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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Rothaarige, oder: Umgekehrt
©Lene Finn
I
Ständig begegnet er mir. Vor ein paar Tagen tauchte er von hinter den Mülltonnen auf, gerade als ich zur Garage ging. Ich habe zuerst nur seine rötliche Fönfrisur wippen sehen, dann die lange Nase und zum Schluss die Aktentasche. Riesengroße Schritte hat er gemacht. Am Freitag darauf in der U-Bahn muss er schon ein paar Stationen lang neben mir gestanden haben, bis ich ihn bemerkte. Eine Frau mit Krücken wollte sich anlehnen, also bin ich zur Seite gerückt. Dabei habe ich ihm plötzlich in die Augen geschaut.
Die Farbe weiß ich nicht mehr.
Und jetzt fuhr er heute mit dem Fahrrad hinter mir her, im Park, bei meinem Abendspaziergang. Vielleicht habe ich ihn zu spät gehört und er hat meine Selbstgespräche mitbekommen. Jedenfalls ließ er sein Rad ganz langsam rollen und pfiff dazu, Mozart, Dove sono i bei momenti. Es hat mich gar nicht besonders gestört, solange er mich nur nicht ansprach. Meinetwegen konnte er mich begutachten, über mich nachdenken, lächeln, seine Fantasien mit mir spinnen, verrückt sein, aber er sollte mich in Ruhe lassen. Als er
mit dem Lied fertig war, fuhr er vorbei. Er hat gar nicht gelächelt.
II
Zu Hause habe ich mich hingelegt und an dich gedacht. Daran, wie wir all die Steine gesammelt und im Hotelzimmer Muster gelegt haben. Später teilten wir dann damit die kleine Wohnung ein: meine Leseecke, dein Sportbereich, meine Unordnung, deine Ordnung, dein Stück Teppich, mein Platz vor dem Fenster, und so weiter. Weißt du noch? Es war zum Weinen, doch wir haben immer nur gelacht. Bloß als du den größten Stein aus dem offenen Fenster geworfen hast, da sind wir furchtbar erschrocken. Zum Glück ist nichts passiert.
Nichts weiter.
Inzwischen habe ich die Steine zurückgebracht ans Meer. Es war anders, jetzt, ohne dich. Ich habe ihm wie immer erzählt, was mich beschäftigt, aber das Meer hat es nicht wie früher mit nach draußen genommen. Alles, was ich sagte, hat es zurückgespült an meine Füße. Wir hatten nichts gemeinsam, haben uns nicht mehr verstanden, ich und das Meer.
Den Rest habe ich weggeworfen, die Federn, die Blüten, sogar die gepressten Falter. Nur für die Kastanien habe ich eine große gläserne Schüssel gekauft.
Sie steht in der Küche, und manchmal, wenn alles so sehr aufgeräumt ist, leere ich sie auf den Boden aus und lege Muster. Du würdest dich wundern, wie ruhig und sicher meine Tage vergehen.
Über diesen Rothaarigen hättest du nur gelacht. Doch wer weiß - wenn ich ihn wieder einmal treffe, werde ich vielleicht mit ihm sprechen. Er würde mir glauben. Wir könnten miteinander schweigen. Oder ich höre ihm beim Pfeifen zu und singe Mozart für ihn. Wir würden seine Aktentasche aufmachen und die verschiedenen Muscheln nach Farben sortieren.
III
Habe ich dich im Stich gelassen, als ich damals zum Segeln gefahren und nicht mit dir daheim geblieben bin? Bis dahin hatte ich dein Leben in runde, träumende Wörter gekleidet. Aber dann fuhr ich weg und ließ dich zurück, ahnend, vielleicht sogar wissend, wie nackt du warst.
Wir brauchten nur eine halbe Stunde zum See. Im Auto wiederholten wir noch die wichtigsten Begriffe und Manöver, das Wenden, das Halsen, und so weiter - das sagt dir ja alles nichts - sogar auf Englisch, wegen der zwei Mädchen. Es war noch ziemlich früh am Morgen, als wir ankamen. Das beste Boot des Clubs hatte Christian für uns organisiert, und mit seiner Hilfe machten wir es schnell startklar. Doch gleichzeitig wurde der Wind immer schwächer, so dass wir, sobald die Segel gehisst waren, in der totalen Flaute
lagen.
Die Mädchen ließen sich dadurch nicht stören, sie waren offensichtlich glücklich genug, ein paar Tage miteinander verbringen zu dürfen. Sie rieben sich gegenseitig mit Sonnencreme ein, sogar hinter den Ohren und auf den Handflächen, rieben auch weiter, als die Sonnencreme längst eingerieben war, sprachen ab und zu ein paar Worte miteinander und verstummten endlich, als sich ihre Körper nahe genug waren. Sie sahen aus wie Kinder, die einen Zungenkuss probierten.
Christian saß neben mir und erzählte, dass sein halbes Pferd Asthma hätte und dass er in einer viel versprechenden Internetfirma einsteigen wollte. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, du weißt ja, dass ich Bart hasse, aber immerhin machte er Christian älter. Ich fragte ihn, ob ihm die Trennung von Lil noch zu schaffen machte. Er hat seine grünen Augen zusammengezwickt:
Nein, weil er eingesehen habe, dass er generell beziehungsunfähig sei. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißtröpfchen. Ein paar Haare im neuen Bart waren grau. Ich glaube, dann habe ich über dich gesprochen.
Als sich nach Stunden die Luft wieder etwas bewegte, schliefen alle. Bei einem der Mädchen war das Bikinihöschen zu weit hinuntergeschoben. Christian schnarchte und zuckte ab und zu ein bisschen. Ich suchte mir einen Punkt auf der anderen Seite des Sees und steuerte im Zeitlupentempo darauf los.
Stille füllte den Platz zwischen Wasser und Himmel aus wie ein zu dünnes Gas. Sie saugte die Substanz aus den Dingen heraus, so dass diese sich ausdehnten und verzerrten. Die kleinen Wellen neben dem Boot verharrten jede einen Moment lang auf dem höchsten Punkt, um ihr entgegenzukommen. Nur ich selbst blieb, wie ich war, eine unbeteiligte, leere Hülle Mensch. Da füllte sich die Stille an mit meinem Namen, oder einem Gedanken, der wie mein Name klang. Sie schien daran platzen zu wollen, sie drängte sich gegen
die Hügel hinter dem Ufer, gegen den Himmel und gegen mich. Mein Name war überall. Die Stille trieb ihn in meine Ohren, er lärmte darin, doch ich hörte nichts. Die Stille zerplatzte nicht. Sie zog sich langsam wieder zusammen und ließ nur ihr Echo über dem See.
Gegen Abend kam doch noch ein frischer, fast stürmischer Wind auf. Christian rief die Kommandos durch den Lärm der Segel und der Wellen, und wir lehnten unsere steif gewordenen Körper weit aus dem Boot hinaus. Doch war ich wie betäubt und erkannte in jeder Bö den Widerhall meines Namens, dessen Klang ich genau genommen bis heute nicht vergessen habe.
Daheim fand ich dich am Schreibtisch, du hast dich für die nächste Prüfung vorbereitet. Es war uns beiden noch nicht klar, aber von da an ließ es sich nicht mehr aufhalten. Ich hatte dich nackt zurückgelassen, und so bist du geblieben.
IV
Ich stelle mir vor, es ist Winter, und ich gehe mit dem Rothaarigen spazieren. Es schneit und schneit, er macht mir ein Bett aus Schnee, zieht mir Jacke, Pullover, T-Shirt aus, ich fühle den Schnee. Wir liegen da ohne zu sprechen, es wird Frühling, der Schnee schmilzt unter meinem Bauch, es wird Sommer. Der Rothaarige streichelt an meiner Wirbelsäule hinunter und wieder hinauf, bis zum Hals, und legt mir seine Hand auf den Kopf. Du blickst mich an, du siehst erleichtert aus, scheinst dich für mich zu freuen,
dass mir jemand den Rücken streichelt. Ich bekomme Gänsehaut.
Wir haben alles probiert, weißt du noch? Die Nächte, in denen wir die Sterne umgetauft haben. Unser Regentropfen-am-Fenster-Rap. Und natürlich all die Wolkenstorys beim Autofahren. Manchmal, wenn du wie ein Verrückter gerast bist, habe ich meinen Gurt ganz locker gemacht.
Ich stelle mir vor, ich treffe den Rothaarigen unter Wasser, seine rote Fönfrisur treibt über seinem Kopf herum, und ich rufe ihm etwas zu. Ich rufe es in meiner Sprache, doch zu meinem Glück höre ich es in deiner Sprache durchs Wasser schallen. Der Rothaarige lächelt, nickt und antwortet mir in deiner Sprache - das sehe ich an seinem Gesicht und an seinem Körper - aber ich kann alles ganz klar verstehen. Ich vergesse, was ich rufen möchte.
V
Es klingelt. Draußen steht der Rothaarige. Ich erschrecke, weil er so groß wirkt. Er fragt mich, ob ich Lust hätte, mit ihm essen zu gehen, zum Italiener zwei Straßen weiter. Ich versuche mich zu erinnern, ob ich noch geschminkt bin oder vielleicht schon die Penatencreme im Gesicht habe. "Einen Moment", sage ich und renne ins Bad. Ich rubble mir das weiße Zeug von den Wangen, öffne den Lippenstift, verwende ihn dann doch nicht, reiße die Haustür wieder auf und kippe meinen Kopf nach oben, bis ich sein
Gesicht finde. "Im Prinzip ja, gerne", sage ich, aber ich bräuchte noch fünf Minuten, um mich umzuziehen. Er starrt durch mich hindurch. "Kein Problem, dann werde er bei einem Glas Wein dort auf mich warten." Ich sehe seinen Rücken verschwinden.
Das Restaurant ist ziemlich voll. An einem kleinen Tisch etwa in der Mitte des Raumes entdecke ich den Rothaarigen. Er liest ein Buch. Ich setze mich ihm gegenüber. Er scheint noch etwas zu Ende zu lesen, schüttelt den Kopf und legt das Buch vor sich auf den Tisch. Er entschuldigt sich dafür, dass er mir gefolgt sei, um meine Adresse herauszufinden, aber er sei erst vor zwei Wochen hergezogen und fühle sich manchmal eben einsam, und ich sei ihm gleich sympathisch gewesen. Er macht eine kurze Pause, scheint auf
eine Reaktion zu warten, redet weiter. Von seiner neuen Arbeitsstelle, von seiner Beziehung, die in die Brüche gegangen ist, von seinem Bruder, der ihn erst kürzlich ums Erbe betrogen hat, davon, dass er gern Schi fährt, davon, wie sehr er diese Stadt liebt bereits nach der kurzen Zeit. Ab und zu blickt er auf, dann sehe ich seinen schmalen Mund und seine rastlosen Augen.
Schließlich hebt er sein Glas Wein und prostet mir zu. "Aber nun erzähl du mal von dir", verlangt er.
Ich sehe ihn ganz ruhig an, so lange, bis seine Augen irgendwo auf meinen Händen einen Zielpunkt finden. "Ich habe über Sie nachgedacht", antworte ich.
"Du kannst mich duzen", meint er, "und was hast du über mich gedacht?"
"Ich fand Sie interessant, auf den ersten Blick", sage ich.
Zum ersten Mal zeigt er seine Lippen. "Hast du Lust, morgen mit mir in das Konzert zu gehen?", fragt er und zieht ein verknittertes Programm vorne aus seinem Buch.
Ich werfe einen Blick darauf. "Nein, Keith Jarrett ist nicht mein Geschmack, aber trotzdem danke für die Einladung."
"Unsinn", sagt er, "das ist einer der großartigsten Jazzpianisten, komm doch mit, es wird dir gefallen."
Ich denke an Rachmaninow, Schubert und Chopin und frage den Rothaarigen, ob er schon auf dem Oktoberfest gewesen sei. Er sieht nicht begeistert aus, bietet sich aber an, mich morgen dorthin anstatt ins Konzert zu begleiten.
Mit einem Lächeln lege ich zwei Finger auf sein Handgelenk. "Ich möchte nicht aufs Oktoberfest, und ich möchte Sie auch nicht davon abhalten, das Konzert zu hören", sage ich, "ehrlich gesagt bin ich momentan gar nicht an so einem intensiven Kontakt interessiert."
Unsinn, er wolle ja gar nichts von mir, aber man könne doch Zeit zusammen verbringen, zum Beispiel einen Tag in den Bergen am Wochenende. "Oder hast du einen Freund, dem das vielleicht nicht passt?", höre ich ihn fragen.
Nein, sage ich, es sei nicht so einfach mit den Männern und mir.
"Unsinn", entgegnet er, "ein Mädchen wie du, die wissen nur nicht, was sie an dir haben."
Viel zu früh, wie der Rothaarige meint, verabschiede ich mich. Ich kann plötzlich sehr klar denken. Als ich zu Hause die Türe schließe, erinnere ich mich endlich wieder, wie es wirklich gewesen ist mit uns:
Wir stehen auf dem Fünfmeterturm, ich und du, doch ich sehe, dass kein Wasser im Becken ist. Ich halte deine Hand ganz fest, du weißt, dass wir hier sind, um zu springen. Ich habe Angst, es auszusprechen, dass kein Wasser im Becken ist, ich denke mir: du siehst es ja selbst, und wir sind hier, um zu springen. Ich halte deine Hand ganz fest, denn wir müssen springen, es hat nichts damit zu tun, ob Wasser im Becken ist. Ich erinnere mich, dass es schön ist, vom Fünfmeterturm zu springen, wenn Wasser im Becken ist.
Aber wenn du springen möchtest, werde ich deine Hand nicht loslassen, denn dafür sind wir hier. Ich schaue dich an wie noch nie.
Vielleicht zum ersten Mal überhaupt. Ich fühle, dass ich möchte, dass du lebst. Ich lasse deine Hand los. Du bist erstaunt und hältst mir die schlaffe Hand hin: wir wollten doch springen.
"Es ist kein Wasser im Becken", sage ich, kehre mich um und steige die Stufen hinunter.
Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.