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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Sturz

©Ernst-Edmund Keil

Jetzt bin ich alt, in Rente, und habe immer noch Ängste. Ängste in der Nacht, wenn ich, allein in meinem spanischen Häuschen, den Wind höre, der draußen in den Olivenbäumen flüstert oder im offnen Kamin röhrt, wenn das glimmende Holz knackt, ich die Flammen durch die halbgeöffnete Tür seh, die schlangenköpfig über die Wände flackern und ihre wilden Tänze aufführen. Aber sie, mit der ich täglich per Handy telephoniere, hat diesmal nicht mitfahren können oder wollen. Trotzdem, ich bin nicht gern allein, und die Aussicht, bald nach Hause fliegen zu können, beflügelt mich.
Nein, sie würde morgen zum Flugplatz kommen und mich abholen in ihrem kleinen Wagen. Versprochen. Und ich habe inzwischen fieberhaft gepackt und darauf geachtet, dass nichts, nichts liegen bleibt und alles, alles säuberlich aufgeräumt zurückgelassen wird, für den Fall, dass im Sommer, wenn es mir zu heiß wird, eines meiner Kinder hier Urlaub machen will, die alle, bis auf das jüngste, das als Kleinkind Spanien verlässt und die Sprache nicht mehr erlernt, an ihrer spanischen Kindheit hängen, die für sie Heimat geworden und trotz langer Jahre zwischen Sieg und Rhein auch geblieben ist.
Darüber, übers Packen und Aufräumen ist ein Teil des Nachmittags vergangen. Ich habe, was ich doch seit Jahren zu tun pflege, diesmal nach dem Essen keine "Siesta" gemacht. Und mit einem Gefühl freudiger Erregung und leichter Ermüdung steig ich, ohne Gepäck, nur mit Hängetasche und Geldbörse, ins Auto und auf die schmale Landstraße, die sich am Ende des Hochtals in vielen engen Windungen zur Hafenstadt hinabschraubt. Daran, dass ich eingestiegen bin, kann ich mich später dunkel erinnern, wenn auch sonst an nichts mehr. Ich bin diese Straße, die den Berg mit dem Meer und der übrigen Welt verbindet, so oft gefahren, herauf und hinunter, jahrelang, zum Wochenende, oder später, wenn ich, mit oder ohne Begleitung, aus Deutschland kommend, hier Urlaub mache. Immer wieder, so dass ich manchmal glaube, sie im Schlaf befahren zu können.
Vielleicht bin ich ja wirklich eingeschlafen? Niemand kann sagen, wie es passiert ist, am wenigstens ich selber. Oder bin ich einem entgegenkommenden Fahrzeug unglücklich ausgewichen? Habe ich, was mir zum ersten Mal passiert wäre, die Bremse mit dem Gas verwechselt? Diabetisch unempfindliche Füße habe ich ja seit Jahren. Das ist wahr. Oder habe ich hier, auf dem Wege zur Unfallstelle, schon eine Gehirnblutung gehabt, wie die spanischen Ärzte festzustellen glauben (was die deutschen jedoch nicht bestätigen können), oder hat mich jemand von hinten angestoßen und feige Fahrerflucht begangen? Oder hat am Ende die Bremse des Leihwagens versagt, die Servolenkung blockiert? Alles ist möglich und nichts. Später hat eine Neurologin in meinem Gehirn kleine Infarkte diagnostiziert, aber was hat sie ausgelöst, schon die Fahrt oder doch erst der Sturz in die Tiefe? Fragen über Fragen, auf die am Ende niemand, niemand Antwort geben kann…
Auf jeden Fall muss ich von der Straße an einer Stelle abgekommen sein, nicht weit vom Hause, also noch in gebirgiger Höhe, wo, weil nicht in einer Kurve gelegen, keine Leitplanken angebracht sind, auf der Talseite, wo es zwischen Fels und Macchia steil abwärts geht. Und hier, wie ich später erfahre, bin ich erst nach dreitägiger Suche aufgefunden worden, zehn Meter tief in einem Felsspalt und mit dem Kopf nach unten hängend, ich, oder, genauer, was von mir und dem Gefährt noch übrig geblieben ist. Tot bin ich, wie man zunächst sagt. Und warum soll ich es nicht sein, nach drei Tagen und Nächten ohne Insulin (als Diabetiker muss ich mich viermal spritzen täglich) und ohne Essen und Trinken und ohne jedes Bewusstsein. Und Blut habe ich verloren, sehr viel Blut, alles ist voll davon, als die spanische Feuerwehr mich mit einiger Mühe endlich aus dem Loch herauszieht.
Die Freundin hat mich auf dem Flugplatz erwartet, und als ich wider Erwarten nicht aussteige, meine Älteste alarmiert, die in mancher Hinsicht den Platz meiner geschiedenen Frau einnimmt, und die hat sofort einen spanischen Freund angerufen, der in der Nähe wohnt, und der hat sich, nachdem er in meinem Häuschen das reisefertige Gepäck gefunden hat, gleich auf die Suche begeben, straßab und straßauf, aber vergeblich und hat schließlich um fremde Hilfe ersucht. Der Ruf geht durch die Presse, durch das lokale Fernsehen. Es wird weiter gesucht, doch ohne Ergebnis. Erst am dritten Tage entdeckt man mich, durch reinen Zufall. Ein Polizist, der auf der anderen Bergseite stationiert ist, hat, warum auch immer, ausnahmsweise nach Süden fahren müssen, in die kleine Hafenstadt, und da fällt ihm, bei der Abfahrt, ein Verkehrsschild auf, das merkwürdig verdreht ist. Und da er von dem Fall gehört oder gelesen hat, ist er stehen geblieben, ist ausgestiegen, hat Radspuren, die er entdeckt, verfolgt und den Wagen schließlich im felsigen Abgrund gefunden, mit einem Fahrer, den er für tot erklärt.
Als man mich birgt aus der Tiefe, ist neben einem spanischen Notarzt, den man aus der Stadt geholt hat, auch mein Ältester zur Stelle. Und der steht nun, ziemlich verwirrt und belämmert, am steilen Abgrund und sieht, wie sein Vater oder was von dem noch übrig ist, an Seilen heraufgezogen wird. Aber der Arzt findet, dass der Tote noch (oder wieder?) atme und will ihm eine Spritze geben und bittet den Sohn, mich, seinen Vater, sobald ich erwache, auf deutsch zu fragen, ob ich eine Allergie habe. Und als sie mich auf eine Bahre legen und zur Straße tragen, schlag ich (oder wer immer das sei, der tot ist und doch nicht tot) die Augen auf und versuche zu lächeln.. Aber ich kann ihn nicht erkennen, den Sohn, kann seine Frage nicht beantworten. Es erscheint mir alles so fremd, so unbekannt, sogar der Sohn, der mich von oben ansieht mit großen Augen und mich Papa nennt und mir Mut zuspricht, ich hätte es ja überstanden und alles, alles würde wieder gut werden. Wo bin ich, wer sind diese Menschen, die um mich herumstehen, mich in den Krankenwagen schieben? Was ist mit mir geschehen? Ich kann mich an nichts erinnern. Jetzt nicht und später nicht. Nur, das ja, und das kommt allmählich und stückweise zurück, dass ich geträumt habe, von meiner Kindheit, vom Krieg, bis der Tod an mich herangetreten ist. Oder ist ein Engel gekommen, ein schwarzer? Und mit dem bin ich, von aller irdischen Bürde befreit, nach oben entschwebt, dorthin, wo ich meinem Vater und Richter begegne? So wird es wohl gewesen sein. Einer ist tot. Und einer ist auferstanden. Der die Chance hat, noch einmal von vorn anzufangen.


Eingereicht am 29. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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