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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Die Hüterin des Regens
©Daniel Mylow
Er berührte die makellose Feinheit ihres Mundes, so wie man mit dem Finger eine Wolke berühren würde. Der Tag starb, er hatte die Dämmerung hinter sich gelassen, deren schmaler schwarzer Mund die letzten Spuren rötlichen Lichts zernagte und sich schweigend wie der Abdruck eines Schlüssels auf die dunklen Wasser des Flusses legte.
Er berührte ihre blassen Hände, die zu ihm gekommen waren in der Dunkelheit, wenn das Herz der entferntest gedachte Ort war. Vielleicht hatten sie zu viel vom Leben versprochen.
Misel blickte auf die fleckigen Laken. Er stand auf. Das Licht hinter dem Fenster wirbelte in der Dunkelheit Federn umher. Streunende Katzen hockten auf dem schmutzstarrenden Hof. Der Straßenlärm schlug in unregelmäßigen Wogen gegen die Hotelfassade.
Was willst du tun, was willst du reden, wohin willst du, fragte er sich. Einfach weiter gehen, schnurgerade ins Graue, nicht mehr spüren wie die Zeit wächst, die bleibt hier im Zimmer, bei der Nadel in ihrem Arm, irgendwo hinter ihren weit aufgerissenen Augen, diesen Augen, so unschuldig und rein als ob sie in den Gletschern des Gedächtnisses mit der Erinnerung verschmolzen wären, auch die bleibt hier und hurt um ihre Tage, um das bisschen Licht, so wie an all den Tagen, an denen er zu ihr gekommen war, um zu
weinen oder geboren zu werden.
"Jenna?", flüsterte er in die hinter dem Glas aufscheinende Silhouette der Stadt.
"Wenn wir uns eines Tages wieder sehen", hatte sie vor kurzem zu ihm gesagt und ihm dabei einen winzigen, verzierten Schlüssel in die Hand gedrückt, dann musst du mich aushalten, so wie man das Leben aushält. Schließ mich auf, wenn du kannst."
Ein diffuses Rauschen füllte die stickige Luft des Zimmers. Misel lief im Zimmer umher. Er suchte sein Gesicht im Spiegel. Vielleicht wenn er die Wimpern schwärzer und seine Augen glänzender machte und sich fragend anlachte, vielleicht fand er es dann und dass er dann wie Jenna sagen konnte, dass sie etwas lieben wolle das schon war ehe die Welt begann, dachte Jenna, und dass sie deshalb niemanden liebe und ihre Wimpern in den sieben Jahren, die er sie kannte immer schwärzer geworden waren und ihre Augen immer
glänzender von all dem Zeug, was sie Woche für Woche in ihren Körper jagte.
Misel legte seine Hände auf Jennas erkaltete Haut. Die Flammenschrift der Kerzen auf dem Fensterbrett brachte die Welt zum Verschwinden. Er nahm ihre kleine schwarze Reisetasche vom Boden auf und ging. Wohin wusste er nicht. Er wartete, bis der Portier verschwunden war und lief auf die Straße. Der Abend war kühl.
Die Huren standen am Straßenrand aufgereiht. Ihre vom Leben durchschienenen Gesichter sahen durch ihn hindurch, so wie Jennas Gesicht manchmal. Sie hatte nie zugegeben, dass sie manchmal hier gestanden hatte, aber er wusste es auch so. Seine Gedanken begannen sich in einer endlosen Reihe um Jenna zu bewegen. Es war als stürze er in einen tiefen schwarzen Brunnen, auf dessen spiegelndem Grund die Wahrheit festgerostet war. Er spürte den Schlüssel in seiner Tasche.
Misel stieg in die Straßenbahn. Er schloss die Augen und überließ sich dem zerrenden Rhythmus, der die Wagen auf die Schienen presste.
An einem verregneten Sonntag im Februar vor sieben Jahren war er Jenna in einer Straßenbahn das erste Mal begegnet. Sie war von zu Hause fortgelaufen. Der Regen und die Tränen hatten ihr schönes blasses Gesicht aufgelöst, ein Meeresgesicht, das hatte ihm gefallen und er hatte sich neben sie gesetzt, was er sonst nie getan hätte, und ihre Hand berührt, die so durchsichtig und zerbrechlich auf ihrem Schoß lag wie ein Herbstblatt, mit erstarrten Adern und einer rissig gewordenen Haut. Plötzlich hielt die Straßenbahn.
Sie mussten aussteigen. In der Ferne loderten Flammen in den Himmel. Schwarze Rauchwolken stiegen in den Himmel. Ein Tanklager war in Brand geraten. Jenna stand wie hypnotisiert da und starrte auf den Horizont. Er hatte sie fortgezogen.
Sie waren den ganzen Tag durch den Regen gelaufen. Als es aufhörte zu regnen, war auch der Tag verschwunden. "Ich hüte den Regen für dich, wenn du magst", hatte sie ihm ins Ohr geflüstert.
Jenna blieb bei ihm. Damals hatte er noch eine Wohnung, hoch über den Dächern der Stadt. Nachts begannen die Lichter wie aus einem dunklen Grund aufzuscheinen, helle flammenförmige Punkte, im Leeren aufgehangen. Jenna hockte sich auf den Boden, direkt an die Glasfront des Raumes. Er brachte ihr eine Decke. Sie blieb bis zum Morgengrauen dort sitzen. Er fragte sie nie, wozu sie all die Schlüssel benötigte, die am Bund ihrer Hose befestigt waren.
Jenna war in einer kleinen bulgarischen Stadt am Meer aufgewachsen. Im Gedächtnis der Nacht fand sie seine Stimme, die Stimme ihrer Kindheit, eine Stimme, die nur durch die Dinge selber sprach. Jenna erzählte oft vom Meer. Sie hatte es seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Er hatte ihr versprochen, gemeinsam ans Meer zu fahren, aber es war nie etwas daraus geworden. Es gab Nächte, in denen es aussah, als würde eine Treppe durch die Luft direkt ins Wasser führen.
Jenna blieb bei Misel. Aus ein paar Wochen wurden Monate. Aus den Monaten wurden Jahre. Sie saß oft so am Fenster, als würde das die Entfernung zwischen ihrem Leben und der Vergangenheit für einen kurzen Augenblick kleiner werden lassen. In den ersten Jahren, nachdem sie sich begegnet waren, erschienen ihm Jennas Augen immer durstig. Das blauste Blau leuchtete aus ihnen. Es schwand irgendwann unmerklich in die Schatten ihres Gesichts. Nur wenn sie mit den Schlüsseln in ihren Händen spielte, war es wieder da.
Aus allem was Jenna vorhatte, wurde nichts. Sie plante ein Leben, das nicht gelernt hatte auf sie zu warten. Alles glitt ihr aus den Händen, als würde ihr Atem die Dinge verbrauchen. Sie verlosch unmerklich, wie eine Flamme, die keinen Sauerstoff mehr hatte.
Die Bahn hielt. Misel öffnete die Augen. Es erschien ihm zu seltsam, dass man ein ganzes kurzes Leben zwischen ein paar Straßenbahnhaltestellen an sich vorbei ziehen lassen konnte, als ob man ein Streichholz entzündete und es langsam verglimmen ließ. So wie diese Plastiktüte, die in einem jähen Windstoß über den Asphalt wirbelte, als er ausgestiegen war. So wie dieses Licht, das über die Sträucher fuhr und in den Baumkronen erstarb. Misel trug noch immer die schwarze Reisetasche Jennas über der Schulter. Er
lief ein paar Schritte in eine dunkle Straße hinein, dann blieb er vor dem rissigen Mauerwerk eines hohen Mietshauses stehen. Als er in den Himmel blickte, regnete es. Jennas Stiefmutter öffnete ihm. Aus ihrem aufgedunsenen Gesicht sah sie ihn misstrauisch an.
"Was willst du?"
"Ich bringe Jennas Tasche."
Misel stellte die Tasche auf den Boden.
"Hat sie wieder was ausgefressen? Braucht ihr wieder Geld? Warum geht sie nicht anschaffen, wenn sie was braucht?"
Sie sah ihn herausfordernd an.
"Beruhig dich. Jenna will nichts von dir. Sie braucht nichts mehr."
Misel versuchte ruhig zu klingen.
"Was heißt das? Sie braucht nichts mehr?"
Die Stimme von Jennas Stiefmutter überschlug sich.
"Sie braucht nichts mehr, da wo sie jetzt ist. Jenna ist tot."
Ohne die Reaktion der Frau abzuwarten, drehte er sich um und lief durch das Treppenhaus hinaus in den Regen.
Es tat gut, den Regen auf der Haut zu spüren, wenn die Nacht wie ein schwarzer Brunnen an einem sog. Was wünschst du dir?, hatte Jenna ihn immer gefragt.
"Wozu sollte ich mir etwas wünschen?", hatte er nur hilflos geantwortet. "Das Leben kann man nicht festhalten."
"Soll ich keine Wünsche haben, nur weil sie unerfüllbar sind?"
Darauf hatte Misel nie eine Antwort gewusst. Während er lief, ja fast rannte, tauchten all die Stunden ihres Zusammenseins in ihm auf, als würde jemand vor ihm ein Streichholz entzünden, immer und immer wieder, aufflackernd und wieder verlöschend, Metaphern aus Licht und Schatten. Alles das hatte es schon lange gegeben. Andere hatten es vor ihnen genossen, andere hatten vor ihnen gelebt und waren gestorben. Und hatte er ihr nicht versprochen, etwas zu finden das war bevor die Welt begann"
Misel hörte auf zu rennen. Sein Atem löste sich in der Luft auf. Der Fluss schimmerte in den Schatten. Er stand direkt unter der Brücke. Auf der Brücke, die über das Wasser führte, hielt eine Straßenbahn. Die bunten Werbebanner spiegelten sich in den Fluten. Er sah, wie sich die Türen öffneten. Seine Hände berührten den Schlüssel in seiner Tasche. Eine junge Frau stieg aus der Bahn. Sie lehnte sich an das Brückengeländer und sah hinab auf den Fluss. Unter den Brückenbögen hatten Berber ein Feuer entzündet. Der
Widerschein der Flammen lag auf dem Fluss. Die junge Frau entzündete ein Streichholz und ließ es langsam zwischen ihren Fingerspitzen verglimmen. Vielleicht wartete sie auf jemanden. Misel wusste es nicht. Er starrte in das Feuer unter der Brücke, dann wieder auf ihr Gesicht, so wie man auf etwas schaut, dass man zum ersten Mal sieht. Misel lächelte.
Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.