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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Engel töten

©Kornelia Jäger

Der Frühstückstisch war gedeckt, der Kakao dampfte und die frische Erdbeermarmelade roch himmlisch. Klara schätze die freien Wochenenden, an denen keine Termine anstanden und sie den Tag ohne Hast in gemütlicher Runde mit ihren beiden Mädels angehen konnte. Gemächlich begab sie sich in Richtung Kinderzimmer um ihre beiden Töchter zu wecken. Sie waren jedoch schon munter und tobten quietschvergnügt vor dem Fenster hin und her. Durch die geschlossenen Jalousien blitzte die morgendliche Wintersonne. In ihren Strahlen ließ sie winzige Staubpartikel durch den Raum tanzen. Die beiden Mädchen hüpften, sprangen und klatschten immer wieder in die Hände. Heftiger und heftiger wurden sie auf der Jagd, diese kleinen, wirbelnden Teilchen zwischen ihren Handflächen zu fangen. Klara lehnte sich entspannt an den Türrahmen und erfreute sich dieses heiteren Anblicks. "Was macht ihr denn da?", wollte sie lächelnd teilhaben.
"Engel töten, Mama! Engel töten!", riefen die Mädchen wie aus einem Mund .
Engel töten? Klaras Lächeln erstarrte. Tränen stiegen in ihr auf und plötzlich trugen sie ihre Gedanken weit zurück. Zurück an den Ort ihrer Glückseligkeit.
Endlich stoppte der Wagen. Der achtjährigen Klara kam die Anreise zu ihrem Großvater immer wie eine Ewigkeit vor. Seit sie zur Schule ging beschränkten sich die Übernachtungsbesuche bei Ihrem geliebten Opa ausschließlich auf die Ferien. So fieberte sie schon tagelang vorher dem freudigen Ereignis entgegen. Sie konnte es kaum erwarten, die fast maroden Steinstufen des kleinen Häuschens am Ende der Allee hinaufzustürzen, direkt in seine Arme. Über die Jahre hatte sich das Regenwasser seinen Weg durch die porösen Kupferdachrinnen gesucht und Landkarten aus Grünspan entlang der verwitterten Rauputzfassade gemalt. Das Holz hatte seine Maserung unter blätterndem, weißem Lack freigegeben und selbst die schwere Haustür öffnete sich nur noch unter einem lauten Seufzer. Klara war all das gleichgültig, denn für sie stand fest, hinter dieser Tür lag das Gefilde der Seeligen.
In den folgenden zwei Wochen genoss das Mädchen jeden Tag in vollen Zügen. Laufend gab es für sie etwas Neues zu entdecken, mit den Tieren zu erleben oder mit Großvater zu besprechen. Von ihm hatte sie schon sehr viel gelernt und war immer besonders stolz, wenn Opa sie seine große Hilfe nannte. Für Klara war es ein reines Vergnügen ihm zur Hand zu gehen, beim Ställe ausmisten, Obst ernten oder wenn sie völlig selbstständig die weit verstreut gelegten Eier der Hühner einzusammeln durfte. Die Mahlzeiten bereiteten die beiden dann gemeinsam in der wohnlichen Küche vor. Zum Essen gingen Klara und ihr Opa jedoch hinaus auf den Hof. Der lag gleich hinter der kleinen Waschküche. Hier speisten sie gemeinsam im Schatten des alten Birnbaums, der kaum noch Früchte trug. Klaras Blicke wanderten dann häufig zum Ende der Pflastersteine. Dort stand ein Maschenzaun gesäumt von Beerensträuchern, die stetig dazu einluden, von ihnen zu naschen. Gleich dahinter scharrten die Hühner und der freche Hahn. Nur Opa konnte ihn zur Räson bringen, unter lautem Gezeter der zahmen Krähe, welche ihn meistens auf seiner Schulter begleitete.
Dutzende Kaninchen tummelten sich auf den weitläufigen Wiesen bis hin zu dem Wäldchen mit dem kleinen Weiher. Keines wagte sich weiter vor, auch Klara nicht. Dieses alleinige Verbot galt! Einzig aus der Sorge ihres Großvaters heraus, ahnend der lauernden Gefahr des Wassers. Frei bewegten sich hier Mensch und Tier in Einklang mit friedlicher Natur. Kurz vor Sonnenuntergang kehrten dann alle wieder Heim in sichere Unterkünfte, zum Schutz vor der Nacht.
Klara lag zufrieden neben ihrem gütigen Großvater im kuscheligen Federbett und lauschte dem Quaken der Frösche des nahen Weihers. Der Tag flimmerte noch einmal an ihr vorüber, genauso wie die vielen kleinen, bunten Pünktchen. Sie verfolgte sie mit ihren müden Augen, bis sie sich wieder im Dunkel verloren.
"Opa", fragte sie wissbegierig", was sind das denn für kleine, bunte Pünktchen, die hier überall durch den Raum schweben?"
"Es sind deine Schutzengel, mein Kind. Tausende eifrige Engel, die für immer über dich wachen werden", flüsterte er bedeutsam.
Mit einem Gefühl von unendlicher Geborgenheit schlief Klara zufrieden ein.
Noch immer lehnte Klara im Türrahmen und starrte gedankenversunken auf ihre Töchter, die sich beharrlich laut lachend mit "Engel töten" vergnügten. Sehr oft hatte sie ihren Kindern von ihren Kindheitserinnerungen erzählt. Von den schwebenden Pünktchen und den Schutzengeln und nun dieses makabere Spiel. Doch seltsam, mit einem Mal wurde es ihr klar und sie musste wieder lächeln. Wie lange es auch in einem Menschenleben zurückliegen mag, es gibt immer Gerüche, einen Geschmack oder Eindrücke, die Gefühle und Erinnerungen wecken. Für einen jeden Einzelnen, einmalig und prägend. Man kann aber keine Erinnerungen weitergeben, die man nicht zusammen erlebt hat und keine Gefühle weitergeben, die man nicht zusammen gefühlt hat. Ihre Kinder und sie hatten bestimmt schon vieles zusammen erlebt und mit Sicherheit noch mehr zusammen gefühlt, aber eben nicht ihre Schutzengel!


Eingereicht am 04. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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