Irgendetwas kitzelt ihre Nasenspitze ... Als sie vorsichtig die Augen öffnet, weiß sie, dass es ein Sonnenstrahl ist. Wie schön! Sie liebt es, morgens von der Sonne und nicht etwa von lautem Weckerrasseln geweckt zu werden.

Als sie langsam den Kopf ganz zum Fenster dreht, sieht sie, dass die Sonne schon recht hoch steht. Wie lange hat sie wohl geschlafen? Wo ist sie überhaupt? Und was war das noch gleich, das sie so intensiv geträumt hat?

Sie kann sich nicht erinnern. Aber bunt war es, sehr bunt. Irgendwas mit Wolken, und sie schwebte darauf.

Draußen ist ein wunderschöner Tag. Wie es scheint, war in der Nacht ein wenig Regen gefallen, aber inzwischen hat die Morgensonne alle Nässe aufgeleckt. Übrig sind nur noch einige wenige Tautropfen, die an Grashalmen, Büschen und Bäumen hängen und in der Sonne glitzern.

Was für ein Tag! Ihr Blick fällt auf die Blumenrabatte, die genau vor ihrem Fenster angelegt ist. Ein fast lachsfarben blühender Rosenstrauch, daneben ein weißer Rittersporn, der eben erst anfängt, seine Knospen vollständig zu öffnen - und dazwischen irgendwelche blau blühenden Blumen, die sie nicht kennt, die aber wunderschön aussehen.

Das Fenster ist geöffnet. Tief und ruhig atmet sie die frische Morgenluft ein, die ganz leicht mit dem Duftgemisch der verschiedenen Blumen durchsetzt scheint.

Schon komisch, denkt sie, wie solche einfachen Dinge - die Sonne, ein Tautropfen, ein leichter Blumenduft - den direkten Weg zur Seele finden.

Heute kann man doch eigentlich nur "mit dem richtigen Fuß" aufstehen, wenn ein Tag schon so beginnt!

Aufstehen.

Dieser Gedanke lässt sie richtig wach werden. Nachdem Augen und Nase bereits ihr Tagwerk begonnen haben, melden sich jetzt ihre Geschmacksnerven. Ihre Lippen fühlen sich trocken an und auf der Zunge liegt ein schaler und sogar etwas bitterer Geschmack. Sie lächelt. Typisch morgens! Eklig. Vielleicht sollte sie einen Schluck trinken. Sie blickt suchend umher. Seufzt. Nichts in greifbarer Nähe. Dann muss sie wohl wirklich aufstehen ... noch nicht gleich ... noch ein wenig warten ... erst noch ein bisschen liegen bleiben und ...

Aber was ist das für ein Geräusch da draußen? Ruft da jemand?

Ist das nicht ... ein Kuckuck, der da ruft? Sie strengt sich an, horcht.

Der Ruf kommt von ziemlich weit und ist kaum zu hören. Aber ja - es ist tatsächlich ein Kuckuck! Und sie erinnert sich an das Spiel, das sie schon als kleines Kind von ihrer Großmutter gelernt hatte.

"Kuckuck, Kuckuck, wie viele Jahre leb ich noch?", fragt sie leise murmelnd und lauscht dann angestrengt den Rufen. Eins, Zwei.....na, gehts nicht weiter? Mach schon! Los!

Du sollst rufen! ... Da: Drei ... Vier .... Fünf .... Sechs ....... Sieben, Acht .... Der Kuckuck ruft und ruft und ruft und sie lacht und weint. Das sind ja tolle Aussichten!

Die Tränen laufen ihr immer noch übers ganze Gesicht, als der Arzt ins Zimmer tritt und sagt "Guten Morgen ! Die OP ist gut verlaufen. Und wenn wir jetzt gleich die Chemo anschließen - glauben Sie mir, Sie können noch sehr lange leben ... Ich schicke Ihnen die Schwester, die wird Ihnen die Lippen ein wenig anfeuchten und den Tropf wechseln ... Und schaun Sie mal: Draußen ist ein wunderschöner Tag!"

Ja, denkt sie, und wenn ich ganz viel Glück hab, mein neuer Geburtstag ...