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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Opfer

©Harald Braem

Nachts auf dem Hoteldach unter flackernden Sternen versuchte er krampfhaft, seine wild durcheinander jagenden Gedanken zu ordnen. In der Bucht rauschte das Meer gleichmäßig mit schwarzen Wogen atmend heran.
Ihm war, als würde dieser monotone Rhythmus allmählich auch seinen Körper erfassen, den Herzschlag bestimmen und synchron zur Welt draußen das Blut durch die Adern treiben. Er steckte sich eine Zigarette an, inhalierte tief und blies den Rauch in Richtung der dunklen Berge.
Was war geschehen? Mit der Akribie eines Buchhalters, der Zahlenkolonnen auf einem Rechnungsbogen vergleicht, versuchte er sich genau an alle Einzelheiten des vergangenen Tages zu erinnern. In Begleitung eines jungen Paares, die zum ersten Mal hier Ferien machten und knapp bei Kasse dankbar sein Angebot annahmen, die Kosten für einen Leihwagen zu teilen, hatte er die ganze Insel umrundet. Etwas, das er ansonsten aus Erfahrung heraus selten tat. Zu groß waren die Ansprüche der Leute an das Land, meistens jedenfalls, denn die Insel bot kaum etwas, was normalen Touristen genügte. Ein karges Eiland vulkanischen Ursprungs, Lavawildnis mit wenig Bewuchs. Außer den bekannten Badestränden mit ihren Hotelgettos, Bars und Animierkneipen existierte so gut wie nichts hier, abgesehen vielleicht von einer grandiosen Natur, die vor allem aus schroffen Felsen, kahlen faltigen Bergrücken und zerklüfteten Schluchten bestand. Man brauchte schon ein besonderes Auge, um der Landschaft Liebreiz abzugewinnen, ein spezielles Programm im Gehirn, das für versteckte Reize empfänglich war. Vielleicht musste man auch erstmal längere Zeit ein Leben auf ganz bestimmte Weise geführt haben, damit tief in der Seele etwas anklingen konnte.
Bei dem jungen Paar schwang indes nichts dergleichen mit. Sie waren brav und fantasielos, bieder und langweilig. Sie stiegen selten aus dem Auto, fotografierten so als würden sie widerwillig Schulaufgaben absolvieren und wirkten regelrecht erleichtert, als die Tour endlich beendet war.
Wieder so ein Tag also mit deutlichem Gefälle zwischen ihm und den übrigen Menschen, unfertig und unbefriedigend, unausgelebtes Leben mit deutlichen Lücken. Und dann das gemeinsame Essen im Speisesaal des Hotels mit alberner Konversation: ein Routineablauf, der zu unechter Höflichkeit zwang, obgleich ihn die hohlen Gespräche maßlos nervten und ihn ohne Watte im Ohr an den Rand der Verzweiflung brachten. Diese Art der Kommunikation war das krasse Gegenteil dessen, was sie eigentlich bewirken sollte, ein freundliches Gegeneinander der Interessen, jeder blubberte Flachheit aus seiner Egoseifenblase heraus, ohne den Anderen wirklich zu berühren. Schon gar nicht mit Bereitschaft zu Liebe.
Ich bin genauso einsam wie diese Sterne da oben, dachte er. Jeder von ihnen ruht scheinbar sinnvoll am seinem Fleck innerhalb eines großen Musters, und doch liegen unüberbrückbare Welten dazwischen. Wenn einer von ihnen verlischt, wird es niemand bemerken ...
Er steckte sich eine weitere Zigarette an, musste dabei schützend die Hand vor das Feuerzeug legen, um den Wind am Ausblasen der Flamme zu hindern. Mit etwas Anstrengung ließ sich nun sogar die Kontur des großen Vulkans am Nachthimmel ausmachen: ein mächtiger schlummernder Riese mit glühender Lava im Leib, der sich Zeit nahm bis zum nächsten Ausbruch, tausend Jahre vielleicht oder zehnmal soviel.
Jetzt, wo er zum schneebedeckten Kraterrand starrte, versuchte er sich vorzustellen, dass der Berg eigentlich ja ein uraltes Lebewesen war, wie die gesamte Insel, und die Orte, Häuser und Menschen darauf kleiner als Hautschuppen. Dennoch konnte jeder, er besonders, deutlich spüren, dass vom Riesen eine seltsame Kraft ausging, die bis in die Träume hineinreichte. Beim Frühstück hatten manche bereits darüber geklagt, andere äußerten sich nicht, nahmen aber aus ähnlichem Grund abends an der Hotelbar überreichlich alkoholische Getränke zu sich, um eine gewisse Bettschwere zu erzielen.
Wäre es nicht möglich, dass uns der Berg etwas mitteilen will, dachte er, eine Nachricht, die wir nur schwer verstehen und so gut wie gar nicht begreifen?
Er stemmte sich gegen aufkommendes Unbehagen in seinem Inneren an, gegen eine Weise zu denken, die er bisher niemals gekannt hatte. Er sträubte sich gegen das luzide Gefühl, möglicherweise gerade wegen seiner einsam machenden Andersartigkeit, eine Art Empfänger, eine menschliche Antenne für den Vulkanberg zu sein. Was sollte ihm mitgeteilt werden und warum ausgerechnet ihm?
Er drückte die Zigarettenkippe auf der Betonbrüstung aus und steckte sich hastig eine neue an. Das Meer rauschte zwar immer noch, aber nicht mehr so gleichmütig wie bisher. Es schien plötzlich aufgeregter zu sein.
Oder war das sein Blut, seine Nerven? Der Gedanke, dass Zeit relativ ist, tausend oder zehntausend Jahre so wichtig wie eine einzelne Sekunde, sprang ihn an, überschwemmte ihn in seiner ganzen Tragweite.
Schweiß brach unter seinen Achseln aus, seine Hände begannen zu zittern.
Was nun geschah, ging alles blitzschnell, ließ ihm keinerlei Spielraum mehr zum überlegen. Er bewegte sich wie in einem Film, der mit rasender Geschwindigkeit läuft. Hastig verließ er das nachtschlafende Hotel. Der Leihwagen stand noch auf dem Parkplatz davor, musste erst morgen abgeliefert werden. Er stieg ein, betätigte die Zündung, fuhr ohne bestimmtes Ziel los, über dunkle Straßen, durch stille Ansiedlungen, immer weiter in Richtung der Berge. Es ist das Wichtigste, das ich jemals in meinem Leben unternommen habe, dachte er noch, als er die Lavawildnis erreichte. Etwas von kaum zu ermessender Tragweite, etwas das mich und seltsamerweise zugleich alles und jeden betrifft. Und es bleibt wenig Zeit, es zu tun. Jetzt ist der Augenblick da und ich muss mich beeilen ...
Dann wurde sein Denken leer. Alles was er tat passierte automatisch, als folge es einem Plan, einem unsichtbaren Befehl, der nur ihm galt und keine andere Wahl mehr zuließ, als bedingungslos zu folgen.
Am Ende der asphaltierten Piste angekommen, ließ er den Wagen stehen und stieg weiter zu Fuß dem Vulkankrater entgegen. Das Licht des Mondes leuchtete vor seinen Füßen, trotz des Lavagerölls strauchelte er nie auf diesem leuchtenden Pfad. Höher und höher stieg er empor, unaufhaltsam auf seiner nächtlichen Bahn, bis er schließlich eine Stelle erreichte, an der bizarre Felskanten aufragten. Hier war es völlig windstill und so ruhig, dass er zum ersten Mal wieder sein Herz klopfen hörte. In der Demutshaltung eines Opfers kauerte er sich nieder, ergeben wartend, klein wie ein Sandkorn und gleich der Lava reglos erstarrt. Er wusste mit einem Mal, wozu er bestimmt und worauf er ein Leben lang gewartet hatte: auf den Ausbruch des Vulkans und darauf, den großen, gewaltigen Geist in seinem Inneren zu besänftigen, indem er sein Leben hinschenkte.
In dieser aussichtslosen Situation begann er absurderweise zu singen.
Lieder der Kindheit, längst vergessene und solche, die er eigens zum Anlass erfand. Dann verlor er das Bewusstsein.
Er erwachte vor Kälte zitternd im ersten Licht des nahenden Morgens weit oberhalb allen Lebens auf der Insel. Irgendwo unten im Dorf kläffte ein Hund. Der Vulkan aber schwieg, er würde weitere tausend Jahre nun schweigen. Ich bin Gott, dachte er, ich habe die Insel gerettet. Noch lange danach über diesen anmaßenden Gedanken lachend, begann er mit seinem Abstieg zurück zu den Menschen.


Eingereicht am 07. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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