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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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An der Tür

©Peter Woeckel

Franz Kamann war im Begriff, seine Schritte zum nahen Marktplatz zu lenken, um dort seine Augen und seine Nase an den tausend bunten Ständen der Händler zu erfreuen und allerlei schmackhafte Früchte der Jahreszeit zu erstehen, als mit einem Mal etwas in sein Blickfeld geriet, das ihn in seiner Fortbewegung innehalten ließ.
Am Ende des engen, mit Kopfsteinen gepflasterten und nur wenig belebten Gässchens lag ein unscheinbares Haus, an dessen Existenz er sich, so sehr er auch in der Erinnerung herumkramte, nicht zu erinnern vermochte. Den Eingang versperrte eine wuchtige alte, von Wind und Wetter gezeichnete Holztür, deren Klinke aus Schmiedeeisen gefertigt war, ebenso die Angeln und Ziernägel mit entfernt an Kleeblätter gemahnenden Köpfen.
Nicht diese Ornamente waren es jedoch, die Kamanns Aufmerksamkeit fesselten, sondern der Türklopfer in Form eines Löwenhauptes: Das Tier, durch dessen Maul ein großer Eisenring gezogen war, blickte nämlich mit seinen starren, durchdringenden Augen so Furcht erregend drein, dass es dem Betrachter durch Mark und Bein fuhr.
Die Feindseligkeit, die das Haus und insbesondere sein grimmiger, gleichsam zum Sprung aus der Tür bereiter Wächter verströmten, riefen in Kamann zwiespältige Gefühle hervor, und zwar derart, dass er einerseits gewillt war, sich abzuwenden und aus dem Bannkreis des Löwen zu treten, andererseits aber den Wunsch in sich verspürte, die schmiedeeiserne Klinke niederzudrücken und zu erforschen, was sich im Inneren des Gebäudes verbergen mochte.
Unschlüssig seine Regungen gegeneinander abwägend, verharrte er vor dem Türklopfer, und er hätte sich wohl noch geraume Zeit nicht vom Fleck gerührt, wäre nicht ein schmächtiger junger Mann wortlos durch die Tür geschlüpft, wobei er den Spalt allzu kurz geöffnet hielt, als dass Kamann etwas hätte wahrnehmen können.
Diesem Umstand war es zuzuschreiben, dass sein inneres Pendel verstärkt zugunsten der Neugier ausschlug und sein erstarrter Bewegungsapparat wieder in Gang gesetzt wurde, und in der Folge umspannte Kamanns rechte Hand die Klinke, beförderte sie von der horizontalen in eine Schräglage und stieß sie von sich.
Allein, sein Vorgehen zeitigte keinerlei Wirkung, denn die Tür blieb verschlossen, woran sich auch nichts änderte, als er den Druck noch steigerte und gar an der Eingangspforte zu rütteln begann.
Kamann, nicht wenig erstaunt ob der unerwarteten Widrigkeiten, trat einige Schritte zurück, setzte seinen Blick in Höhe der unteren Dachkante an und ließ ihn, dabei auch dem geringsten architektonischen Detail Beachtung schenkend, langsam hinabgleiten, so als könne die Fassade einen Anhaltspunkt bieten, warum das Gebäude ausgerechnet seiner Wissbegierde einen Riegel vorschob, während es zuvor einer anderen, mit Körperkraft allenfalls durchschnittlich ausgestatteten Person Wohlwollen entgegengebracht hatte.
Als sich seine Augen über Steine, Glas und Eisen vorgetastet hatten und im Erdgeschoss angelangt waren, ohne dass ihm freilich die Suche eine Antwort auf seine Frage beschert hätte, da wurde Kamann einer Frau gewahr, die, mit einem Tragekorb und einer Kanne ausgerüstet, in der Türöffnung stand und sich offenbar anschickte, den Händlern auf dem Marktplatz ihre Aufwartung zu machen und sich mit Lebensmitteln und frischer Milch zu versorgen.
Dass nun auch ein weibliches Wesen fortgeschrittenen Alters, wovon das weiße, zu einem Dutt versammelte Haar und die leicht gebückte Haltung Zeugnis ablegten, imstande gewesen war, die wuchtige Holztür zu öffnen, während er selbst sich vergeblich an dieser Aufgabe versucht hatte, ließ Kamann für einige Sekunden um Fassung ringen, und als er endlich mit einem hastigen Satz nach vorne sprang, war die Tür bereits wieder ins Schloss gefallen.
Ohne sich lang zu besinnen, blies Kamann zu einem neuen und noch energischeren Angriff, indem er zunächst beide Hände auf die Klinke niedergehen ließ, sodann an dem Türklopfer zerrte und zurrte, dass es einem Löwen aus Fleisch und Blut den Kiefer zermalmt hätte, um schließlich eine Kehrtwendung zu vollführen und sich breithüftig gegen die Tür zu stemmen, die jedoch nicht auch nur einen Millimeter an Boden preisgab.
Kamann spürte, wie Ingrimm in ihm hochstieg und sich in einem leichten Zittern der Glieder Luft verschaffte - eine Anwandlung, als deren Verursacher zwar zuvörderst sein hölzerner Widerpart zu gelten hatte, die aber auch dadurch genährt wurde, dass Kamann, dessen Weltbild auf den, wie sich nun zeigte, nur vermeintlich stabilen Pfeilern der physikalischen Gesetze geruht hatte, sich den Vorwurf an die eigene Adresse nicht ersparen konnte, niemals die Möglichkeit einer widernatürlichen, eben diese Gesetze aus den Angeln hebenden Erscheinung in Betracht gezogen zu haben.
Zugleich aber war es diesem Mangel an Vorstellungskraft, aufgrund dessen ihm die Herrschaft über die Lage zu entgleiten drohte, wenn sie ihm nicht gar schon entglitten war, zu verdanken, dass sich in Kamann Ehrgefühl regte: Wollte er künftig seinen Mitmenschen nicht gesenkten Hauptes gegenübertreten müssen, so durfte er das Schlachtfeld nicht verlassen, und sollte er am Ende nach zähem Ringen geschlagen auf dem Pflaster liegen, dann wenigstens nicht bar aller Selbstachtung.
Kamanns fruchtloses Tun war, ungeachtet des nur spärlich frequentierten Ortes, nicht unbemerkt geblieben, und so war die Kunde von Mund zu Mund geeilt, ein sonderbarer Fremder mache sich, einem Berserker gleich, aus unerklärlichen Gründen nahe dem Marktplatz an einer Haustür zu schaffen. Die ersten Gaffer hatten sich bereits in dem Gässchen eingefunden und weites Halbrund um Kamann gebildet, unter ihnen ihnen auch einige Marktbeschicker, die, ihre Vorsicht vor räuberischem Gesindel, vor Habenichtsen und Tunichtguten, hintanstellend, ihren Stand verlassen hatten.
Dieses Verhalten mochte nicht verwundern in einem Städtchen, dessen gesellschaftliches Leben sich an dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr in ereignislosen Ereignissen erschöpfte: Hie trat ein Paar, zum Äußersten entschlossen, vor den Traualtar, um sich in altfränkischer Weise, bald verschämt hingehaucht, bald trutzig, ewige Treue zu schwören, da kam eine Frau mit einem neuen Erdenbürger nieder, der, kaum dem Mutterleib entronnen, rasch eine beachtliche Stimmgewalt entfaltete, und dort war um den Wirtshaustisch eine Trauergemeinde zum Leichenschmaus versammelt, der ihr einen würdigen Anlass bot, sich die schlichte, aber tief schürfende Einsicht in Erinnerung zu rufen, dass schließlich alle nicht jünger würden.
Diese schaubegierige, mit jeder Minute um einige Köpfe anwachsende Meute nun, die Kamann da zu Leibe rückte und sich zugleich von ihm fernhielt, aus Argwohn, er könne in einem Anfall von Wahnsinn seine rohen Kräfte womöglich gegen die ihn umstehenden Menschen richten, verfolgte wachen Auges und lauthals jede seiner Bewegungen, wobei die Kommentare, je nach Temperament und Gesinnung, recht unterschiedlich ausfielen: Während optimistische Stimmen Kamann durch markige Worte zu befeuern trachteten, waren andere bereit, ihr letztes Hemd auf die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens zu verwetten, derweil wieder andere sich grundsätzlich darüber verbreiteten, dass nur ein auf geistige Abwege geratener Zeitgenosse sich derart sittenwidrig zur Schau stellen könne.
Mochte das Publikum jedoch die Kehlen auch noch so strapazieren, die Botschaften erreichten den Empfänger nicht, denn Kamann war so sehr von dem großen Gedanken beseelt, eine endgültige Entscheidung, sei es zu seinem Vorteil, sei es zu seinem Nachteil, herbeiführen zu müssen, dass er von der Umwelt keine Notiz nahm.
Nach einer kurzen Pause, die er dazu nutzte, sich zu sammeln und den Körper auf verborgene Kraftreserven abzuhorchen, verfiel Kamann auf eine neue Art der Attacke: Wieder und wieder wuchtete er nach einem kurzen Anlauf mal die eine, mal die andere Schulter ungestüm gegen das widerspenstige Holz, und erst, als der Schmerz in den Knochen unerträglich wurde, ließ er davon ab, sich auf diese Weise Einlass zu verschaffen, und stierte mit einem Gesichtsausdruck, der sowohl Erschöpfung als auch Wut und Hass verriet, das Löwenhaupt an.
Er musste fast wie eine Häme des Schicksals erscheinen, dass sich in diesem Augenblick ein Halbwüchsiger, kaum zehn Jahre alt, leichtfüßig dem Hause näherte und, da er einen Ball in der anderen hielt, mit nur einer Hand sanft die sich sogleich fügsam öffnende Tür anstieß und verschwand.
Der Anblick des Knaben, der behände und scheinbar mühelos in das geheimnisvolle Gebäude vorgedrungen war, das ihn so unerbittlich abgewiesen hatte, brach Kamanns Widerstand: Er sank auf die Knie und hob flehentlich die Hände gen Himmel, dann wieder trommelte er matt mit beiden Fäusten gegen die Tür und rief mit ersterbender Stimme: "Lasst mich rein! Lasst mich rein!"
Die Menschenmenge war unterdessen leiser geworden und schließlich völlig verstummt - selbst den zuversichtlichsten Zeugen des Geschehens, die bis zuletzt bemüht gewesen waren, Kamann mit ihrem Krakeel anzustacheln, kam kein Wort mehr über die Lippen -, auf dass ihr kein Laut von dem entginge, was der wie toll sich gebärdende Mann von sich gab.
Nach einer halben Ewigkeit erhob sich Kamann, schwerfällig und unbeholfen, so dass es den Anschein hatte, als würde er im nächsten Moment wieder zusammensacken, drehte sich langsam, wie unter schwerer Betäubung stehend, herum - und gewärtigte, dass die Gasse zur Bühne und er, wider Willen, zum Hauptdarsteller geworden waren.
Dutzende von Augenpaaren stichelten seine Haut, und um die lästigen Blicke abzuschütteln, wankte Kamann auf die Masse zu, bahnte sich mit den Ellenbogen ruppig eine Gasse, was ihm die Fluchworte der angerempelten Personen eintrug, stolperte an den verwaisten Marktständen vorbei, fort, nur fort, allmählich finden Kamanns Beine besser zueinander, er fällt in einen Geschwindschritt, er trabt dahin, weiter, immer weiter, nur nicht stehen bleiben, er galoppiert, sein Atmen geht in ein Keuchen über, ein paar Meter noch, er nimmt das Rinnsal im Sprung, er flieht hinaus aufs freie Feld, Kamann lässt sich ins Gras fallen, birgt das Gesicht in den Händen und schluchzt hemmungslos.


Eingereicht am 01. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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