Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Der Schlüssel zur Wahrheit

©Katja Hennig

Vieles war vergessen. Sie konnte sich manchmal kaum an ihren eigenen Namen erinnern. Und doch war es die ganze Zeit da, dieses Wissen um etwas Wichtiges. Fast greifbar. Aber eben nur fast.
Sie lebte wie immer. Morgens aufstehen, Zähne putzen, Duschen, Anziehen und mit dem Siebenuhrbus zur Arbeit fahren. Acht Stunden lang einen Auftrag nach dem anderen erledigen und gelegentlich mit den Kollegen ein kleines Schwätzchen halten. Noch schnell einkaufen. Endlich zu Hause die Schuhe in die Ecke schleudern und erst einmal eine Tasse Kaffe machen. Gewohnheitsgemäß den Anrufbeantworter abhören, wissend dass doch niemand eine Nachricht hinterlassen hat. Die eben gekaufte Pizza in den Backofen schieben und in der Zwischenzeit umziehen. Fernseher anschalten und die Pizza hinunterschlingen ohne zu spüren nach was sie überhaupt schmeckt. Das war's, jetzt noch auf dem Sofa in die Decke kuscheln und bei laufendem Fernseher wegdösen.
Und schon war es wieder da.
Derselbe Traum wie in jeder Nacht der vergangenen drei Monate.
Sie freute sich schon während des Einschlafens auf das Wiedersehen und hatte doch Angst davor wieder keine Antwort zu erhalten.
Langsam ging die Sonne voll und hell in ihrem Traum auf. Die ganze Familie wanderte zum See. Ihre Mutter hielt sie wie immer an der Hand und erzählte ihr von den wundersamen Dingen der Natur "Schau, dort sitzt ein Zaunkönig. Und da blüht ein Veilchen" Mit großen Augen betrachtete sie alles was ihre Mutter beschrieb. Es war alles so schön und leicht. Es gab keine Probleme. Kein Schmerz drang in ihr Bewusstsein. Nur die kindliche Freude des Seins war zu spüren.
Am See angekommen spielte sie im weichen Sand. Sie malte mit den Fingern Bilder ihrer Zukunft. Bilder vom Prinzen, den sie heiraten würde. Und von den vielen Kindern, die sie mit ihm haben würde. Sie malte das Schloss, das sie gemeinsam bauen werden und auch von den wunderschönen Kleidern, die sie jeden Abend, wenn im großen Ballsaal getanzt wird, tragen würde. Plötzlich verdunkelt sich der Himmel und Wind kommt auf. Blitze scheinen grell leuchtend direkt auf sie zuzukommen. Sie sucht nach der schützenden Hand ihrer Mutter, doch da ist niemand. Nur ein großer schwarzer Schlüssel wird ihr aus dem Dunkel des Nichts entgegengehalten. Sie greift danach. Unbedingt will sie ihn haben. Doch er ist zu schwer und fällt in den See. Enttäuscht weinend wacht sie auf. Wieder bekam sie keine Antwort.
Langsam schleppt sie sich ins Bad. Aus dem Spiegel schaut sie ein fremdes Gesicht an. Wie jeden Abend. Aber etwas war dieses Mal anders.
Sie erinnerte sich. Eben hatte sie geträumt und heute wusste sie um den Traum. Es schien als könne sie noch den Duft der gewittererfüllten Luft am See wahrnehmen. Sie sah vor ihrem inneren Auge immer noch den Schlüssel im See versinken. Da klingelt plötzlich das Telefon und sie Zuckt zusammen als hätte sie jemand geschlagen.
Mit zitternder Hand hebt sie den Hörer ab und lauscht der herben männlichen Stimme. "Hallo Frau Richter, sind Sie am Apparat? Hallo?"
Sie schafft es kaum zu antworten "Ja, ich bin Regine Richter. Wer sind Sie? Was wollen Sie?"
"Frau Richter, bitte verzeihen Sie die Störung. Mein Name ist Jörg Reimann. Wir sind uns auf der Beerdigung ihrer Mutter begegnet. Ich muss Sie dringend sprechen"
Beerdigung, dachte sie. Was für eine Beerdigung? Aber eine innere Kraft hielt sie davon ab dies laut auszusprechen "Um was geht es Herr Reimann? Ich habe eigentlich keine Zeit"
"Bitte Frau Richter, ich kann Ihnen das nicht am Telefon erzählen. Wir müssen uns unbedingt treffen. Erlauben Sie mir Sie zum Abendessen ins Restaurant zur Linde einzuladen. Dann erzähle ich Ihnen alles. Bitte Frau Richter es ist wirklich wichtig, vertrauen Sie mir" bevor sie dazu kam sich eine Ausrede einfallen zu lassen sagte er schnell "Ich hole Sie in einer dreiviertel Stunde ab, der Tisch ist schon reserviert. Bis nachher" und legte unvermittelt auf.
Sie stand noch eine Weile mit dem Hörer in der Hand im Flur und konnte sich nicht entscheiden, ob sie wütend sein sollte oder nicht.
Da war es wieder, der Bruchteil eines Gedankens. Dieses Wissen, das die ganze Zeit da ist und doch nicht greifbar wird. Ohne nachzudenken geht sie ins Schlafzimmer und greift in den Kleiderschrank. Sie nimmt nicht wahr, dass sie das erste Mal seit Jahren ein Kleid anzieht und nicht eine ihrer ausgebeulten Jeans. Dazu die hochhackigen Pumps und den Umhang, den sie noch nie getragen hat, obwohl er ihr so gut gefiel. Sie geht wie von Geisterhand gelenkt ins Bad und kramt aus der hintersten Ecke des Spiegelschrankes ihre spärlichen Schminkutensilien hervor. Ein wenig Rouge auf die Wangen und leichte Betonung der Augen mit Mascara und Kayalstift lassen sie im Nu um Jahre jünger erscheinen. Doch auch das nimmt sie nicht wahr.
Es klingelt an der Tür. Sie öffnet. Sie fühlt ihre Knie zittern. Sie kennt diesen Mann. Er war dabei. Er war mit am See. War es nicht seine Hand, die ihr den Schlüssel entgegengehalten hatte? War es nicht sein Bild, das sie in den Sand malte.
Jetzt war alles wieder da. Die Beerdigung ihrer Mutter. Der Schmerz und die Trauer. Das Verdrängen der Wahrheit.
Sie hatte sich drei Monate lang selbst belogen, nur um sich nicht zugeben zu müssen dass zu viel unausgesprochen blieb, was hätte gesagt werden sollen.


Eingereicht am 04. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Weihnachtsgedichte «««
»»» Weihnachtsgedichte «««
»»» Weihnachtsgedichte «««
»»» HOME PAGE «««