"Das muss ich eh, wenn nichts drin ist. Bitte, es ist unsere Chance!"
Tommy zögert. Ich sehe, wie er mit sich kämpft. Ist wahrscheinlich n mieser Gedanke für ihn, dass ich anschaffen muss.
"Bitte."
Er drückt mir sein Geld in die Hand.
Ich gebe ihm einen Zungenkuss. "Lass den Scheiß! Ich steh nicht auf Weiber." murmelt er und wischt sich theatralisch den Mund ab. "Aber ich komme mit."
Es ist jetzt kurz vor zehn, ich muss mich beeilen. Wenn Paule uns nach zehn erwischt, sind wir draußen. "Wir müssen noch Kathleen holen."
Nach fünfzehn Minuten stehen wir zu dritt vor dem Schließfach und sehen es an.
"Was wünscht ihr euch, wenns da drin ist?"
"Ein eigenes Bett", sagt Tom.
"Ein eigenes Bett an der Heizung", fügt Kathleen dazu. "Und du?"
Ich überlege, was ich mir wünschen könnte. Was wäre das Erste, was ich mir kaufen würde. Aber mir fällt nichts ein, es gibt so vieles und nichts, was ich mir besonders wünschen würde.
Ich sehe mich nur mit einer Packung teurer Kekse auf dem Bahnhof stehen und die Mäuse füttern.
Ich werfe die ersten Münzen hinein. Was würde ich tun, wenn ich unendlich viel Kohle hätte, nachdem ich Schließfach zweihundertsechs geöffnet habe? Ein Bild kommt mir vor Augen und während ich einfach immer mehr Münzen in den Schlitz schiebe. Ich teile es mit den beiden.
"Ich würde mir wünschen, mit euch hoch zu gehen." Ich zeige auf die Ladenzeile des Bahnhofs, "Zu Burgerking und endlich mal nen Whopper zu essen und Cola zu trinken und vielleicht sogar ein Menü zu haben."
Es ist so weit. Die Digitalanzeige zählt mittlerweile weniger als zehn Euro und meine Hand lässt die Münzen immer langsamer fallen.
"Was wenn nicht?", fragt Kathleen, wird aber durch eine harsche Geste von Tommy unterbrochen.
Ja, was wenn nicht. Daran hatte ich bisher noch nicht gedacht. Bilder von Kathleen, wie sie bald mit dem Fixen beginnt, von Tommy, der bald anfängt zu Klauen und erwischt wird und von mir, wie ich anschaffen gehe, blitzen vor meinen Augen auf. Langsam stecke ich den Schlüssel ins Schloss. Es gibt kein Zurück mehr.
Ich will ihn umdrehen, er fühlt sich heiß in meiner Hand an, aber er bewegt sich nicht. Tommy legt eine Hand auf meine. Sie zittern beinahe im Takt. Kathleen gibt ein Geräusch von sich. Ich sehe sie an und bemerke, dass sie das erste Mal seit zwei Monaten Farbe in Gesicht hat und lebendig aussieht. Am liebsten würde ich den Schlüssel wieder herausziehen, in meine Tasche stecken und mir den Anblick und die Vorwürfe ersparen, die mir Kathi und Tommy machen werden, wenn es nicht drin ist. Plötzlich kriege ich selbst Zweifel. Aber Tommy dreht meine Hand und den Schlüssel, die Tür geht auf und offenbart uns ihren Inhalt.
Eine schwarze Reisetasche aus Leder.


Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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