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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Das Schlüsselerlebnis
©Christoph Aistleitner
Der erste Satz einer Erzählung ist gewissermaßen das Tor zu dieser, deshalb sollte man größten Wert darauf legen, dass er zumindest folgende Kriterien erfüllt: spannend sollte er sein, interessant und lehrreich. All diese Eigenschaften muss der erste Satz in sich vereinen, sonst wird der Leser kaum über ihn hinauskommen. Nicht zuletzt deshalb gedenke ich meine Erzählung mit einem sorgfältig zurechtgelegten Satz zu beginnen:
Als wir wieder einmal im Irish Pub saßen, einerseits deshalb, weil es ein sehr gemütliches Pub ist, zum anderen darum, weil dort ein Billardtisch zur Verfügung steht, als wir also wieder einmal in diesem Irish Pub saßen, das sich, auch das muss erwähnt werden, in der schönen Stadt Steyr befindet, welche an der Stelle liegt, wo die Flüsse Steyr und Enns sich vereinen, eine sehr alte Stadt übrigens, die aufgrund der großen Eisenvorkommen ennsaufwärts, welche nach und nach auf Flößen in diese Stadt gebracht wurden,
immer über großen Reichtum verfügte, als wir also saßen bei einem Glas Bier pro Person und über vielerlei Dinge plauderten, erzählte ich, dass ich an einem Kurzgeschichtenwettbewerb zum Thema "Schlüsselerlebnis" teilnehmen wollte, und als mich Peter fragte, was für ein Erlebnis ich denn vorhätte zu schildern, erwiderte ich mit Bestimmtheit: "In meinem Leben gibt es ein so außergewöhnliches und einschneidendes Erlebnis, dass es völlig ausgeschlossen ist, dass ich bei diesem Wettbewerb irgendein
anderes schildern werde. Es ist ein richtiges Schlüsselerlebnis, das sehr vieles in meinem Leben veränderte." Worauf Peter natürlich fragen musste: "Welches Erlebnis denn?" Aber bevor diese Frage beantwortet werden kann muss zunächst erklärt werden, was unter "wir" zu verstehen ist: Da waren also Marion und Peter, Thomas, Max (der nicht wirklich Max, sondern Markus heißt), Peter (ein anderer Peter als der Erste natürlich), Stefan und Karin. Martina und Katarina waren nicht anwesend, nicht
etwa, wie man jetzt denken wird, aus Faulheit oder Desinteresse, sondern vielmehr weil sie in ihrer Funktion als Leiter eines Rudels (einer Gruppe? einer Horde?) Pfadfinder das Wochenende in den Bergen verbrachten. Das mag alles nicht so relevant erscheinen, ist aber tatsächlich von beträchtlichem Interesse, etwa deshalb, weil die Art, wie eine Geschichte erzählt wird, natürlich vom Publikum abzuhängen pflegt.
Deshalb soll auch noch angemerkt werden, dass sich alle der genannten Personen (mich selbst eingeschlossen) im Alter zwischen 20 und 23 Jahren befanden, und dass alle in Wien einem Studium nachgingen (und immer noch nachgehen), ausgenommen Peter (der zweite Peter), der in Linz studierte (und immer noch studiert), und Max, der damals bei einer Firma arbeitete, die Solaranlagen und verwandte Produkte erzeugt, und der inzwischen nicht mehr dort arbeitet, weil er seine allgemeine Wehrpflicht erfüllt, also 8 Monate
beim Österreichischen Bundesheer verbringt. Es wurde inzwischen übrigens beschlossen, dass die Dauer der allgemeinen Wehrpflicht beträchtlich verkürzt wird, um genau zu sein von 8 auf 6 Monate, es tritt aber diese Verkürzung erst in einigen Jahren in Kraft, so dass der genannte Max nicht in den Genuss dieser Verkürzung kommt, allerdings etwa mein kleiner Bruder sehr wohl nur 6 Monate hinter sich zu bringen haben wird. Ich selbst leistete meinen Wehrdienst in einer Kaserne in St. Pölten, die vermutlich bald aufgelassen
werden wird, und mein eigener Wehrdienst war doch sehr langweilig und sinnentleert, weswegen ich eine Kürzung desselben für durchaus schlüssig halte. Einmal etwa geschah es, dass mir gesagt wurde, ich solle im Büro des Herrn Major auf ebendiesen warten, aber: er erschien nicht. Auf Nachfragen wurde mir geantwortet, ich solle weiter dort warten, er werde schon bald erscheinen, also wartete ich weiter. Und so verbrachte ich einen ganzen Tag in diesem Büro, wartend, allerdings erlaubte ich mir, als ich von der Mittagspause
zurückkam, ein Buch mitzubringen, in welchem ich dann den restlichen Tag las. Dieses Buch übrigens war von Dostojewski, den ich sehr achte und schätze, und wer gegenteiliger Meinung ist möge bitte schnellstens zur Hölle fahren. Wobei diese Aufforderung hier in Steyr etwas missverständlich sein kann, schließlich gibt es in der näheren Umgebung einen Ort der tatsächlich "Hölle" heißt, und Scherzbolde können daher der Aufforderung "zur Hölle zu fahren" im wahrsten Sinne des Wortes nachkommen;
ich selbst halte von solchem Unfug allerdings wenig.
Peter fragte also "welches Erlebnis denn?" - ich bin mir übrigens nicht ganz sicher, ob Thomas wirklich noch anwesend war, damals war er häufig krank und fuhr früher nach Hause; das ist aber nicht so wichtig für das Fortschreiten der Geschichte - als Max rief "der Billardtisch ist frei", es hatten nämlich bis dahin irgendwelche mir unbekannten Personen Billard gespielt, und es gibt in diesem Pub nur einen einzigen Billardtisch (im Gegensatz zum "Billard-Cafe" im Ennstal, wo es vielleicht
fünf oder sechs Billard- und ebenso viele Snooker-Tische gibt), weswegen vor allem Max, der von uns allen vermutlich am liebsten Billard spielt, stets ein Auge darauf hat, ob der Tisch besetzt ist oder ob er frei ist. Er ist auch der beste Billardspieler unter uns, weil er des Öfteren mit seinem Vater Billardspielen geht. So hat er es doch tatsächlich einmal geschafft (und es ist kein Gerücht, ich war selbst anwesend und habe es mit eigenen Augen gesehen) mit der zu spielenden Kugel eine fremde Kugel …; nein,
ich sehe schon, es ist mir nicht möglich, das so zu schildern, wie man es tun sollte. Eben weil ich so selten Billard spiele, und auch deshalb, weil ich mich noch in keinerlei Weise theoretisch mit diesem Sport auseinandergesetzt, also etwa Bücher oder ähnliches darüber gelesen habe, habe ich nicht die geringste Ahnung, wie die verschiedenen Kugeln, Queues, Stöße, Tricks und so weiter richtig zu benennen sind. Im Gegensatz dazu kann ich mich etwa über ein Fußballspiel derart präzise und korrekt äußern, dass niemand,
aber auch gar niemand, auch nur das Geringste daran auszusetzen finden würde, was vermutlich daher kommt, dass ich in jungen Jahren selbst in einem Fußballverein gespielt habe, und dass ich auch gelegentlich ein Fußballspiel im Fernsehen ansehe, vorzugsweise bei einem Glas Bier. Wer jetzt sagen möchte "typisch Student", dem sei versichert, dass gewiss nichts Schlechtes daran ist, gelegentlich abends ein Glas Bier zu trinken, solange es in Maßen geschieht, und ebenso wenig ist es schändlich, ein Fußballspiel
anzusehen, es ist nun mal eine Tatsache, dass auch der zäheste und stärkste Körper Entspannung und Erholung braucht.
Ich werde also aus den genannten Gründen nicht versuchen, die folgenden zwei Stunden zu schildern, nicht etwa weil es nicht interessant wären, sondern vielmehr, weil es mir unmöglich ist, ein Billardspiel oder gar mehrere korrekt nachzuzeichnen. Nur so viel sei gesagt, dass natürlich Max meistens gewann, während ich und auch Peter (der zweite Peter) meistens verloren.
Diesem Peter geschah es tatsächlich, dass nach dem Stoß die weiße Kugel seinen Queue aufwärts und … nein, das hat keine Sinn. Es sei also nur erwähnt, dass wir nach etwa zwei Stunden zu unseren Sitzplätzen zurückkehrten, wo Marion, Stefan und Karin warteten, die, aus unterschiedlichen Gründen, die hier nicht einzeln erläutert werden sollen, nicht Billard spielen hatten wollen.
Also setzten wir uns wieder auf unsere Plätze, und zum Glück erinnerte mich Marion daran, dass ich das außergewöhnlichste Ereignis meines Lebens hatte schildern wollen. "Zum Glück" sage ich deshalb, weil ich schon völlig vergessen hatte, dass ich überhaupt davon hatte erzählen wollen, und es ist, worauf ich bereits hingewiesen hatte, eine sehr interessante und unterhaltsame Geschichte, und ich bin des Glaubens, dass noch nie auch nur ein einziger Mensch Gleiches oder auch nur annähernd Ähnliches erlebt
hat, auch wenn man natürlich nie wissen kann, was nicht schon alles geschehen ist, genauso wenig wie man wissen kann, welche Gedanken schon gedacht worden sind und welche vollkommen neu. Wenn ich etwa in diesem Augenblick für mich denke "ein Huhn mit Hasenhufen, Hörner hat es", so habe ich natürlich keinerlei Gewissheit darüber, dass nicht schon ein anderer Mensch vor mir gleiches gedacht haben kann. Je absurder und komplizierter der Gedanke ist, desto wahrscheinlicher wird es natürlich, dass er tatsächlich
neu ist, man denke etwa an folgendes: "Kiwikrümelkisten kosten kiloweise krankheitshalber knoblauchartig kümmerliche Kröten". Wer schon einmal ebendies gedacht, möge sich bitte, sofern er noch unter den Lebenden ist, bei mir melden, oder, falls er unter den Toten ist, nach Möglichkeit für immer schweigen. Sofern aber niemand sich bei mir meldet und auch den Nachweis erbringen kann, dass der obige Gedanke nicht meine Erfindung und Eingebung ist, werde ich den genannten Gedanken für jetzt und immer als
mein geistiges Eigentum betrachten.
Es ist mit den Gedanken eine sehr interessante Sache, und es ist schade dass an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden kann, denn es wird Zeit, mit der Erzählung fortzuschreiten, obwohl selbst der bösartigste Leser wird zugeben müssen, dass eine jede Erzählung einer gewissen Einleitung und Einweihung in die näheren Umstände bedarf. So ist es etwa nicht möglich, eine Liebesgeschichte völlig ohne Angabe des Umfeldes zu schildern: handelt sie vor dem Hintergrund zweier verfeindeter Familien, handelt
sie unter armen und geplagten Leuten oder unter reichen, handelt sie im Mittelalter oder ist es gar ein Märchen, und viele andere wichtige Unterscheidungen mehr. Im Märchen etwa sind bekanntlich viele Dinge möglich, die in jeder anderen Erzählung völlig fehl am Platze sind, etwa Zauberei und ähnliches.
Wenn ich jetzt hier in meiner Geschichte, die ganz offenbar kein Märchen ist (das etwa wurde, wenn auch nicht explizit ausgedrückt, so doch unzweideutig durch die bisherige Einleitung klar gestellt), plötzlich die wunderlichsten Sachen geschähen, etwa der Auftritt einer Hexe, welche sich anschickte, Menschen in den Ofen zu stecken, oder etwa die Erwähnung eines verzauberten Apfels, so würde sich jeder Leser, der auch nur einen einzigen Funken Geschmack im Leibe hat, sich sofort entsetzt abwenden, und ich kann
daran absolut nichts Schlimmes finden.
Da ich also daran erinnert wurde, die Erzählung fortzusetzen, begann ich endlich damit: "Ich war damals vielleicht 14 Jahre alt, und…", als ich plötzlich aufs Sträflichste unterbrochen wurde durch ein Gejubel und ein Gejohle, das sicherlich seinesgleichen zu suchen hat. Es war nämlich David in den Raum getreten, der, seitdem er mit Sarah liiert ist, nicht mehr regelmäßig in Steyr zu sehen ist, und den daher viele von uns schon seit einigen Wochen oder gar Monaten nicht zu Gesicht bekommen hatten. Dieser
David hatte aus Gründen, auf die einzugehen hier leider keine Zeit ist, erst in diesem Jahr zu studieren begonnen, und daher musste er natürlich erst erzählen von seinen ersten Eindrücken, wie er sich so zurechtfinde auf der Universität, wie denn seine neue Wohnung aussehe und vieles mehr. Es dauerte daher einige Zeit, bis ich mit meiner Erzählung fortfahren konnte, oder vielmehr, da ja ein neuer Zuhörer dazugekommen war und ich nicht über die ersten paar Wörter hinausgekommen war, ich neu mit meiner Erzählung
beginnen konnte. Es war nun aber so, dass wir beschlossen hatten, "zur Feier des Tages", wie man so sagt, also deshalb, weil David auch wieder einmal anwesend war, ein Gläschen Whisky zu trinken. Allerdings waren auf der Getränkekarte gezählte zwölf verschiedene Sorten von Whisky angeboten, nicht deshalb, weil dieses Irish Pub ein besonders elitäres und feines Lokal wäre, was man auch daran erkennen kann, dass viele Studenten dort verkehren, nein, vielmehr weil es bei Irish Pubs vermutlich üblich ist,
dass eine große Menge verschiedener Whiskys zur Auswahl steht, was ich allerdings nicht ganz sicher sagen kann, dazu wäre es nötig, eine sehr große Anzahl von Irish Pubs daraufhin zu untersuchen. Böse Zungen werden jetzt natürlich behaupten, dass zwar zwölf verschiedene Whiskeys zur Auswahl stehen, aber alle aus ein- und derselben Whiskeyflasche, die hinter der Bar steht, ausgeschenkt werden, dass also diese verschiedenen Whiskeysorten nur auf dem Papier existieren, da es vermutlich niemanden auf der Welt gibt,
der zwölf verschiedene Whiskysorten unterscheiden kann, und falls es doch eine solche Person gibt, so wird diese bestimmt nicht im Irish Pub in Steyr verkehren. Aber in beiden Punkten sei dem Lästerer hier widersprochen: zum einen bin ich vollkommen überzeugt davon, dass es Personen auf der Welt gibt, die sogar zwanzig oder fünfzig oder hundert oder zweihundert verschiedene Whiskysorten zu unterscheiden wissen, und warum sollten diese Personen nicht auch einmal nach Steyr kommen? Und zum zweiten sei erwähnt,
dass wir aus eben einem solchen bösen Gedanken heraus beschlossen, dass ein jeder von uns eine andere Sorte Whisky bestellen solle. Wir waren zwar nur zu neunt, diesem Umstand wurde aber dadurch ausgeholfen, dass drei besonders großmütig Personen gleich zwei Gläschen Whiskey für sich bestellten (ich will hier nicht verraten, wer diese drei Personen waren, das möge der Leser für sich selbst entscheiden). Und siehe da: tatsächlich waren einige Unterschiede im Aussehen zu bemerken, ob auch im Geschmack ähnliche
Unterschiede vorhanden waren, kann ich nicht mit endgültiger Sicherheit sagen, da ich von jedem der Whiskygläschen, ausgenommen dem eigenen natürlich, nur ein paar Tropfen zu kosten bekam, denn schließlich wollte ein jeder von jedem Whisky probieren.
Nun kann die böse Zunge immer noch behaupten, dass die verschiedenen Gläschen ganz einfach mit einem Whisky-Wasser-Gemisch gefüllt gewesen sein könnten; mit verschiedenen Anteilen Wasser, aber mit immer dem gleichen Whisky aus immer der selben Flasche. Ich bin felsenfest überzeugt, dass dem nicht so war, es ist mir allerdings nicht möglich, das auch hieb- und stichfest zu beweisen. Da wir nun einmal begonnen hatten, Whisky zu trinken, war es aus nicht näher zu bestimmenden Gründen unmöglich, damit wieder aufzuhören,
und aufgrund dieser ganzen Trinkerei vergaß ich völlig darauf, die versprochene Geschichte zu erzählen.
Es ist ja bekannt, dass, wenn man einmal eine gewisse Menge getrunken hat, sich die Wahrnehmung und vieles andere völlig verändern, so dass man etwas, das man sich auch mit der allergrößten Bestimmtheit vorgenommen hatte, einfach unter den Tisch fallen lässt, während man viele Dinge, die einem in nüchternen Zustand gar nicht in den Sinn kommen würden, und viele andere mehr, in betrunkenem Zustand zur Ausführung bringt. So habe ich etwa mit oben genanntem Max in Zustand der Trunkenheit viele der absurdesten Dinge
angestellt, die ich allzu gern hier schildern würde, die allerdings, oder zumindest einige davon, eine gewisse strafrechtliche Relevanz haben, weshalb sie unerwähnt bleiben müssen. Und, als ich vor etwa einem Jahr eine schwierige Prüfung hinter mich gebracht hatte, war ich unbeschreiblich betrunken mit Marion und Peter in den Tierpark gegangen, wo ich, nur um ein Beispiel zu geben, einen Nandu von meinem Eis abbeißen ließ, wobei noch zu erläutern bleibt, dass ein Nandu ein großer Laufvogel ist, etwa dem bekannten
Vogel Strauß verwandt, und dass ich seit meiner Kindheit eine gewaltige Antipathie Nandus gegenüber pflege, seit mich, ich erinnere mich genau, ein Nandu in den Finger gebissen hat, mit dem ich ihm unvorsichtigerweise zu nahe gekommen war.
Eingereicht am 28. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.