Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Rückkehr ins Leben

© Annett Szameitat

Ein gellender Schrei durchdringt den sonnigen Oktobernachmittag. "Hilfe, Hilfe, das Kind!" Eine ältere Frau zeigt heftig gestikulierend auf den kleinen Körper, der in Panik wild um sich schlägt. Nur mit äußerster Mühe kann der kleine Junge den blonden Schopf noch über Wasser halten und droht augenblicklich in den Fluten der Elbe zu versinken. Voll Entsetzen blicken die eben noch vorbeieilenden Passanten über die Brüstung ins Wasser. Auch Klaus Weber, der auf einer Bank gedankenverloren vor sich hin starrt, läuft zum Ort des Geschehens. Das aschfahle Gesicht des Mittvierzigers, es wird augenblicklich noch etwas grauer, die steile Falte zwischen den Augenbrauen noch etwas tiefer. Aus seinem Mund dringt ein unterdrückter Schrei. "Nein, nicht noch einmal sollte ein Kind sterben!" Beherzt wirft er Schuhe und Jacke von sich, springt in die schon kalten Fluten. Ihm verschlägt es fast den Atem. Mit Mühe packt er den kleinen Jungen. Passanten beugen sich hinab, übernehmen das erschöpfte Kind. Eine weitere helfende Hand zieht ihn dann selbst an Land - und augenblicklich ist Klaus Weber nur noch Teil einer aufgeregten Menschentraube, die sich erst beruhigt als der Notarzt eintrifft. Dann plötzlich ruft jemand: "Wer hat den Jungen gerettet, wo ist der Held?" Klaus Weber aber sitzt längst in seinem Polo, der auf dem fast leeren Parkplatz steht. Heldenhaft fühlt er sich nicht. Jedoch durchströmt ein warmes Gefühl seinen Körper und lässt ihn die nassen, kalten Kleider fast vergessen. Klaus Weber ist glücklich. Er hatte ein Kind vor dem Tod bewahrt. Wie alt mochte der Junge gewesen sein? So alt wie der kleine Dennis damals? Seine Gedanken gehen um Jahre zurück. Wie ein Film läuft er vor ihm ab, dieser verhängnisvolle Tag, an dem plötzlich alles anders wurde.
Es war ein nasskalter, trüber Novembermorgen. Der vergangene Abend steckte Klaus Weber noch in den müden Gliedern. Recht feucht-fröhlich war es zugegangen auf der Geburtstagsfeier, die später als geplant zu Ende ging. Er schüttete eine Tasse Kaffee herunter, eine Aspirin sollte gegen die Kopfschmerzen helfen. "Nimm lieber den Bus", rief ihm seine Frau noch zu, bevor sie zur Arbeit ging. Doch der nächste fuhr erst wieder in 30 Minuten. Zu spät, um noch pünktlich zum Unterricht zu kommen. Fröstelnd stieg Klaus Weber ins Auto. Der feine Nieselregen tauchte die Straße in ein diffuses Licht. Er hatte Mühe sich auf den Verkehr zu konzentrieren, zumal die Kopfschmerzen nicht nachlassen wollten. "Im Bus wäre ich wirklich besser aufgehoben", dachte Klaus Weber noch. Dann tauchte er plötzlich vor ihm auf, mitten auf dem Fußgängerüberweg, der Junge in der gelben Kapuzenjacke. Ein Schrei, ein dumpfer Knall. Der kleine Köper flog über die Motorhaube und blieb regungslos auf der Straße liegen. Wie von Sinnen stürzte Klaus Weber aus dem Auto. Am Kopf des Jungen klaffte eine große Wunde. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, riss er schreiend den Sanikasten aus dem Kofferraum und versuchte verzweifelt das Blut zu stillen. Ein nachfolgendes Auto konnte gerade noch bremsen. Der Fahrer sicherte die Unfallstelle und kam Klaus Weber zu Hilfe, der in Panik vor dem Kind kniete. Doch es war bereits zu spät. Der herbeigerufene Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen. Verzweifelt brach Klaus Weber zusammen. - Drei Jahre wegen fahrlässiger Tötung und Alkohol am Steuer lautete das Urteil des Staatsanwalts. Dieses nahm Klaus Weber fast teilnahmslos entgegen. Ihm war der Boden unter den Füßen weggezogen, wie sollte er mit dieser Schuld leben? Die Zeit im Gefängnis war hart. Albträume raubten ihn den Schlaf. Das Bild des toten Jungen, es hatte sich eingebrannt in seine Seele, die Schuld, sie verfolgte ihn Tag und Nacht. Nie würde er die Augen der Mutter im Gerichtssaal vergessen. Die Frage nach dem "Warum", zermarterte ihm das Hirn, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Verwandte und Freunde hatten sich nach und nach von ihm abgewandt. Nur seine Frau hielt noch zu ihm. Regelmäßig kam sie ins Gefängnis und holte nach drei Jahren einen ergrauten depressiven Mann nach Hause. Klaus Weber hatte seine Schuld gesühnt, rein rechtlich. Doch zurück zum Leben fand er nicht. Seinen heiß geliebten Lehrerberuf konnte er nicht mehr ausüben. Von Schuldgefühlen geplagt, saß er oft tagelang teilnahmslos zu Hause. Klaus Weber hatte jeglichen Lebensmut verloren. Und eines Tages fand ihn dann seine Frau, als sie von der Arbeit kam, gerade noch rechtzeitig - mit einer Überdosis Schlaftabletten ...
Plötzlich klopft jemand an die Scheibe. Klaus Weber öffnet die Augen. Ein freundlicher älterer Mann fragt, ob er denn Hilfe brauche. Er verneint lächelnd. Es ist ein zaghaftes, vorsichtiges Lächeln. Doch Klaus Weber fühlt, das Leben, es hatte ihn wieder. In den nächsten Tagen stand in der Zeitung ein Aufruf der Eltern an den "Lebensretter", er möge sich doch melden. Doch Klaus Weber, er brauchte keinen Dank. Ganz allein wollte er sich freuen, nur für sich. Er hatte nicht nur den kleinen Jungen gerettet, sondern auch sich selbst ein zweites Leben geschenkt. "Mit dieser Schuld müssen Sie nun leben" waren die Schlussworte des Richters. Klaus Weber weiß, vergessen wird er den Tag niemals, aber leben, das kann er jetzt, auch mit dieser Schuld.


Eingereicht am 03. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Weihnachtsgedichte «««
»»» Weihnachtsgedichte «««
»»» Weihnachtsgedichte «««
»»» HOME PAGE «««