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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüsselerlebnis

©Sandra Pucker

Im gesamten Großraumbüro herrschte hektische Betriebsamkeit. Telefone klingelten, Faxgeräte piepten, Drucker ratterten. Quer durch das Büro riefen die Mitarbeiter sich etwas zu ohne Rücksicht zu nehmen. Es war eine unglaubliche Geräuschkulisse, in der ein vernünftiges Arbeiten eigentlich nicht möglich war. Selbst wenn man daran gewöhnt war, es war anstrengend.
Mitten in dem ganzen Trubel saß Laura. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich die Akten. Die Eingangspost des heutigen Tages lag säuberlich sortiert auf einem kleinen Haufen. In einem Kasten lagen Papiere zum Abheften. An der Pinnwand hing ein Notizzettel mit all den Dingen, die sie heute erledigen wollte. Sie brauchte ein gewisses Maß an Ordnung, auch wenn in ihrer Umgebung das Chaos tobte. So hielt sie es auch mit ihrem Leben. Sie tat normalerweise nichts ohne erst gründlich das Für und Wider abgewogen zu haben. Spontaneität war ihr ein Fremdwort. Sie warf einen Blick auf die Uhr, dann stand sie auf und trat ans Fenster. Draußen war das genaue Gegenteil vom Büro. Sie blickte auf einen kleinen Park. Das Grün der Blätter leuchtete förmlich und die verschlungenen Wege luden zum spazieren gehen ein. Bei einem Blick aus dem Fenster konnte man fast schon wieder Energie tanken.
Doch das war nicht der Grund weswegen Laura ans Fenster getreten war. Pünktlich auf die Minute kam er vorbei. Groß, kurze dunkelblonde Haare, sportliche Figur, markante Gesichtszüge - kurz gesagt, der Mann, den Laura schon seit einer halben Ewigkeit anhimmelte. Und obwohl nur eine kurze Treppe zwischen ihnen lag, war sie noch nicht in der Lage gewesen, zu ihm herunter zu kommen und ihn anzusprechen. Er warf jedes Mal im Vorbeigehen scheinbar zufällig einen Blick zu ihrem Fenster hoch. Viele Frauen hätten sich angesprochen gefühlt, hätten geflirtet oder wer-weiß-was getan. Nicht jedoch Laura. Wer weiß, vielleicht meinte er ja gar nicht sie. Vielleicht war es nur Zufall, dass er nach oben zu ihrem Fenster sah. Laura hatte einfach nicht genug Selbstvertrauen zu glauben, der Mann könnte an ihr interessiert sein. Obwohl auch ihr klar war, dass es nichts Interessantes zu sehen gab und eigentlich nur sie am Fenster stand, traute sie sich nicht zu, der Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu sein. Als er vorbei war sie stieß sie nur einen leisen Seufzer aus, holte einmal tief Luft und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Es gab mehr als genug Arbeit, es blieb keine Zeit für Träumereien.
Am späten Abend fiel Laura todmüde ins Bett. Es war wieder stressig gewesen. Ihre Überstunden wuchsen so langsam ins Unermessliche und Zuhause wartete nur eine leere, einsame Wohnung auf sie.
Als sie das Licht ausgemacht hatte, tauchte sein Bild vor ihren Augen wieder auf. In ihrer Phantasie lief sie zu ihm runter. In einer anderen Version fand er einen Vorwand zu ihr hochzukommen. Normalerweise schlief sie nach all der Erschöpfung durch die Arbeit schnell ein. Heute jedoch hatte sie Schwierigkeiten damit. Die roten Ziffern ihres Weckers leuchteten und Laura konnte Minute um Minute verstreichen sehen. Jede Minute bedeutete weniger Schlaf bis zum Morgengrauen. Sie schloss einen Moment die Augen.
Als Laura die Augen wieder öffnete, war es stockfinster. Panik durchflutete sie. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und schlug schmerzhaft in ihrer Brust. Nichts war zu sehen, absolut nichts. Vielleicht war ja nur der Strom ausgefallen und daher funktionierte der Wecker nicht mehr. Sie tastete mit der Hand nach dem Lichtschalter, um ihre Theorie zu bestätigen - und ihre Finger fühlten nur kalten Stein. Jetzt fühlte sie auch harten Stein, der ihr in den Rücken drang. Sie lag nicht mehr in ihrem weichen, bequemen Bett. Sie rappelte sich. Eine neue Welle der Panik drohte sie zu überschwemmen. Nicht nur, dass die Ereignisse überaus merkwürdig und in der Tat Furcht einflößend waren. Laura hatte dazu auch noch Angst im Dunkeln. Eigentlich hatte sie vor allem Angst. Vor der Dunkelheit, Insekten - insbesondere Spinnen - und sie hatte Klaustrophobie. Sie mied Fahrstühle und enge Räume ohne ein Fenster. Und jetzt das. Sie konnte nicht die Hand vor Augen sehen, spürte den Fels vor sich und in ihre Nase schob sich der Geruch von feuchter Erde und Moder. Wer weiß, was hier alles lebt, dachte sie panisch. Dann zwang sie sich zur Ruhe. Sie holte ein paar Mal tief Luft und wischte die Tränen fort, die ihr bereits über die Wangen liefen. Es wird schon einen Ausgang geben. Es muss einfach.
Sie drehte sich um, immer noch mit einer Hand die Wand berührend, um wenigstens einen Anhaltspunkt zu haben. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis, und Laura konnte einen schwachen Lichtschimmer erkennen, irgendwo am Ende eines schmalen Ganges, der sich vor ihr auftat. Unentschlossen und wie gelähmt stand Laura noch einen Moment bewegungsunfähig auf einem Fleck. Dann holte sie noch einmal tief Luft, nahm all ihren Mut zusammen und ging vorsichtig und ganz langsam auf die Lichtquelle zu.
Der Gang schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Laura hatte das Gefühl, schon seit Stunden immer in die gleiche Richtung zu gehen, ohne wirklich von der Stelle zu kommen. Den einzigen Beweis, den sie hatte war die Wand, vor der sie sich nach dem aufwachen wieder gefunden hatte. Die war nämlich schon weit hinter ihr zurück geblieben.
Laura war noch immer voller Panik und Angst. Ihre Sinne gaukelten ihr Geräusche vor, Gerüche. Überall meinte sie, etwas krabbeln zu hören. Als wären die Wände voller Insekten. Sie tastete sich auch nicht an der Wand entlang, sondern bemühte sich, immer mittig zu bleiben. Bloß nichts berühren. Sie wartete eigentlich jeden Moment darauf, von einer überdimensionalen Spinne von hinten angegriffen zu werden. Außerdem schienen die Wände immer näher zu kommen und sie erdrücken zu wollen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Laura zerquetschen würden ...
Reiß dich zusammen, rief Laura sich selbst zur Ordnung. Es passiert gar nichts, du hast nur eine lebhafte Phantasie. Du musst nicht immer alles so verdammt negativ sehen ...
Abrupt und von sich selber überrascht blieb Laura stehen. Hast du das gerade wirklich gedacht??? Du, der personifizierte Pessimismus?
Als wäre dieser Gedanke ein Signal gewesen, hatte sie mit einem Mal die Lichtquelle erreicht. Nach einer kleinen Biegung waren Fackeln an den Wänden angebracht, die flackerndes Licht verbreiteten. Auf kleinen Felsvorsprüngen lagen Glaskugeln, in jeder schien Bewegung zu sein. Doch das alles nahm Laura im ersten Moment gar nicht war. Denn das Erste, was ihr auffiel war, dass die Höhle keinen zweiten Ausgang hatte. Erneut drohte eine Panikwelle sie zu überschwemmen, doch schließlich gewann ihre Neugier. Sie begann sich in der Höhle umzusehen und trat näher an eine der Glaskugeln heran. Was sie sah, ließ sie erschrocken Luft holen.
Es war sie selbst.
In der ersten Kugel, die sie betrachtete, war sie eine alte Frau. Das Wohnzimmer, in dem sie in einem alten Schaukelstuhl saß, war pedantisch aufgeräumt. Hätte sie nicht mitten drin gesessen, hätte sie auch in ein Museum sehen können. Nichts deutete auf Leben hin. An den Wänden hingen Bilder, aber nirgendwo Fotos von Kindern oder Enkeln. In ihrem Gesichtsausdruck konnte Laura Trauer und Einsamkeit ablesen.
Schnell ging sie eine Kugel weiter. Ein ähnliches Bild. Sie war jünger, auf einer Silberhochzeit ihrer Freunde. Alle ihre Freunde waren da, verheiratet, mit Kindern. Laura war allein.
Schnell eilte Laura zur nächsten Kugel. Und zur nächsten. Und weiter. Wieder stieg Panik in ihr hoch. Doch längst nicht mehr wegen ihrer Umgebung. Es war ihre eigene Zukunft, vor der sie sich fürchtete. Die Kugeln zeigten ihre schlimmsten Ängste. Alle zeigten Bilder von ihr, verschiedene Möglichkeiten ihrer Zukunft - doch in jeder war sie ohne Liebe geblieben. Bis auf die letzte. Laura streckte die Hand nach der Kugel aus - "Ja, es gibt eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass du dein Glück findest." Ein alter Mann war plötzlich in der Höhle aufgetaucht. Er hatte langes weißes Haar und einen weißen Bart. Er trug einen dunkel brauen Umhang und aus seine Augen sprach die Weisheit eines langen Lebens.
"Wer sind Sie?" Laura starrte ihn sprachlos an.
"Das ist nicht wichtig", erwiderte der Alte. "Es geht um dich. Wenn du dich nicht änderst und über deinen Schatten springst, wirst du enden wie du es hier gesehen hast."
"Aber..." Laura deutete auf die letzte Kugel.
"Eine. Eine von wie vielen hundert?" Er deutete einen weiteren Gang entlang, der sich plötzlich aufgetan hatte. Dahinter waren weitere Glaskugeln zu sehen. "Die Zukunft hält viele Möglichkeiten bereit. Doch wenn sie so werden soll, wie du es dir wünscht, musst du etwas dazu beitragen."
Laura spürte plötzlich Ärger in sich aufsteigen. "Was glauben Sie, wie oft ich das bereits versucht habe? Ich kann mich nicht ändern, es ist unmöglich."
"Deshalb scheiterst du. Du glaubst nicht daran. Was hast du heute erlebt? Du warst voller Angst - war es nicht so? Und welche deiner Ängste hat sich bewahrheitet? Nicht eine. Selbst einen Ausgang gibt es ..."
Er machte eine Handbewegung - und Laura schrak aus dem Schlaf. Sie richtete sich auf und tastete nach dem Lichtschalter. Sie zitterte am ganzen Körper. Hatte sie geträumt? Es war so real gewesen. Als würde sie wirklich durch diese Höhle gehen. Noch im Nachhinein schüttelte sie sich bei dem Gedanken, was da alles hätte gewesen sein können. Und wenn diese komische alte Mann nicht gewesen wäre. Der alte Mann ...
Du musst etwas dazu beitragen ... Du glaubst nicht daran ... Deshalb scheiterst du ... Welche deiner Ängste hat sich bewahrheitet ... Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider. Tief in ihrem Inneren meldete sich eine Stimme, leise erst, doch dann immer lauter werdend. Sie sagte ihr, dass der Mann Recht hatte. Warum waren ihre Versuche bisher alle fehlgeschlagen? Sie hatte von vorne herein nichts anderes erwartet als zu scheitern. Ab morgen würde alles anders werden, schwor sie sich.
Laura warf einen Blick auf die Uhr. Halb Vier. Das bedeuteten noch zweieinhalb Stunden Schlaf. Sie löschte das Licht, drehte sich auf die Seite und war sofort eingeschlafen.
Am nächsten Morgen fühlte Laura sich wie verwandelt. Sie hatte den Rest der Nacht weiter wilde Sachen geträumt. Aber merkwürdigerweise konnte sie sich nur an den ersten Traum erinnern. Und das sogar so intensiv, als wäre es mehr als ein Traum gewesen. Es war fast, als hätte sie es wirklich erlebt. Aber Laura hatte auch ihre Energie und Motivation aus der Nacht mit in den Tag gerettet. Und das war neu. Wie oft hatte sie sich in der Nacht schon geschworen, ihr Leben zu ändern. Diesmal spürte sie, dass es funktionieren würde.
Im Büro verbrachte sie den Vormittag wie gewohnt. Am frühen Nachmittag ging sie in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee zu holen. Sie traf eine Kollegin, und die beiden begannen, sich zu unterhalten. Plötzlich fiel Lauras Blick auf die Uhr. Entgeistert stellte sie fest, dass sie ihn jetzt fast verpasst hatte.
Laura ließ die andere Frau verblüfft stehen und rannte die Treppe runter und aus der Eingangstür raus. Sie kam ins Stolpern und stieß schwungvoll mit jemandem zusammen. Ehe sie sich für ihre Ungeschicklichkeit entschuldigen konnte, sah sie in sein Gesicht.
"Leider konnte ich mir bis heute keine Ausrede einfallen lassen, um einfach in Ihr Büro zu marschieren", sagte er. "Jetzt haben Sie mir die Sache erleichtert. Hätten Sie Lust, mich auf einen Spaziergang zu begleiten?"


Eingereicht am 02. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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