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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Bettler
© Teresa Fritsch
Sophies Blick fiel auf ein Schaufenster in dessen Mitte ein großes Plakat zu sehen war. Eine künstlich lächelnde, vornehm gekleidete Frau saß in einem einladenden, großen Stuhl. Neben ihr stand ein Butler in typischer Tracht und hielt ihr ein silbernes Tablett mit einem randvoll gefüllten, edlen Glas hin. Vor ihren Füßen lagen zahlreiche Pakete in allen Größen und Farben.
Sophie biss sich hasserfüllt und aggressiv auf die Unterlippe. Doch es war nicht nur das Bild, das diese Abneigung verursachte, sondern vor allem der Text, der für alle leserlich in Großbuchstaben darüber stand: Weihnachten, die glücklichste Zeit des Jahres! Und darunter stand: Lasst es euch gut gehen!
Sie versuchte ihren unerwarteten Hass gegen diese Frau, diese glückliche Frau, zu unterdrücken und wollte weitergehen, doch da fiel ihr Blick auf einen zitternden Bettler der, in eine dünne Decke gehüllt, direkt vor dem Schaufenster saß. Betroffen blieb sie stehen und versuchte ihre schwankenden Gemütsempfindungen erneut unter Kontrolle zu bringen. Was veranlasste diesen Mann, sich vor ein Schaufenster mit diesem Plakat zu setzen? Wodurch nahm er die Kraft, sich dieses Bild jeden Tag ansehen zu müssen, während
er viele Stunden in der eisigen Kälte verharrte nur um ein paar Münzen zu verdienen damit er sich ein Stück Brot leisten konnte? Womöglich hatte er noch eine Frau und Kinder, die er ernähren musste. Was taten sie an Weihnachten? War es für so eine Familie nicht ein Tag wie jeder andere? Mitleid stieg in ihr hoch und sie kramte so wild nach ihrer Geldtasche, als würde ihr Leben davon abhängen. Endlich hatte sie diese in der Hand, doch als sie sie öffnete, sah sie, dass sie bis auf ein paar Cent leer war.
"Scheiße", rief Sophie aus und trat wütend nach einer am Boden liegenden Coladose. Dann trat sie vor den Bettler. "Sorry", sagte sie und zeigte ihm die geöffnete leere Geldbörse. Der Bettler verdrehte die Augen. "Sehe ich deiner Meinung nach so aus, als könnte ich Englisch?" Sophie verneinte zaghaft. In ihrem Kopf wirbelten Millionen verschiedene Gedanken, doch sie hatte Schwierigkeiten sie zu ordnen. Aus irgendeinem Grund kam ihr der Bettler so vertraut vor, obwohl sie mit hundertprozentiger
Sicherheit hätte sagen können, dass sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Es war weniger sein Aussehen, als seine raue Art, sein Blick in dem so viel Wut lag. Woher kannte sie diesen Blick? Plötzlich zuckte sie zusammen. Es war der Hass auf das Glück anderer Menschen, der in diesen Augen stand, genau derselbe Hass, der auch in ihren eigenen Augen einen großen Platz eingenommen hatte. Als ihr das bewusst wurde, fühlte sie sich elend. Sie bestrafte sich im Stillen. Wie kam sie dazu, sich, ihr Leben - dem es an
nichts Materiellen fehlte - mit dem Leben dieses Bettlers zu vergleichen? Sophie seufzte woraufhin der Bettler sie anstarrte.
"Willst du irgendwas Bestimmtes weil du immer noch hier herum stehst?" fauchte er sie an. Sophie verlagerte ihr Gewicht. Es wurde ihr langsam zu kalt und zu ungemütlich hier zu stehen, dennoch wollte sie nicht einfach gehen.
"Entschuldigung", sagte sie, "ich kann mich auch hinsetzen!" Ehe der Bettler etwas erwidern konnte, hatte sie sich neben ihn auf den Boden gesetzt. Erstaunt stellte Sophie fest, dass sie der Bettler nun jedoch gar nicht mehr zu beachten schien. Vielmehr saß er, den Kopf leicht angehoben, da und beobachte hingebungsvoll jene Coladose nach der Sophie zuvor getreten hatte. Nun lag sie neben einer großen Lache und rollte im Wind leicht hin und her.
"Das Leben ist schon ziemlich daneben nicht wahr?" versuchte Sophie zaghaft eine Konversation zu beginnen. Sie wusste selbst nicht, warum sie es tat, doch aus irgendeinem Grund hatte sie das Bedürfnis diesen Mann besser kennen zu lernen. Der Bettler antwortete jedoch nicht auf ihre Frage.
Stattdessen zeigte er zunächst schweigend auf die Coladose.
"Siehst du diese Dose?" fragte er nach einer weiteren Schweigeminute. Sophie nickte. Als der Bettler nichts weiter sagte, sah sie zu ihm. Wieder saß er in der gleichen Position da und starrte die Dose an.
"Ja und?" fragte Sophie nach.
"Das bin ich!" Die Stimme des Bettlers hatte nun einen seltsamen melancholischen Ton angenommen. Sophie runzelte die Stirn.
"Was?" fragte sie verwirrt.
"Das bin ich", sagte der Bettler wieder. Dann zeigte er plötzlich auf die Lache daneben in der einige Stücke eines aufgeweichten Taschentuchs schwammen. "Und irgendein Teil eines Teils davon bist du."
In dem Moment kam plötzlich ein kräftiger Windhauch der ihr die Coladose vor die Füße rollen ließ. Unerwartet erschrocken blickte Sophie diese an. Ein kalter Schauer durchzog sie. Die Dose rollte wie durch Zauberhand zwischen ihren beiden ausgestreckten Beinen hin und her. Dabei machte sie ein schepperndes Geräusch, das sie an knirschenden Sand oder an eine quietschende Tür erinnerte.
Der Bettler fragte sich unterdessen, was in dieser Frau wohl vorging. Sah sie denn nicht, dass er sich nicht für andere Menschen interessierte, dass er keine Lust auf eine Konversation hatte. Er hatte gehofft, dass sie ihn nach dem Satz mit der Coladose für verrückt erklären und wieder verlassen würde. Stattdessen schien sie nun nur noch interessierter an ihm zu sein. Doch er hatte gesehen, dass in ihren Augen ein Blick lag, den er auch von sich selbst kannte. Ein Blick, den diese Frau von anderen unterschied.
Er wusste, dass sie eigentlich kein Teil eines Teils eines aufgeweichten Taschentuchs war, sondern dass sie wahrscheinlich mindestens genauso eine Coladose war wie er. Dennoch hatte er rein automatisch das Bedürfnis sie zu verletzen. Dieses Bedürfnis hatte er bei allen Menschen. Wie kam es nun, dass es ihm bei dieser Frau nun plötzlich Leid tat? Wütend presste er seine Finger zusammen, als ihm bewusst wurde, dass er sich über diese Frau Gedanken machte. Er wollte es nicht. Er wollte sich nicht für andere Menschen
interessieren, für Menschen die viel mehr hatten als er und doch jeden Tag über irgendwelche Wehwehchen klagten.
Dennoch musste er sich im Stillen eingestehen, dass er diese Frau interessant fand, dass er es mochte, wie sie neben ihm saß.
Sophie betrachtete den Bettler von der Seite. Er war wohl kaum älter als sie, doch sein ungepflegtes Äußeres ließ ihn mindestens zehn Jahre älter aussehen. Sie überlegte, was sie an ihm so anziehend fand, doch sie konnte es sich beim besten Willen nicht erklären. Seine fettigen Haare waren voller Dreck und Milben, sein Gesicht unrasiert und narbig, seiner rechten Hand fehlten zwei Finger. Er war der Inbegriff einer hässlichen Persönlichkeit.
Dennoch fühlte sich Sophie von ihm angezogen. Sofort erschienen Bilder vor ihren Augen, Bilder in denen sie und der Bettler in irgendeiner Hintergasse miteinander schliefen, nein, nicht miteinander schliefen, es wie die Tiere miteinander trieben. Und es war gut. Es war so richtig guter Sex. Es ging nicht um Liebe, nicht um gegenseitiges Vertrauen, nicht um eine Beziehung, es ging nur um Sex. Voller Belangen schloss sie die Augen und stellte sich genaue schmutzige Einzelheiten vor, die sie und der Bettler miteinander
machten, wie sie sich gegenseitig erhitzten bis zum Höhepunkt ...
Dann schreckte Sophie plötzlich aus ihren Gedanken. Bestürzt hielt sie sich eine Hand vor den Mund. Wie konnte sie es zulassen, auch nur solche Gedanken zu führen? Sie war verheiratet. Sie hatte ein Kind. Sie war bereits neununddreißig Jahre alt, kein Teenager mehr. In diesem Alter durfte man solche intensiven erotischen Phantasien einfach nicht mehr haben ...
Der Bettler versteckte schnell seine rechte Hand. Vielleicht hatte sie ja noch nicht gesehen, dass ihm zwei Finger fehlten. Doch warum tat er das?
Warum wollte er dieser Frau gefallen? Könnte es ihm nicht vollkommen gleichgültig sein, ob sie sah, dass im zwei Finger fehlten? Es war bei einem Kampf mit einer großen Bulldogge passiert, bei einem Kampf um ein mickriges Würstchen bei dem er letztendlich nicht nur das Würstchen verloren hatte, sondern auch besagte zwei Finger der rechten Hand. Die Bulldogge war ungestraft davon gekommen. So war das immer in seinem Leben. Egal, was er tat oder sagte, immer war er der Sündenbock, immer war er an allem Schuld.
Aus diesem Grund hatte er aufgehört, sich für andere Menschen zu interessieren.
Doch diese Frau die er nun seit erst etwa zehn Minuten kannte, erweckte in ihm längst vergessen geglaubte Gefühle. Er betrachtete sie von der Seite wie sie gedankenverloren vor sich hin starrte. Woran dachte sie gerade?
Dachte sie auch an ihn? Er fühlte, dass er es sich wünschte. Was war sie wohl für eine Frau? War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Was war sie von Beruf? Doch dann merkte er, dass ihn das eigentlich gar nicht interessierte.
Das waren alles oberflächliche Dinge, die unwesentlich waren. Wesentlich hingegen war die Trauer, die in ihren Augen gefangen lag, der Hass und das Desinteresse anderen Menschen gegenüber - abgesehen von ihm. Doch vielleicht täuschte er sich ja und sie interessierte sich gar nicht für ihn, sondern saß nur da um ein bisschen über irgendetwas nach zu grübeln. Vielleicht hatte sie lediglich einen schlechten Tag und gehörte zu jenen Menschen die wegen jeder Kleinigkeit gleich so taten als wäre die Welt untergegangen.
Wieder betrachtete er sie von der Seite. Nein, sie war so nicht. Die Wut und die Verzweiflung in ihrem Blick waren tieferen Ursprungs. Sophie sah zu ihm.
Ihre Blicke trafen sich, einige Sekunden lang. Dann sah sie wieder weg. Was hatte dieser Blick zu bedeuten? Warum löste er ein so enormes Kribbeln in ihm aus wie er es schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatte? Er sah weg. Wie konnte er nur plötzlich so schwach sein und zulassen, dass diese fremde Frau Besitz über ihn ergriff? Doch sie war das nicht mehr. Sie war nicht mehr fremd. Es war für ihn, als kannte er sie schon ewig.
Wer sagte, dass man in ihrem Alter keine erotischen Phantasien mehr haben durfte? Wie kam sie auf diese bescheuerte Idee? Wütend über sich selbst schüttelte sie den Kopf. Sie war erst Ende dreißig und noch kein bettlägeriger Greis! Seit Jahren verbat sie sich nun schon alle möglichen Dinge, alleine aus ihrem naiven Glauben heraus, dass sie einfach schon zu alt dafür sei. Sie fühlte sich alt, obwohl sie nicht alt war. Kurz dachte sie an ihre Familie die zuhause auf sie wartete. Wartete... wieso eigentlich warten?
Keiner ihrer Familienmitglieder würde auf sie warten. Sie alle waren viel zu beschäftigt. Ronja, ihre Tochter, war vierzehn und gerade in der Phase, in der sie sich vor ihren Eltern zurückzog und nur mit ihren Freunden zusammen sein wollte. Und Tom ... Tom, ihr Mann wusste schon seit zwei Jahren nicht mehr, was warten bedeutete. Alles, woran Tom dachte, war an Alkohol, an dieses grausame Getränk, das Sophie hasste wie die Pest. Also warum sollte sie auf ihre Familie Rücksicht nehmen, wenn diese nicht auf sie
Rücksicht nahm?
Plötzlich erkannte sie, dass die Frau auf dem Plakat die sie noch zuvor so beneidet hatte, in Wirklichkeit vielleicht überhaupt nicht glücklich war.
Was sagten Reichtum und Besitz schon über einen Menschen aus? Auch sie selbst hatte genug Geld um sich viele materielle Dinge leisten zu können.
Dennoch war sie unglücklich. Denn es war nicht das, was ihr fehlte ...
Sie sah wieder zum Bettler und ihre Blicke trafen sich erneut. Es war ein Band zwischen ihnen, das sie bisher noch bei keinem anderen Menschen gefühlt hatte, ein gegenseitiges Verständnis ohne Fragen. Sie konnte in die Seele des Bettlers sehen, sie wusste wie er sich fühlte, genauso wie sie wusste, dass er wusste wie sie sich fühlte. Es war ein Austauschen, ein Vereinigen ihrer Gefühle zu einem großen Ganzen. Für diesen Moment schenkte Sophie dem Bettler all ihre Trauer, ihre Verzweiflung und Sehnsucht, all ihren
Kummer und ihren Hass und der Bettler schenkte ihr seine Gefühle.
Nun wusste sie, dass sie ihn wollte. Und sie fühlte auch, dass er sie wollte. Das Verlangen lag zwischen ihnen gefangen und sie mussten nichts anderen tun als ihm nachzugeben. Wann war es das letzte Mal gewesen, dass er solche Lust auf eine Frau verspürt hatte? Immer war er in den letzten Jahren der Meinung gewesen, dass er wohl nie wieder Sex haben würde, dass das nun mal sein Schicksal war. Und er hatte gelernt, sich damit abzufinden. Er hatte sich selbst soweit gebracht, dass er sich gar keinen Sex mehr wünschte,
da er sich immer mehr von anderen Menschen unterschieden hatte und sich nicht mit Leuten die anders dachten und fühlten als er vereinigen wollte. Doch nun kam eines Tages plötzlich diese Frau und bot sich ihm ganz eindeutig an. Er musste nur noch zupacken. Warum zögerte er? War es die Angst zu versagen, nach so vielen Jahren das erste Mal? Oder war es aus einem anderen Grund?
Er stand auf und blickte zu Sophie die nun ebenfalls aufstand. Er deutete ihr, ihm zu folgen und setzte sich in Bewegung. Kein einziges Mal sah er sich nach ihr um. Ob sie noch da war, wollte er erst wissen, wenn er am Zielort angelangt war. Sein Zielort war ein verlassener abgelegener Hinterhof den niemand freiwillig mehr aufsuchte außer ein paar abgemagerten Ratten. Genau der richtige Ort für ihr Vorhaben.
Eingereicht am 06. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.