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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Gehör

©Ralf Seybold

Eine neue Arbeitswoche beginnt und ich frage mich, wer mir überhaupt noch zuhört. Die Kinder am Wochenende offensichtlich nicht. Also wo kann ich mich noch ausheulen? Bei Freund oder Freundin gelte ich doch gleich als Schlappschwanz, wenn ich das Leben oder seine Inhalte kritisiere. Mama? Nein! Wer will schon als Muttersöhnchen gelten? Bei der Telefonseelsorge sitzen kompetente Personen, geschult, um mir zuzuhören. Besetzt. Mist.
Gott sei Dank bin ich nicht selbstmordgefährdet, sonst bliebe nur noch der Sprung. Aber dabei könnte ich mich verletzen.
OK, dann auf zum Arzt.
Kaum habe ich die Arztpraxis betreten, verlangt die nette Dame am Empfang zehn Euro Begrüßungsgeld von mir.
"Kann ich mich denn nicht bei Ihnen ausheulen?"
"Doch", sagt das nette Mädchen, "aber nicht ohne die zehn Euro zu bezahlen."
Auf meinen Hinweis hin, ich könnte doch im Wartezimmer ein wenig schluchzen, weist sie mir freundlich aber bestimmt die Tür. Ich verlasse die Arztpraxis unter leichtem Wimmern und gehe zum Friseur nebenan.
"Guten Tag, was kann ich für Sie tun?"
Eine wilde Kaktee spricht mich an Ich identifiziere sie als Friseurin mit gestylten, bunten Haaren, bauchfreiem Top, und halb herabgelassenen Hosen.
"Kann man sich bei Ihnen ausheulen?", frage ich charmant.
"Nein, aber Sie bekommen einen Haarschnitt."
Ich brauche einen Gesprächspartner, keine neue Frisur.
"Haarschnitt? Brauche ich nicht", sage ich bestimmt. "Mir ist doch zum Heulen. Kann man denn da nichts tun, buhuhu?"
Ich bin den Tränen nahe.
"Naja", sagt sie, "das kostet halt 41 Euro bei Damen und ab 31 Euro bei Herren."
Offensichtlich hat sich seit der Einführung des Euro auch der Preis für ein Gehör verteuert.
"Wieso kosten denn Damen mehr? Heulen die mehr?"
"Nein, aber länger!", antwortet die wilde Gartenschönheit. Ach so, jetzt weiß ich das. Ich verabschiede mich von ihr, denn das ist mir zu teuer. Da bin ich beim Arzt besser und billiger aufgehoben.
Wo kann man sich ausheulen, ohne das halbe Monatsgehalt los zu werden? Ich denke angestrengt nach, als mir die Lösung einfällt. Für sechs Euro mache ich eine kleine Taxifahrt. Mit beschwingten Worten steige ich ein.
"Hallo, fahren Sie mich für sechs Euro um den Block und ich heul' mich bei Ihnen aus!"
Plötzlich fängt der nette Taxifahrer an zu jammern.
"Och, wenn es den Leuten schlecht geht, dann geht es uns noch viel schlechter. Überhaupt die Regierung und sowieso der Euro und dann noch ganz genau …"
Schnell springe ich heraus, zermürbter als zuvor. Niemand will mir zuhören. Bleibt mir denn wirklich nur noch die Parkuhr? Gibt es kein menschliches Wesen, das mir helfen will?
Mit traurigen Schritten besuche ich die "Blaue Lagune" am Bahnhof. Dort ist bereits früh morgens geöffnet. Ich betrete den dunklen Schuppen und begebe mich an den Plüschsofas vorbei direkt zum Tresen. Bei der Bardame bestelle ich ein kleines Pils. Wenige Minuten später genieße ich den ersten Schluck. Der drallen Schönheit mit der dicken Schminkschicht erzähle ich von meiner Irrfahrt und meinem Problem.
"Süßer, bei mir bist du richtig."
Sie schmeißt sich an mich.
"Solange du trinkst, höre ich dir zu."
Um 11:00 Uhr bin ich sturzbetrunken, aber glücklich. Offensichtlich hört niemand mehr unentgeltlich zu.


Eingereicht am 04. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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