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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Tag in Oklahoma

©Dirk Christofczik

I
Seit einer Stunde sah Marvin Stanton nichts anderes als Sojabohnenfelder. So weit das Auge reichte, reihten sich die riesigen Carrés mit den hüfthohen Pflanzen aneinander. Gedankenversunken saß er hinter dem Steuer seines voll klimatisierten Leihwagens, den er am Flughafen von Oklahoma City bekommen hatte.
"Für Sie mache ich einen Sonderpreis!" hatte die Frau hinter dem Tresen der Mietwagenfirma gesagt und unübersehbar auf seine Abzeichen geschielt. Marvin hatte lange überlegt, ob er die Uniform heute tragen sollte. Vom Krieg hatte er die Nase voll, und das nicht erst, seitdem er aus dem Irak zurückgekommen war. Wenn dieser Tag vorüber wäre, würde er entscheiden, wie es weiterginge.
Heute spielte er noch einmal den braven Soldaten, aber er tat es mit Widerwillen und nur aus Respekt vor dem Menschen, den er heute treffen würde.
Ein verfallenes Farmhaus tauchte zwischen den Feldern auf und verschwand genauso schnell wie die anderen verlassenen Höfe, die immer wieder zwischen Soja und Weizen, für einen kleinen Augenblick zu sehen waren. Je näher er seinem Ziel kam, umso unangenehmer wurde der Druck in seinem Bauch. An einer Tankstelle stoppte er und versuchte seine Därme auf der schmutzigen Toilette zu entleeren. Doch er wusste genau, dass dieses unangenehme Gefühl in seinem Magen nicht verschwinden würde. Krank war er nicht. Der Virus, der ihn quälte, war die Angst vor dem Besuch, den er bis zum heutigen Tag immer wieder vor sich hergeschoben hatte. Ein Versprechen galt es endlich einzulösen, auch wenn es den Horror des letzten Jahres wieder aufleben lassen würde. Der Tankwart mit dem aufgestickten Emblem der Oklahoma State Cowboys auf der Baseballmütze hatte ihn misstrauisch beobachtet, als er mit blassem Gesicht aus der Toilette kam, doch als Marvin ihn fragte, wie weit es noch bis Justin Falls wäre, da begann er zu grinsen, und seine Zunge löste sich schlagartig.
"Sir, noch etwa zwanzig Minuten die Straße in Richtung Westen, Sir", sagte der Mann. Er rieb sich die ölverschmierten Hände an seinem Overall ab und salutierte Marvin zu. Erst als er den Tankwart freundlich darauf hinwies, dass er das lassen sollte, nahm der Mann mit enttäuschter Miene die Hand von seinem Kopf. Marvin konnte es nicht fassen und hätte den ihn am liebsten kräftig zusammengestaucht, aber was konnte dieser Kerl dazu, er war offensichtlich Veteran, und den Soldatendrill vergisst man nie. Marvin wusste, wie tief dieses Prinzip von absolutem Gehorsam in einem verwurzelt ist. Dieser alte Tankwart war das beste Beispiel dafür. Marvin tippte kurz an seine Stirn, dann setzte er sich in seinen Wagen und starrte ziellos durch die Windschutzscheibe. Die elektronisch geregelte Klimaanlage summte leise und pumpte unaufhörlich die frische Luft in das Innere des Autos.
Bitte Marvin, geh zu meiner Mutter, und erzähl ihr, dass es mir Leid tut.
Die letzten Worte von Tom Myers waren wieder so präsent, als er hätte er sie ihm gerade erst ins Ohr geflüstert. Mehr als ein Flüstern brachte Tom nicht mehr zustande, nachdem ihm ein Granatsplitter den Brustkorb zerfetzte. Der Angriff auf Falludscha verlief planlos. Ihre Einheit war schlecht ausgerüstet, teilweise besorgte man sich bruchsicheres Glas auf den Müllkippen in der Gegend, um wenigstens die Fahrzeuge notdürftig zu sichern.
Der ganze Tross wirkte wie eine Filmszene aus einem Endzeitstreifen. Der Unterschied war allerdings, dass für viele der Frauen und Männer die Klappe für immer fiel. Tom Myers war einer von ihnen. Natürlich versprach Marvin ihm, seinen letzten Willen zu erfüllen, aber dass es ihm so schwer fallen würde, das hatte er nicht geahnt. Tom starb mit gerade mal zwanzig Jahren hinter den Mauern eines zerschossenen Gebäudes in der irakischen Stadt Falludscha, 7000 Meilen von den blühenden Feldern seiner Heimat entfernt.
Ein dumpfes Klopfen holte Marvin zurück nach Oklahoma. Der Tankwart stand neben dem Wagen und starrte durch das Fenster.
"Alles in Ordnung, Sir?" fragte der Mann. Marvin beachtete ihn nicht, startete den Motor und steuerte den Wagen zurück auf die Straße. Nach einigen Minuten sah er zum ersten Mal ein verbeultes Schild mit dem Namen Justin Falls. Vier Meilen stand darunter.
Er stellte das Radio an, ließ den Suchlauf einen halbwegs hörbaren Rocksender einstellen und lehnte sich in den lederbezogenen Sitz zurück.
Irgendein unbekannter Engländer namens Robbie Williams trällerte eine Ballade, die Marvin bekannt vorkam. Nach wie vor säumten schier unendliche Felder die Straßen. Für einen Augenblick dachte er, wie schön es doch wäre, wenn er ewig so durch die Felder fahren könnte, ohne Ziel, einfach zurückgelehnt in seinem Sitz. Doch ihm war klar, dass diese Straße ein Ende haben würde, wo Mrs. Myers auf ihn wartete. Der Drang einfach umzudrehen wurde größer, doch er wusste, dass er mit dem uneingelösten Versprechen nicht leben könnte. Als die Felder schlagartig endeten und in einiger Entfernung die ersten kleinen Häuser aus dem Boden wuchsen, wurde sein Fuß bleischwer und weigerte sich, das Gaspedal freizugeben. Am Ortseingang war ein Transparent über die Straße gespannt.
"Willkommen in Justin Falls"
Marvin lachte höhnisch. Sein Fuß gab nach. Er lenkte den Wagen auf den Seitenstreifen. Aus der Ablage kramte er den Zettel hervor, auf dem er die Adresse von Mrs. Myers notiert hatte. Vorgestern hatte er sie angerufen und sich mit ihr verabredet. Zunächst wirkte sie sehr reserviert, fast ablehnend, aber als er ihr versicherte, dass er nicht im Auftrag der Army handele, da hatte sie nichts gegen eine Verabredung einzuwenden. Mrs. Myers hatte ihm erklärt, dass er etwa eine halbe Meile der Hauptstraße folgen sollte, dann an Joes Truck Stopp links und den dritten Abzweig wieder rechts abbiegen sollte. Er hatte die Wegbeschreibung auf einem Zettel mitgeschmiert. Jetzt versuchte er, seine eigene Handschrift zu entziffern.
Marvin klebte den Notizzettel an den Innenspiegel, dann fuhr er weiter.

II
Als er das Haus von Mrs. Myers sah, stellten sich seine Nackenhaare auf. Das weiße Außenholz war mit widerwärtigen Graffiti beschmiert. Braune Hakenkreuze prangten neben Worten wie "Hexe" oder "Verräterin". Unter dem Fenster an der Vorderfront stand "Gott wird dich strafen!" und "Schmore in der Hölle". Die Scheibe war eingeschlagen und durch Plastikfolie ersetzt worden. Auf die Eingangstür hatte jemand ein Galgenmännchen geschmiert, darunter war "Schlampe" gepinselt. Der Anblick der Schmierereien machte Marvin wütend. Er wartete einen Augenblick, bis er sich gefasst hatte, dann stieg er aus. Die Blumen in Mrs. Myers Vorgarten waren zertreten, der Kies, der den Weg zum Haus einrahmte, lag verstreut auf dem Rasen. Die Szenerie sah aus, als ob das Haus das Ziel einer Belagerung gewesen war. Marvin öffnete das kleine Tor zum Vorgarten. Vorsichtig, so als wenn er noch etwas kaputt machen könnte, ging er zu Verandatreppe. Er hatte gerade die letzte Stufe genommen, als sich die Tür öffnete. Die Frau, die heraustrat, musterte ihn mit einem abweisenden Blick. Als sie seine Uniform registrierte, entspannten sich ihre Züge ein wenig. Mrs. Myers war älter als Marvin es sich vorgestellt hatte, zumindest deutete ihr blasses Gesicht, das von tiefen Falten durchzogen war, darauf hin. Mindestens sechzig Jahre schätzte er die zierliche Frau mit den grauen, zum einem Dutt hochgesteckten Haaren.
"Sie müssen Mister Stanton sein", sagte die Frau leise.
"Ja, der bin ich. Sie sind Mrs. Myers?"
"Eleonore Myers!"
Marvin ging mit einem mulmigen Gefühl auf die Frau zu und reichte ihr die Hand.
"Ich möchte Ihnen hiermit noch einmal mein ausdrückliches Beileid ausrichten", sagte er. Dabei blickte er auf den Boden, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. Die beiden schüttelten sich zaghaft die Hände.
"Kommen Sie bitte rein! Wie Sie sehen, ist es hier draußen nicht sonderlich gemütlich." Eleonore Myers Blick deutete auf die Schmierereien an ihrem Haus.
"Wer hat das gemacht?" fragte Marvin, während er in die Diele des Hauses trat.
"Ein paar Unverbesserliche. Kümmern Sie sich nicht darum. Die Tage kommt Charlie und macht mir den Dreck weg. Warten Sie, ich gehe vor. Ich dachte mir, dass wir uns in den Garten setzen."
"Ja, sehr gern." Mit einem Lächeln auf dem Gesicht ging Mrs. Myers vor und führte ihn durch den Korridor. Eine bunte Blümchentapete dominierte den schmalen Flur. Etwa in der Mitte stand ein Sekretär aus wurmstichigem Kiefernholz. Darauf ein Telefon mit Wählscheibe, das so altmodisch wirkte, als ob es aus einer anderen Welt stammte. Über dem Sekretär waren Fotografien aufgehängt, akkurat platziert in Rahmen aus Goldimitat. Marvin blieb stehen als er die Bilder sah, denn auf einem davon erkannte er sofort Tom. Mrs. Myers wartete am Ende des Flurs, sagte kein Wort, musterte Marvin nur mit ausdrucksloser Miene. Neben den Fotos von Tom hingen die Bilder von anderen Männern, die fröhlich in die Kamera lachten. Einer davon sah Tom wie aus dem Gesicht geschnitten aus, es musste sein Vater sein. Auf einem weiteren Bild grinste ihm ein hübsches Mädchen mit strohblonden Haaren entgegen. Eine andere Fotografie zeigte Tom, das junge Mädchen, Mrs. Myers und den Mann wie sie an einem Strand eine Sandburg bauten.
"Kommen Sie Mr. Stanton, ich habe uns Eistee gemacht. Sie mögen doch Eistee, oder?" Marvin löste sich von den Fotos.
"Natürlich!" erwiderte er. "Wer mag schon keinen Eistee?"
"Tom!" sagte sie fast beiläufig, so als spräche sie über einen guten Bekannten.
"Was?"
"Tom mochte keinen Eistee! Er war Gesundheitsfanatiker, ihm war zu viel Zucker darin. Ich weigerte mich, Eistee mit Süßstoff zu machen. Das ist ja genauso ekelhaft wie Kaffee ohne Koffein, sagte ich ihm immer. Tom war Sportler, er war der Kapitän eines Radrennteams. Wussten Sie das nicht?"
Tatsächlich wusste er ziemlich wenig über Tom. Die alte Frau schaute ihn an, aber obwohl ihre Worte es vermuten ließen, hatte die Art wie sie ihn anblickte nichts Vorwurfsvolles.
Mrs. Myers führte ihn durch eine Küche. Der süßliche Geruch von frisch gebackenen Plätzchen lag in der Luft. Von der Küche erreichte man durch eine Tür den Garten. Draußen stand ein runder Korbtisch, darauf eine Schale mit duftenden Schokoladenkeksen.
"Setzen Sie sich Mr. Stanton! Wünschen Sie, dass ich Sie Corporal nenne?"
Marvin schaute die Frau verlegen an, und plötzlich war es ihm unangenehm, dass er die Uniform angezogen hatte.
"Ähm, sagen Sie einfach Marvin zu mir."
"Also, nehmen Sie Platz, ich hole uns den Eistee. Bedienen Sie sich ruhig, die Kekse sind ganz frisch."
Mrs. Myers ging zurück in die Küche, Marvin setzte sich auf einen der Korbstühle, die bequemer waren, als sie aussahen.
Einige Minuten später kam Mrs. Myers mit einer großen Karaffe Eistee und zwei Gläsern durch die Tür und stellte alles auf den Tisch. Sie füllte zwei Gläser bis zum Rand mit dem bernsteinfarbenen Getränk. Eines reichte sie Marvin, das andere stellte sie vor sich auf den Tisch. Sie aßen einen Keks und tranken den Tee.
Eine Weile schwiegen beide, ein bedrückendes Schweigen, denn Marvin war klar, dass sie darauf wartete, zu hören, wie ihr Sohn gestorben war.
"Jemand von der Army hat mich vor einigen Wochen angerufen", sagte sie mitten in die Stille hinein.
"Von der Army?"
"Ja, ein gewisser Sergeant Kullisnik."
"Ist mir nicht bekannt."
"Das ist derselbe Mann, der mir vor drei Monaten mitgeteilt hat, dass Tommy tot ist. Dieser Sergeant hat mich vor Ihnen gewarnt. Man hat mir nahe gelegt, besser nicht mit Ihnen zu sprechen."
"Gewarnt? Vor mir? Aber warum denn?"
"Können Sie sich das nicht denken?"
"Ich habe keine Ahnung Mrs. Myers", sagte er. "Entschuldigen Sie, wenn ich das so sage, aber an Toms Tod war für die gegebenen Umstände nichts Außergewöhnliches."
Mrs. Myers starrte in die Luft, war mit ihren Gedanken woanders.
"Nichts Außergewöhnliches", murmelte sie leise.
"Lehrer!" sagte sie plötzlich laut und wieder zu ihm gewandt. "Tommy wollte Grundschullehrer werden. Wenn dieser wahnwitzige Feldzug nicht dazwischen gekommen wäre, dann säße er jetzt wahrscheinlich in irgendeinem Hörsaal.
Kinder und Sport, das war sein Lebensinhalt."
Wieder schaute sie hinaus in den Garten, schien die Blumen zu bewundern, dabei sah sie wahrscheinlich Tommy, wie er mit einer Schar Kindern auf der Wiese tobte. Marvin klammerte sich an sein Teeglas. Er wagte es nicht, sie zu stören, also schwieg er solange bis Mrs. Myers ihn ansprach.
"Darf ich Sie etwas fragen Mr. Stanton, ich meine natürlich Marvin?"
"Ja, sicher."
"Sind Sie patriotisch?" Mrs. Myers schaute ihn dabei an, als ob sie nach seinen sexuellen Neigungen gefragt hätte. Mit dem Kinn auf ihre Hand gestützt, wartete sie auf seine Antwort. Marvin wusste nicht, ob sie ihn oder seine Uniform fixierte.
"Ich denke schon, dass ich ein Patriot bin. Mit Verlaub, sind Sie es nicht?"
Ohne lange zu überlegen, sagte sie: "Um Gottes willen, natürlich nicht!"
Marvin schockierten ihre Worte. Sie waren so eindeutig, ohne Raum für Auslegungen.
"Haben Sie sich schon einmal überlegt, wohin uns Patriotismus geführt hat?
Sehen Sie, mein Onkel, mein Mann und mein Sohn haben ihr Leben im Krieg gelassen, nur weil man von ihnen Patriotismus verlangt hat. Sie glauben doch nicht, dass ich diesem abgedroschenen Begriff noch etwas abgewinnen kann."
Diese Frau hatte alle ihre Liebsten verloren, und die Menschen ihres Landes beschmierten ihr Haus mit den übelsten Schmierereien. Wer könnte ihr diese drastische Meinung verübeln?
"Diese Uniform, die Sie da tragen, ist nichts anderes als ein Leichenhemd.
Sie riecht nach Tod, nicht nach Freiheit. Wie viele junge Menschen haben in solchen Uniformen gesteckt, haben salutiert vor den Stars and Stripes und wurden kurze Zeit später in der gleichen Fahne eingewickelt aus irgendeinem Transportjet getragen?"
Marvin ließ sie reden, und obwohl die Worte die sie nutzte, sehr emotional klangen, veränderte sich ihre ruhige Tonlage nur um Nuancen. Genau das war es, was Marvin wirklich beunruhigte. Die Frau ereiferte sich nicht, sie sagte genau das, was sie meinte, und er bekam Angst, dass sie Recht hatte, mit dem was sie vortrug.
"Wissen Sie", fuhr sie fort, "dass Patriotismus der größte Feind des Menschen ist? Nicht Geld oder die Religionen sind schuld an den Kriegen dieser Welt. Nein, blinder Patriotismus ist es! Wobei ich mich frage, ob Blindheit und Patriotismus nicht ein und dasselbe sind."
"Aber waren es nicht unsere Vorfahren die Europa von den Nazis befreit haben und damit unsere Freiheit geschützt haben? Das war ein Verdienst von Patrioten, das kann man nicht so einfach leugnen!" warf Marvin ein.
"Stimmt!" antwortete sie prompt. Dann rutschte sie auf ihrem Korbstuhl nach vorne und lehnte sich über die Tischplatte. "Ich habe ja auch nicht gesagt, dass unser Land immer so war, wie es heute ist. Sie sind zu jung, um zu wissen, wie in den Fünfzigern und Sechzigern Massen von Menschen auf die Straße gegangen sind, um für ihre Grundrechte zu kämpfen. Die demokratischen Prinzipien wurden zu einem hohen Gut, das mittlerweile in vielen Bereichen mit den Füßen getreten wird. Diese faschistischen Schmierereien an meinem Haus sind nur ein Zeichen dieses moralischen Verfalls", sagte sie seufzend.
"Wer hat Ihnen das eigentlich angetan?"
"Patrioten!" antwortete sie und lachte heiser.
"Niemand zieht für sein Land in den Krieg! Sie alle gehen in die Fremde, weil es eine Regierung so will" fuhr Mrs. Myers fort. "Im Namen Gottes werden Schlachten geschlagen, um andere Staaten zu erobern und sich einzuverleiben. Keiner von den Frauen und Männern, die irgendwo auf der Welt verblutet sind, haben ihrem Land damit einen Gefallen getan. Wie eine Hure bieten Soldaten ihren Körper an, getrieben von den Spitzbuben in den dunklen Anzügen und Kaftanen, die in ihren weißen, grünen oder was weiß ich für Häuser sitzen und mit einem verschmitzten Grinsen die Menschen in den Tod schicken." Plötzlich stoppte sie ihren Redefluss. Sie zog eine Augenbraue hoch und beäugte Marvin.
"Warum schauen Sie mich so an, junger Mann? Halten Sie mich für durchgedreht?"
"Nein, Mrs. Myers, ich halte Sie ganz und gar nicht für verrückt! Ganz im Gegenteil!" antwortete er. Marvin schaute einen Moment auf die Abzeichen an seiner Brust, dann blickte er wieder zu Toms Mutter.
"Ich habe sehr lange überlegt, ob ich diese Uniform heute anziehen soll. Sie sind nicht so, wie ich Sie mir vorgestellt habe. Eine trauernde Mutter habe ich erwartet, die sich ein wenig freuen würde, wenn ein Mann von der Army in voller Uniform vom Heldentod ihres Sohnes erzählen würde. Am liebsten würde ich mir diese Uniform jetzt vom Leibe reißen, sie in irgendeinem See versenken, zusammen mit meinen grausigen Erinnerungen."
Mrs. Myers nahm ein Schluck von ihrem Tee, lehnte sich zurück und hörte Marvin aufmerksam zu.
"Wenn ich Sie richtig einschätze, dann werde ich Ihnen nicht weh tun, wenn ich sage, dass Tom keinen Heldentod gestorben ist, denn so etwas gibt es nicht." Marvin hörte seinen Herzschlag in den Ohren pochen. Mrs. Myers zeigte keinerlei Regung.
"Die Granate zerfetzte seinen Brustkorb, er hatte keine Chance. Es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte, als ich ihn fand. Die wenigen Worte, die er noch sprechen konnte, galten einzig und allein Ihnen."
Mrs. Myers krallte sich an ihrem Glas fest, ihre Hände waren angespannt, und ihr Adamsapfel hüpfte hin und her. Sie sagte nichts, unterdrückte krampfhaft ihre Gefühle. "Niemand da drüben oder in sonst irgendeinem Krieg kämpft für sein Vaterland, Mrs. Myers, da haben Sie vollkommen Recht. Das ist alles Humbug, eine Strategie dieser Spitzbuben in den dunklen Anzügen, wie Sie so treffend sagten, die immer wieder aufgeht, und an der niemals jemand zweifelt. Patriotismus verdirbt die Geschichte, das habe ich einmal gelesen.
Wer das gesagt hat, weiß ich nicht, aber er hatte Recht."
"Goethe!" warf Mrs. Myers ein.
"Was?"
"Johann Wolfgang von Goethe hat das geschrieben."
"Ach ja? Wie dem auch sei. Ich bin in den Irak gegangen, weil ich wirklich glaubte, wir würden für die Freiheit kämpfen. Aber das ist alles Quatsch.
Krieg bringt keine Freiheit und schon gar nicht den Frieden. Krieg bringt den Tod, sonst nichts."
Mit einem Zug trank Marvin den Rest seines Tees. Er war aufgewühlt. Zum ersten Mal sagte er genau das, was er dachte. Wie ein reinigendes Gewitter spülte diese Frau seine wahren Gedanken an die Oberfläche.
"Zu Hause auf meinem Schreibtisch liegt mein Rücktrittsgesuch. Bevor ich nach Hause fahre und es abschicke, habe ich noch eine Frage an Sie."
"Bitte!"
"Hoffentlich trete ich Ihnen nicht zu nahe, aber was mir schon die ganze Zeit unter den Nägeln brennt, na ja ..."
"Nun los, ich beiße Ihnen nicht den Kopf ab."
"Ich frage mich die ganze Zeit, wie kann es bei Ihrer Einstellung sein, dass Tom sich freiwillig für die Army gemeldet hat. Das kann ich nicht verstehen." Mrs. Myers schien zu erstarren. Marvin hatte einen wunden Punkt getroffen.
"Es tut mir Leid, wenn Sie die Frage so trifft. Sie brauchen natürlich ..."
"Emily", unterbrach sie ihn. "Meine Tochter!"
Marvin runzelte die Stirn, dann fiel ihm das Foto von dem jungen Mädchen im Korridor ein. "Emily und Tommy waren ein Herz und eine Seele", begann sie zu erzählen. "Sie war fünf Jahre älter als mein Sohn und mehr als nur die große Schwester. Sie starb vor über drei Jahren." Marvin konnte es nicht fassen.
Was für ein Leid musste diese Frau ertragen. Die Männer der Familie starben mit grausamer Regelmäßigkeit in den Kriegen dieser Welt, Tochter und Sohn waren tot, und die Leute der Stadt behandelten sie wie eine Aussätzige, nur weil sie eine Wahrheit aussprach, welche die Leute mit ihren gewaschenen Gehirnen nicht mehr erkennen konnten.
"Das tut mir Leid."
"Schon gut", beschwichtigte sie. Mrs. Myers nahm einen Keks, biss eine kleine Ecke ab und legte ihn auf den Tisch.
"Sie war kurz vor dem Ende ihres Jura Studiums", erzählte sie. "Emily hatte immer davon geträumt, Anwältin zu werden. Ein Praktikum bei einer renommierten Kanzlei in Los Angeles hatte sie in der Tasche und freute sich wie ein kleines Kind auf den Tag, an dem sie die Stelle antreten durfte. Am 12. September 2001 sollte sie den Job beginnen."
Das kann nicht sein, dachte Marvin. Er ahnte, was Emily passiert sein könnte und diese Familie mit Leid überzogen hatte.
Mrs. Myers hatte die Augen geschlossen. Als sie sie wieder öffnete, flossen Tränen über ihre Wangen.
"Am 07. September flog sie nach New York, um ein paar Tage bei einer alten Freundin zu verbringen. Dann, vier Tage später, stieg sie in Newark in den United Airlines Flug UA93. Der Rest ist hinlänglich bekannt."
Ihre Stimme wurde brüchig. Sie saß in sich zusammengesackt auf dem Korbstuhl und wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Tränen aus dem Gesicht.
Marvin verstand, warum Tommy in den Krieg gegen die vermeintlichen Urheber der Anschläge ziehen wollte. Ihn leitete eines der menschlichsten Motive:
Rache.
"Die Patriotismusmaschinerie hatte in Tommy ideales Kanonenfutter gefunden.
Der Hass gegen alles Fremde wurde geschürt. Andersdenkende als Verräter verhöhnt und gebrandmarkt. Die Leute sind verblendet. Wenn jemand nicht so tickt wie sie, dann fletschen sie die Zähne, wie der pawlowsche Hund, wenn die Klingel ertönt. Unser Land hat nach diesem grausamen Tag sein wahres Gesicht gezeigt, Mr. Stanton. Eine Visage, die so Furcht erregend ist, dass ich sie den Leuten vom Gesicht reißen möchte, aber sie sitzt so fest, dass man die Haut mit abreißen müsste, um sie loszuwerden. Tommy wollte seine Schwester rächen, so banal das auch klingen mag. Nun ist er bei ihr. Ich habe versagt und bin jetzt allein, das ist meine Strafe." fügte sie traurig hinzu.
"Oh nein, Mrs. Myers!" rief Marvin ihr zu. "Nicht Sie haben versagt, sondern die Rattenfänger, die uns weismachen wollen, dass wir für die Freiheit und unser Land kämpfen. Wir sind alle darauf rein gefallen, genau wie die irakischen Rebellen und Terroristen, die jetzt in irgendeiner zerbombten Stadt sitzen und unsere Jungs mit Granaten bewerfen. Wir sind wie Dollarnoten, nach denen diese ehrenwerte Gesellschaft so sehr giert. Still, genügsam, und wenn man genug von uns hat, gibt man sie wieder aus. Wenn es mehr Menschen wie Sie geben würde Mrs. Eleonore Myers, dann wäre mir nicht bange um diese Welt. Ich wünsche Ihnen, dass Sie die Kraft haben, die Schmierereien, mit denen man sie brechen will, immer wieder geduldig abzuwischen. Toms Worte letzte Worte an Sie waren, dass es ihm Leid tut. Ich habe mich oft gefragt, was er damit meinte. Heute ist es mit klar geworden.
Ich werde jetzt gehen und diese verdammte Uniform ablegen, denn sie stinkt tatsächlich wie ein altes Leichentuch, das sich auf die kommende Kundschaft freut."
Marvin stand von seinem Stuhl auf. Mrs. Myers tat es ihm gleich. Schweigend schüttelten sie sich die Hände. Zwischen ihnen war alles gesprochen, Worte waren nun überflüssig. Schweigend führte sie Marvin zurück durch die Küche, an den Familienfotos in der Diele vorbei, bis er wieder auf der verwitterten Holzveranda stand und auf die Graffitis starrte.
"Kommen Sie gut nach Hause."
"Danke! Haben Sie schon einmal daran gedacht, einfach wegzuziehen?"
Mrs. Myers lachte und winkte mit den Händen ab.
"Was würde das ändern? Nein, nein, so schnell lasse ich mich nicht verjagen." Sie klopfte auf das Holz der Außenverkleidung.
"Was hat dieser Sergeant Kullisnik eigentlich zu Ihnen gesagt. Warum sollten Sie sich vor mir in Acht nehmen?" fragte Marvin.
"Liegt das nicht auf der Hand?" antwortete sie. "Sie wollen nicht, dass wir erfahren, wie unsere Kinder verreckt sind. Sie haben Angst davor, dass wir irgendwann einmal genug haben und sie nicht mehr hergeben. Je mehr wir über diese schmutzigen Kriege erfahren, umso größer ist die Gefahr, dass wir irgendwann einmal aus unserem Wachkoma auferstehen. Nehmen Sie die Chance bitte wahr Marvin", sagte sie und legte eine Hand auf seine Schulter, an die sie kaum herankam. "Schlafen Sie nicht wieder ein."

III
Er saß noch eine Weile im Wagen und starrte auf das Haus. Mrs. Meyer war längst wieder reingegangen. Die Schmierereien waren immer noch da, doch Marvin erschreckten sie jetzt nicht mehr, denn es waren nur noch Farben an einer Hauswand. Charlie würde kommen, sie abwaschen oder überstreichen.
Trotzdem hatte er auf einmal den Drang die Leute zu sehen, die so etwas machten.
Am örtlichen Supermarkt parkte Marvin den Wagen. In der Cafeteria hinter dem Kassenbereich setzte er sich an einen Tisch und beobachtete die Leute, die aus und ein gingen. Frauen mit ihren Kindern, Senioren, Männer in Arbeitskleidung und sogar ein Pfarrer liefen an ihm vorbei. Manche die ihn sahen, winkten ihm zu, spreizten ihre Finger zum Victory Zeichen oder zeigten ihm den erhobenen Daumen. Marvin lächelte stets zurück oder nickte kurz mit dem Kopf. Einem kleinen Jungen, der sich vor ihn stellte und salutierte, streichelte er über den Kopf. Ihm wurde schlagartig klar, wie sehr Mrs. Myers Recht hatte. Alle Leute, die an ihm vorbeiströmten, schwebten auf einer Wolke von Patriotismus-Lethargie. Die Erkenntnis, dass niemand von denen jemals aus ihrem Koma aufwachen würde, ließ ihn erschaudern. Die Gauner in den dunklen Anzügen hatten gewonnen. Marvin ließ seinen Kaffee stehen, legte ein paar Dollar auf den Tisch und ging so schnell wie möglich an die frische Luft. Neben einer kleinen Hinweistafel aus marmoriertem Stein setzte er sich auf eine Bank. Wie ein Ertrinkender sog Marvin die frische Luft in seine Lungen. Langsam verdrängte der Sauerstoff seine Übelkeit, die ihn in dem kleinen Café übermannt hatte.
Marvins Blick fiel auf die Tafel neben ihm. Es war keine einfache Hinweistafel, bemerkte er, sondern ein Denkmal für die gefallenen Soldaten der kleinen Stadt.
"Justin Falls ehrt seine gefallenen Helden", stand in goldenen Lettern auf dem Stein. Darunter eine Reihe Namen von getöteten Vietnamsoldaten. Rechts daneben waren die Männer aufgelistet, die in den beiden Irakkriegen gefallen waren. Jonathan Tobis, Frank Kampa und Alexander Sitobeck las Marvin. Ganz am Schluss stand ein Name, der nicht mehr lesbar war. Jemand hatte versucht, ihn mit einem Schraubenzieher auszuradieren. Marvin strich mit dem Finger über die verkratzte Stelle auf dem kalten Stein. Seine Gedanken waren bei Tom, seiner Schwester und bei Mrs. Myers.
Was für eine tapfere Frau, dachte er.
An der Tankstelle zwischen den Sojabohnenfeldern machte er noch einmal Halt.
Von dem Veteranen ließ er sich den Schlüssel für die Toilette geben. Mit seiner Notfalltasche, in der immer eine Zahnbürste, ein frisches Hemd und eine Hose hatte, ging er in einer der Kabinen. Marvin zog die Uniform aus und seine Ersatzsachen an. Dann ging er zurück zu seinem Wagen, grüßte den verdutzt dreinschauenden Tankwart mit einem grinsenden Salut und brauste mit Vollgas davon. Als der Mann mit der Oklahoma State Cowboys Mütze in das WC kam, fand er Marvins Uniform fein säuberlich und akkurat gefaltet auf dem schmutzigen Boden des Waschraums. Darauf einen Zettel, auf den er geschrieben hatte: "Unbekannt verzogen. Bitte zurück an den Absender."
Darunter hatte er die amerikanische Flagge gekritzelt und die Adresse seines Stützpunktes in Fort Worth geschrieben.


Eingereicht am 27. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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