Lars Klement. 1,80 m groß, schwarze Haare, glatt, nach hinten gekämmt, große leicht hervorstehende Augen, braun. Die eine Schulter etwas höher als die andere. Mein bester Referendar. Er findet stets die richtige Anspruchsgrundlage. Er weiß noch weiter, wenn die anderen schon nach unten blicken und sich in ihrem Schönfelder festsaugen, um bloß nicht von mir gefragt zu werden. Ich sehe, wie die Referendarinnen bewundernd an seinen Lippen hängen, wenn er einen seiner exzellenten Aktenvorträge hält. Neulich trat er während einer Klausur mal kurz aus, den Füllfederhalter wie eine Zigarre im Mund, unendlich lässig und selbstsicher, während die anderen schwitzten und ich die Fenster weit öffnen musste, um richtig durchatmen zu können. So einen wie Klement wünschte ich mir später als Sohn.

Wir radelten an der Weser entlang. Unser Referendarsausflug kurz vor den Klausuren zum zweiten Staatsexamen. Meine Referendare sollten noch einmal Spaß haben. "Woher Gerald Wunder wohl schon so braun ist? Sieht ja wirklich gut aus", schnappte ich beim Überholen das Gespräch von Frau Christiane Köhler und Frau Bettina Zimmer auf. Gerald Wunder? Wo war er denn? Ach ja, da ziemlich weit vorne machte ich ihn aus und sah auf seinen athletischen Rücken. Die Ärmel seines karierten Hemdes hatte er aufgekrempelt. Er hatte starke, sehnige Arme. Von weiter hinten hörte ich ein schlappes Rufen: "Herr Winter, Herr Winter. Haaalt! Wir können nicht mehr. Kleine Pause!" Frau Meißner war mit ihrer Ausdauer am Ende. Neben ihr radelte Lars Klement, er sah abgekämpft aus. Also hielten wir an.

"Meine Güte habe ich einen Brand", äußerte jemand.

"Ich spendiere Bier für alle" hörte ich mich sagen. "Es müsste nur von jemandem besorgt werden".

"Das hole ich" bot sich Herr Wunder an. "Ich habe eben eine Tankstelle bemerkt, so circa vor zwei Kilometern. Bin gleich wieder da."

Und wirklich dauerte es nicht lange, da verteilte Herr Wunder an jeden eine Dose gekühltes Bier. Herr Klement fiel durch sein lautes Jammern auf, wenn er wieder von einem Insektenschwarm attackiert wurde. Die Viecher schienen es auf ihn abgesehen zu haben. Vielleicht lag es an seinem Schweiß. Er hatte riesige Plakate unter den Achseln und am Rücken. Herr Wunder verteilte derweil die zweite Runde Dosenbier. Rechts von mir, Frau Köhler, zog ihr T-Shirt und ihre Bermuda-Shorts aus. So auch Frau Zimmer und Frau Weiß. Weitere folgten. So konnte ich schon einmal die neue Bikinimode für die aktuelle Saison studieren. Ach, das Leben hatte doch manchmal mehr zu bieten als Paragraphen! Einige sprangen sogar zum Erfrischen in den Fluss. Ich beobachtete die jungen Leute und beneidete sie um ihre Ausgelassenheit. Frau Zimmer ruderte mit den Armen im Wasser. Winkte sie jemandem zu? Nein, es war ein Winken um Hilfe.

Ich sprang auf und rief: "Jemand muss Frau Zimmer helfen."

Herr Wunder war nach ein paar kräftigen Schwimmzügen bei ihr und zog sie an Land. Sie lag dort wie leblos. Während ich mein Handy aus der Brusttasche meines Hemdes zog und einen Krankenwagen rief, leistete Herr Wunder die Notversorgung. Das sah sehr fachmännisch aus. Als wir das Martinshorn immer lauter werden hörten, spie Frau Zimmer einen Wasserschwall aus und kam wieder zu sich. Sie wurde ins Krankenhaus gefahren. Der Notarzt hatte uns versichert, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen. Er lobte die gute Erstversorgung. Herr Wunder war der Held dieses Ausflugs.

Wie wenig ich meine Referendare doch eigentlich kannte. Gerald Wunder war mir bisher nur recht negativ aufgefallen durch sein häufiges Zuspätkommen. Außerdem wirkte er immer nervös, besonders wenn ich Klausuren schreiben ließ. Er kam mit der Zeiteinteilung nicht zurecht. Auf den letzten Seiten seiner Klausuren war seine Handschrift eine Zumutung. Seine Leistungen waren eher schwach. Es wirkte widersprüchlich, wenn dieser große, athletische, junge Mann vor Aufregung so schnell sprach, dass man ihn kaum verstehen konnte. Seine Antworten klangen stets wie kleinlaute Fragen nach dem Motto: Ist es so richtig?

Nach unserem Ausflug war ich mir nicht mehr sicher, ob ich immer noch einen Sohn wie meinen Lieblings-Referendar Lars Klement haben wollte. Vielleicht doch eher einen wie Gerald Wunder.