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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Vernetzt
© Nora Dubach
Ich sitze im Zug nach Zürich-Flughafen, schaue aus dem Fenster, geniesse die Sicht auf See und Berge. Die noch herrlichen Farben des Herbstes lösen in mir gute Gefühle aus, entspannt lehne ich mich zurück.
Zwei Stationen später stürmt eine langhaarige, aparte junge Frau in das Abteil den Finger schon auf dem Handy. Sekunden später lässt sie sich und ihren Rucksack auf den gegenüberliegenden Sitzplatz fallen, das Handy an ihrem Ohr. Ungebremstes Temperament, ein Privileg der Jugend, sinniere ich. Ein angeregtes Gespräch ist in vollem Gange. Diese junge Frau könnte eine Schülerin oder Studentin sein. Sie plaudert über Uni, Hörsaal, Professoren, Büffeln und durchfeierte Disconächte. Sie nimmt die Schneidersitzhaltung
ein, öffnet mit der linken Hand den Rucksack, in der Rechten noch immer das Handy. Eine riesige Tupperwareschüssel kommt zum Vorschein mit knallblauem Deckel. Ich weiss nicht woher, aber plötzlich liegt eine Metallgabel mit grossen spitzen Zinken in ihrer Hand. Mein Gegenüber redet und redet pausenlos, dabei versucht sie mit den Zähnen den Deckel zu lösen.
Wie eine Akrobatin platziert sie gekonnt das Plastikgefäss auf ihre Knie als wäre es ein Tisch. In gebückter Haltung, immer noch das Handy am Ohr, schaufelt sie gierig den Salat in ihren Mund, die Salatsauce tropft auf ihre hell-blaue Jeans. Amüsiert aber etwas ratlos bewegen sich meine Augen zwischen Mund, Gabel und Handy, auf unmittelbarer Augenhöhe bekomme ich alles hautnah mit. Ohne Notiz von mir zu nehmen redet und isst sie ohne Unterbrechung. Ich frage mich, ob die Person am andern Handy überhaupt etwas
versteht. Der Satz meiner Mutter fällt mir ein: sprich immer deutlich und nie mit vollem Mund. So scheint es aber auch zu funktionieren unter der jungen Generation. Kurz vor der Haltestelle Hauptbahnhof lässt die Nimmermüde wie ein Zauberkünstler ihre Essutensilien blitzschnell mit der handyfreien Hand im Rucksack verschwinden, löst sich aus dem Schneidersitz und verlässt plappernd den Zug. Ich muss erst einmal tief Luft holen, bevor meine Augen weiterwandern. Sie fixieren ein Paar, so um die zwanzig, beide halten
ein Handy in ihrer Hand. Durch ihre gleichen goldenen Ringe könnten sie freundschaftlich verbunden sein, mit dem Handy sind sie es ja bereits. Sollten sie verheiratet sein, sind sie es auch mit dem Herzen? Wenn ja, gaben sie sich das Jawort per SMS. Ihre Blicke sind wie gebannt auf ihr Handy geheftet, wechseln kein Wort miteinander. Sprachlosigkeit bekommt eine völlig neue Bedeutung für mich. Ich schaue auf die andere Seite. Eine elegant gekleidete Frau schaut extrem nervös in ihre Handtasche, das weckt meine
Neugierde. Wieder und wieder schaut sie hinein, was mag da wohl so Wichtiges verborgen sein? Diese Frau hebt und senkt ihren Kopf mit gleichmässigen Bewegungen wie ein Huhn das langsam Korn für Korn aufpickt. Ich schaue schmunzelnd aus dem Fenster. Ihre Angespanntheit ist jetzt auf dem Höhepunkt, denn ganz entschlossen greift sie in ihre Handtasche, zum Vorschein kommt ein Handy. Verzweifelt wartet sie auf eine Message, aber die kommt nicht. Vielleicht ist sie bereits eine Sklavin der Technologie. Während ich
über das Handy und seine Folgen nachdenke ertönt zuerst von den hinteren Sitzplätzen, allmählich auch von weiter vorne das nervige Geräusch der Handys. "Alles Süchtige", murmel ich. Langsam drehe ich meinen Kopf und bemerke mit Schrecken, dass ausser mir alle Fahrgäste ein Handy in der Hand halten. Ich scheine im falschen Zug zu Sein .Dieses Gepiepse und Stimmengewirr macht mich aggressiv. Aber den Fortschritt kann ich nicht aufhalten.
Was passiert denn da in der dritten Reihe, wer hat dort Platz genommen? Da sitzt ein seltsames Wesen, kein Gesicht zu erkennen, eine sonnenähnliche Scheibe, in der Mitte eine Riesensteckdose mit Akku. Links und Rechts wachsen aus dieser kopfähnlichen Form in Zeitlupe überdimensionale grosse Ohren aus purem Gold. Diese Gestalt hebt die Schultern nach leicht oben, langsam wachsen acht Arme aus dem Körper, die Handys sind bereits angewachsen in futuristischen Formen und knallbunten Farben. Ich starre und staune.
Ist eine neue Gottheit auf unserem Planeten? Eine Stimme ertönt: I am God Handy forever. Ein Schaudern überkommt mich. Grell und laut bohren sich die Anruftöne in mein Ohr, jeder hat einen anderen Erkennungssound als Ehrerbietung. Mir wird schwindlig. Ich sehne mich nach dem Fahrgast, der mit mir ein paar freundliche Worte wechselnd. Konversation geht nur noch über das Handy. Diese Gottheit verkündet: Habt Tag und Nacht geöffnet Mund und Ohren, ohne sie wäre das Handy verloren. Seid vernetzt und nicht gehetzt.
Nach längerem Zögern werde ich milde. Etwas Positives muss ich doch dem Handy abgewinnen können. Gebe ihm einen Bonus. Nach kurzem Überdenken komme ich zu dem Schluss, dass es doch eine nützliche Investition sein könnte zum Beispiel: Für wichtige Dates, Notfall und Unfallsituationen, verschobene Sitzungen, kurzfristige Absagen, schnell verschickte Glückwünsche, Verliebte die per SMS die erste heisse Spur legen. Man könnte es sogar therapeutisch gegen Ehemüdigkeit einsetzen. Jeder Partner nimmt ein Handy, durchstreift
Keller, Estrich, Haus und Garten, erforscht seinen Wohnort, läuft in verschiedene Richtungen. Diese Partner beschreiben per Handy ihre Empfindungen, Gefühle, teilen das Gesehene aus der Sicht eines imaginären Ferienortes mit. Einer ist am Meer, der Andere in den Alpen, beschreiben Hotel, andere Kulturen, Menschen. Sie fühlen sich plötzlich einsam, möchten gemeinsam Schönes erleben. Voller Überzeugung greifen zum Handy, schreiben sich Worte die sie schon vergessen hatten .Versuchen wir es erneut, denn wir lieben
uns, brauchen einander.
Fast hätte ich vergessen auszusteigen. Auch ich werde mir bald ein Handy zulegen, um in und mit dieser Welt zu sein.
Eingereicht am 03. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.