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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Sabine

© Heike Wulf

Ich habe sie gehasst. Nicht so richtig. Vielleicht auch eigentlich gar nicht. Sonst verstanden wir uns ganz gut. So wie wir uns alle gut verstanden, wir Kinder in unserer Straße. Wir spielten Cowboy und Indianer, Heiraten und Scheidung, wobei eine Gruppe von uns immer die beleidigte Verwandtschaft spielen musste. Ich weiß gar nicht, wer darauf gekommen ist, dass immer eine beleidigte Verwandtschaft da sein musste. Auch kannten wir keine Scheidungen. Nicht so, wie die Kinder heute. Bei uns waren Scheidungen noch tabu. Wir hatten alle unsere Väter. Fast. Denn von Sabine und Heidi war der Vater gestorben und die Mutter wohnte mit ihren fünf Töchtern allein in unserer Straße. Die anderen Schwestern waren schon etwas größer, fast schon Erwachsene, bestimmt schon 13 und 15 oder 16 Jahre. Wir hatten alle Mitleid mit den Fünf. Aber noch öfter hänselten wir sie, wegen ihrer alten Klamotten, die alle aufgetragen waren. Vor allem bei den Jüngsten. Sabine und Heidi durften auch nie die Braut sein oder die Prinzessinnen, die von den Indianern entführt wurden. Im Höchstfall durften sie die Brautjungfern sein und immer gehörten sie zur Auswahl der beleidigten Verwandtschaft. Ich war auch nicht oft die Braut. Das waren meist die Tornemanns. Das waren sogar sechs Geschwister. Und sie waren alle stark und gemein. Wehe, wenn man nicht das tat, was die einem sagten. Dann gab es Sänge. Meist, wenn man ihnen allein begegnete, denn die Tornemannsschwestern gingen nie alleine raus. Sie hatten einen kleinen Bruder. Der war aller Tornemannsschwester-Liebling. Und wenn er ein Eis wollte und man kaufte ihm keins, dann erzählte er seinen Schwestern man hätte ihn grundlos geschubst. Den Rest kann man sich ja denken.
Irgendwann wollte ich nicht mehr Prinzessin sein, ich wollte Indianer sein, so wie Winnetou. Das hat keines der Mädchen verstanden. Aber sie hatten nichts dagegen. Nur die Jungs fanden, das ginge entschieden zu weit. Ein Mädchen könne doch kein Indianer sein. Das ginge doch nicht. Ich könnte, wenn ich wollte, eine Squaw sein. Die könnte dann von den Cowboys entführt werden. Also: Prinzessin oder Squaw.
Ich entschied mich dazu, allein zu spielen. Ich wollte nicht verschleppt und entführt und womöglich in irgendeinen Keller gesperrt werden. Auf gar keinen Fall in einen Keller. Ich hatte auch keinen älteren Bruder oder eine Schwester zu Hause, die mir jetzt helfen konnten. Die anderen fanden mich jetzt doof. Noch doofer als Sabine und Heidi. Das hieß schon was. Die älteste der Tornemannschwestern drohte mir: Wenn ich dich alleine sehe, dann gibt es Kloppe.
Ich weiß gar nicht, was sie davon abhielt, mich jetzt schon zu verhauen. Die andern hätten mir doch sowieso nicht geholfen.
So blieb ich zu Hause und schlich mich auf dem Weg zur Schule durch alle Vorgärten, immer mit der Angst, dass sie mich allein fänden. Ich las jetzt sehr viel. Alle Bände von Karl May wollte ich lesen. Ich wollte Indianer sein und gut und gerecht und edel. Dabei hatte ich so eine Wut. Eine Wut auf alles und jeden. Auf meine Eltern, die nie da waren, auf meine Geschwister, die schon groß waren und alle woanders wohnten, auf Opa Heinermann, der mich regelmäßig in seinen Keller zog und mir Schokolade dafür gab, dass ich Sachen bei ihm tat, die ich nicht tun wollte. Auf alle Tornemannschwestern und ihren bescheuerten kleinen Bruder und auf meinen Onkel, der unter uns wohnte und sich aufregte, dass ich Gummitwist im Wohnzimmer spielte.
Ja, aber wo sollte ich denn hin?
So bin ich dann raus. Mutig. Ich hatte gerade in einem Buch gelesen, dass sich Old Shatterhand mutig seinen Gegnern entgegenstellte und keine Angst zeigte. Das würde ich jetzt auch machen. Ich ging hinaus, überquerte den großen Spielplatz vor unseren Häusern und ging zur Straße. Dort entdeckte ich: Sabine. Sie saß allein da und malte mit Straßenkreide große Häuser und Bäume.
"Hallo, Barbara. Hast du Lust mit mir zu spielen?"
Ich freute mich. Gemeinsam gingen wir zurück in die Nähe unseres Hauses und malten in unserer Einfahrt Hinkelmuster auf. Ich lies sie anfangen und setzte mich auf unser Metallgeländer. Dann war ich dran. Dann wieder sie. Sie fing an zu schummeln. Ich hatte ganz genau gesehen, dass sie den Strich übertreten hatte. Aber sie leugnete es. Typisch. Sie war halt eine von den Hillebrandschwestern. Die waren alle so.
Ich war dran und passte auf, dass ich gerecht war. Ich übertrat den Strich und räumte sofort das Feld. Sabine, jetzt in der Gunst aller, ja höher angesetzt als ich, ging fast hoheitsvoll auf das Spielfeld und übertrat gleich beim zweiten Mal. Sie überspielte es. Tat so, als hätte sie nichts gemacht. Ich warnte sie. Sie lachte.
Dann weiß ich nichts mehr. Irgendwann drangen ihre Schreie zu mir. Wahrscheinlich schrie sie schon länger. Ich hatte sie nur nicht gehört. Sie musste wohl auch versucht haben, mir zu entkommen. Denn wir waren ein gutes Stück weiter entfernt von unserer Einfahrt. Sie hatte es nicht geschafft, denn ich saß auf ihr. Hielt ihre Haare in meinen Händen und kam in dem Moment, wo ihr Kopf gen Boden flog, wieder zu mir. Ich hörte ein Knirschen. Es waren ihre Zähne. Ich ließ los. Sprang herunter. Sie blickte kurz zurück. Ich sah in ihr Gesicht: Entsetzen, vermischt mit Blut.
Und ich habe sie gehasst.
Dafür, dass ich da war ...


Eingereicht am 06. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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