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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Vier mal Rot

©Rita Kullmann

Ulli nahm eine Hand voll Sonnenblumen-Kerne und schaute verträumt durchs staubige Fenster. Zwei gelbe Blätter baumelten verloren an einem kahlen Ast.
Hier in Hohhot begann der Winter tatsächlich schon im Oktober. Ulli hatte sich gut informiert, bevor er sich auf dieses Wagnis eingelassen hatte: Mongolisch-Sprachkurs an der Universität in der Inneren Mongolei. Er lachte laut auf.
Kathrin schaute ihn mit ihren dunkelbraunen Augen überrascht an. "Was lachst du?", fragte sie und platzierte dann weitere Farbstecker ins braune Kästchen, das neben dem Chinaführer und zwei Blechtassen auf dem Holztisch lag.
"Superhirn" war ihr gemeinsamer Zeitvertreib, auch heute Abend.
"Ach, ich staune immer wieder darüber, dass ich hier bin."
"Wieso? Ich denke, das wolltest du?" Kathrin nippte am Jasmin-Tee.
"Ja schon, aber irgendwie hat mich Gott wirklich in den Hintern treten müssen."
Ulli erinnerte sich, wie an seiner Schule Handzettel für den sechs-monatigen Sprachaufenthalt verteilt worden waren. Obwohl er sich sehr für die Mongolen interessierte, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen sich zu melden. Zum einen konnte er nicht genug Englisch und zum andern war er absolut nicht der abenteuerlustige Typ. Sein Direktor hatte ihn aber so stark ermutigt, dass er nun, vier Monate später, tatsächlich 8000 km östlich von seiner Heimat saß und mongolische Vokabeln büffelte. Zum Glück war Kathrin mit von der Partie. Die Lehrerin aus der Schweiz kannte sich in Grammatik aus und es schien ihr sogar Spaß zu machen, mit ihm über Konjunktiv, Gleichsetzungs-Nominativ und andere "ive" zu diskutieren. Aber beim lateral frikativen "L" kam auch sie ins Schwimmen.
"Du bist dran", sagte sie nun.
Ulli nahm einige der farbigen Stecker und kreierte eine neue Kombination mit Löchern. Während Kathrin versuchte, seine Farbzusammensetzung zu erraten, betrachtete er sie. Die langen Haare trug sie heute offen, nicht so wie damals. Typisch Schweizerin, eine Heidi, hatte er gedacht, als er sie in Latzhosen und Zöpfen zum ersten Mal gesehen hatte. Unterdessen war er eines Besseren belehrt worden. Kathrin war so vielseitig wie ein Computer. Da gab es erstens mal Dinge, die so offenkundig waren wie die Benutzeroberfläche, dann verschiedenste Dateien, für die man Passwörter benötigte, und irgendwo schienen auch ganze Partitionen versteckt zu sein, zu denen nur Eingeweihte Zugang hatten. Vielleicht eines TagesŠ Ulli ertappte sich. Doof! Wie konnte er sich nur Hoffnungen machen! Er war Handwerker und sie Lehrerin. Das konnte ja nicht gut kommen. Schon als Kind war so was nicht gut gekommen: Er das Kind einer evangelischen Flüchtlingsfamilie, sie die wohlhabenden Kinder aus katholischen Familien.
Kathrin hatte alle vier Farben richtig gewählt, aber nur zwei der vier Positionen stimmten. Also steckte Ulli zwei kleine weiße und zwei schwarze Stecker in die entsprechenden Löcher. Unter dem Fenster hörte man das Hupen eines Lastwagens. Das Haupttor zum Unigelände war also bereits verschlossen.
Kathrins Zimmer lag am Eingang des Campus. Sie teilte es mit Gertrud, einer andern Studentin, die bei Kerzenlicht gerade einen Brief an ihren Verlobten schrieb. Der Mandarinenduft ihrer Kerze verströmte sich im ganzen Zimmer und überdeckte den üblichen Geruch von Staub, Putzmittel oder Abgasen.
"Es ist schon nach zehn", sagte Gertrud. "Ich gehe noch zum Briefkasten, dann will ich ins Bett."
"OK, wir spielen das letzte Spiel", sagte Ulli, der den Wink verstanden hatte. "Du kannst noch was stecken", forderte er Kathrin auf, die ziemlich schnell seine letzte Kombination erraten hatte. Sie war wirklich intelligent. Zu intelligent.
Während Kathrin überlegte, dachte Ulli an das erste Mal, als sie zusammen "Superhirn" gespielt hatten. Es war in den Bergen gewesen. Sie hatten sich nach der einstündigen Radtour bäuchlings auf den sandigen Boden geworfen und gespielt. Die Spitze von Kathrins V-Ausschnitt hatte den Boden berührt und Ulrich einen Blick geboten, der weit interessanter war als alles, was ihm die kahle Gegend um Hohhot hatte bieten können.
Ulli war froh, dass jetzt ein stabiler Holztisch zwischen ihnen stand. Seine Gefühle respektierten das Veto aus dem Unterbewusstsein nicht. Trotzdem brachte er kein Wort heraus. Zu oft hatte er gehört, dass Frauen mit den Gefühlen von Männern spielen, um sie dann im letzten Moment abblitzen zu lassen.
Kathrin hatte gesetzt. Nun schaute sie ihn erwartungsvoll an und dabei lächelte sie so Š ­ ja wie? Er nahm zwei Rote, ein Gelbes und ein Grünes.
Herbstfarben ­ das mochte sie. Als Antwort kassierte er zwei Schwarze. Wäre dieses Lächeln nicht gewesen, er hätte nie den Mut gehabt. So aber nahm er das Grüne und das Gelbe und ersetzte sie mit zwei weiteren Roten. Es wurde still im Raum. Ulli sah, wie Kathrin leer schluckte. Sein Puls klopfte lauter. Er verfolgte gespannt jede von Kathrins Handbewegungen: ein Schwarzes, zwei, drei, vier! Das hieß: vier mal rot war richtig! Keiner sagte etwas. Die Farbensprache hatte ihre verschlagen.
Als das vierfache Rot lange genug gewirkt hatte, fragte Ulrich: "Sollen wir einen Spaziergang machen?", und war völlig erstaunt über sich. Bei dieser Frau schien es eine Partition zu geben mit Schlüsseln zu seinem Leben.
Entschlossen machte er sich daran, das Passwort herauszufinden.


Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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