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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Zum Teufel mit dem Glauben

©Petra Lehr

Ich stand in der kleinen Kapelle und heulte mir die Augen aus dem Kopf. Mit meinen 4 Jahren konnte ich es einfach nicht begreifen, warum ein Mensch mit Nägeln an ein Kreuz geschlagen worden war. Seitdem erzählte meine Mutter jedem, was ich doch für ein gläubiges und gottesfürchtiges Kind sei.
Als ich dann sechs Jahre alt war, genau an meinem Einschulungstag, wurde ich Zeuge einer mächtigen Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern. Sie hatten schon öfter gestritten, die letzten Wochen, aber heute erreichte das ganze Drama seinen Höhepunkt. Sie schrien sich an, schienen zu vergessen, dass ich mich auch im Wohnzimmer befand. Ich stand da, musste die gegenseitigen Beschuldigungen und Unverschämtheiten mit anhören und betete leise für mich in Gedanken, der liebe Gott solle doch machen, dass das alles aufhörte. Sie sollten sich wieder lieben und normal miteinander sprechen. "Ich halte es mit dir nicht mehr aus, deine Launen, dein Unverständnis, dein Egoismus. Ich bin auch wer und ich kann nicht mehr. So will ich nicht mehr weiter leben, ich werde die Kleine nehmen und dich verlassen", hörte ich meine Mutter sagen. "Wenn du das tust ... - ich knalle euch beide ab, wenn ihr auch nur einen Schritt aus diesem Zimmer geht!" Und mein Vater verließ wutschnaubend den Raum. Augenblicklich herrschte Totenstille. Auch wenn ich erst sechs Jahre alt war, so verstand ich doch ganz genau, was da eben geschehen war. Meine Mutter und ich trauten uns nicht den Raum zu verlassen. Ich war verwirrt, wie sollte es denn nun weitergehen? Mussten meine Mutter und ich den Rest unseres Lebens im Wohnzimmer verbringen? Das alles ging über meinen kleinen Verstand hinaus. Ich schlief auf dem Sofa ein bis mich nachts meine Mutter weckte. Sie lauschte an der Tür. Nichts rührte sich im Haus, alles war still. Sie öffnete langsam die Tür, ging vorsichtig ein paar Schritte in den Flur und hörte meinen Vater schnarchen. Sie schnappte mich an der Hand und wir flüchteten aus dem Haus. Mir liefen die Tränen übers Gesicht, was war nur geschehen, mein lieber Daddy, würde er mir wirklich was antun, wo ich doch immer seine kleine Maus gewesen war? Lieber Gott, wo bist du, kannst du das nicht alles wieder gut machen? Und er tat nichts!
Dies war der Zeitpunkt, wo ich meinen Glauben verlor. Wenn es wirklich hart auf hart kommt, kannst du dir nur selber helfen. Meine Eltern ließen sich scheiden und das Leben alleine mit meiner Mutter, einer allein erziehenden Mutter, war nicht einfach. Um die Miete und unseren Lebensunterhalt bestreiten zu können, ging sie bis spät abends arbeiten. Ich ging die ersten Jahre in einen Tageshort und später war ich ein so genanntes Schlüsselkind. Zu Weihnachten gab es keine Geschenke, weil wir sie uns nicht leisten konnten. So wurde mir auch diese Illusion genommen. Es gibt keinen Weihnachtsmann, sonst hätten trotzdem Geschenke unter unserem spärlichen Baum gelegen. Es gab so viele Monate, wo wir zum 15. kein Geld mehr hatten und den Rest des Monats bei meiner Oma, der Mutter meiner Mutter, verbrachten, damit wir was zu Essen bekamen. Sie rechnete uns immer vor, wie viel wir sie kosten würden. Selbst das Toilettenpapier wäre immer schneller alle, wir sollten doch sparsamer damit umgehen und auch ein Teelöffel Marmelade würde auf dem Brot ausreichen statt zwei, schließlich sei sie nicht das Sozialamt.
Während meine Mutter arbeitete, half ich im Gegenzug meiner Oma. Wenn ich von der Schule nach Hause kam, schleppte ich mit meinen 9 Jahren die Wasserkisten für sie in den 5. Stock. Putzte die Treppe für sie, brachte die Wohnung in Ordnung. Wenn es dann noch nicht zu spät am Abend war, besuchte ich ab und zu meinen Uropa, der nur ein paar Straßen weiter ein kleines Häuschen hatte. Er war mir wirklich der liebste. Immer verständnisvoll und immer ein paar Münzen für mich in der Hosentasche. Bei ihm fühlte ich mich wirklich wohl.
Am nächsten Tag schlenderte ich ein bisschen durch die Stadt und sah mir die Schaufenster an. Plötzlich blieb ein fremder Mann neben mir stehen und sah mich traurig an. "Mein liebes Kind, es tut mir so Leid, aber du wirst einen geliebten Menschen verlieren." Und bevor ich begriff, was er zu mir gesagt hatte, war er auch schon wieder verschwunden.
An einem Samstag machte ich mich wieder auf den Weg zu meinem Uropa. Er reagierte nicht auf das Klopfen an der Tür und ich ging in das Haus. Ich rief ihn, aber er gab keine Antwort. Ich schlenderte durch die Zimmer, immer wieder seinen Namen rufend, aber es kam kein Zeichen von ihm. Ich schaute im Garten nach, auch da war er nicht zu finden und als ich wieder ins Haus kam, sah ich, dass die Kellertür offen stand. Ich stieg langsam die Kellertreppe hinab. Ich hasste diesen dunklen Keller und es richteten sich langsam meine Nackenhaare auf und da sah ich ihn. Reglos lag er auf dem Boden, neben ihm ein riesige Blutlache und sein Gewehr. Er hatte sich einfach in den Kopf geschossen. Ich konnte mich nicht mehr bewegen und starrte ihn an. Plötzlich stand meine Mutter neben mir, sie wollte ihm einen Erdbeerkuchen vorbeibringen, den sie gebacken hatte. Sie zog mich von ihm weg, rief den Notarzt und begann sofort mit der Wiederbelebung. Sie sagte, er wäre noch warm, vielleicht könnte man ihn noch retten. Der Notarzt traf ein, setzte den Elektroschock an. Ich zitterte, konnte es wieder nicht begreifen, dass Gott solche Dinge zuließ. Ein Mensch, den ich zutiefst liebte, lag leblos am Boden. Meine Mutter nahm mich in den Arm und sagte, es würde nur noch ein Wunder helfen, wenn sie ihn noch retten könnten und wir müssten beten, dass dieses Wunder geschehen würde. Ich sträubte mich gegen diese Vorstellung, wieder zu Gott zu beten, für etwas, wo er sowieso nicht helfen könnte, da es ihn gar nicht gab. Aber wenn man wirklich am Ende ist, so greift man nach den kleinsten Strohhalmen und ich fing an zu beten. "Lieber Gott, wenn es dich gibt, so hilf mir - hilf meinem Opa, ich brauche ihn!"
"Kaum zu glauben, wir haben ihn wieder. Schnell, er muss sofort in die Notaufnahme!", rief der Notarzt. Sie packten ihn auf die Trage und fuhren mit Sirenen davon. Mein Uropa überlebte. Er kann seine Beine nicht mehr bewegen und sitzt nun im Rollstuhl. Er erzählte, dass er von der Bank die Nachricht erhalten hatte, dass sie ihm sein Haus pfänden wollten, da er die nötigen Hypotheken nicht mehr aufbringen konnte und er hätte einfach den Glauben in diesem Moment verloren und den Gedanken nicht ertragen, in einem Altersheim seine letzten Tage zu verbringen. Meine Mutter und ich nahmen ihn bei uns zu Hause auf und ich hatte in diesem Moment gelernt, dass man den Glauben nie aufgeben darf, denn es geht immer irgendwie weiter, auch wenn man im Moment das Ziel aus den Augen verloren hat.
Das war mein Schlüsselerlebnis, das Leben wieder positiver zu sehen und dass es Menschen gibt, denen es wesentlich schlechter geht. Auch wenn ich es in meinem kurzen Leben nicht immer einfach hatte, so werde ich dennoch geliebt und lebe, was braucht man mehr? Dieses schlimme Ereignis hat meine Eltern wieder zusammen gebracht. Sie kümmerten sie beide rührend um mich, damit ich diese Tragödie gut verarbeiten konnte und kein Trauma davontrage. Meine Eltern werden wieder heiraten im nächsten Februar und ich bin ihr Trauzeuge.


Eingereicht am 05. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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