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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
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©Torsten Böhm
1. Falk
Die Ferien waren so gut wie zu Ende. Meine letzten. Die letzten Ferien. Ich rief das Wochenende bei Franka an, eigentlich ohne besonderen Grund, ich meine, es war irgendwie auch Zufall. Ich rief sie an, weil ihre Nummer oben an im Telefon gespeichert war. Ihre Stimme am anderen Ende, ich grinste und grinste, ich freute mich wie ein Honigkuchen. Aber sie konnte es ja nicht sehen. Mann oh Mann. Man könnte auch sagen, ich war ziemlich degeneriert.
Eigentlich hing ich immer mit Cool ab. Aber Cool war nicht da, er war irgendwo hingefahren. Nach Mallorca, Malta oder Madagaskar, was weiß ich, eine dieser Inseln. So hing ich die erste Woche mit Marky und Zeiger an der Tanke ab. Musikhören. Biertrinken. Die Tanke war so eine Art Treffpunkt. Ein Typ namens Fisch arbeitete seit ein paar Wochen dort als Hiwi. Ein Haufen Idioten trafen sich da. Aber Lena war auch dabei. Sie ging bei mir auf die Schule, in die Nebenklasse. Ich hatte einen Kurs mit ihr zusammen. Einen
einzigen. Da hatte es gefunkt, bei mir jedenfalls. Neuerdings trug sie ein Piercing über der Lippe, statt eines Leberflecks, so filmdivamäßig. Es passte gut zu ihr. Ihre beste Freundin Cinie war auch dabei. Sie war die Freundin ihres Bruder. Also sie war die Freundin von Lena und die Freundin ihres Bruders. Und zufällig hatte sie auch so einen Piercing. Aber bei ihr sah es blöd aus. Der Bruder kam immer mit seinem Golf, tiefergelegt, breite Reifen und so weiter. In der Heckscheibe ein Aufkleben, Böse Onkelz.
Er nannte sich Henker und hatte sehr wenig Haare. Ich verstand nicht, warum die beiden Geschwister waren. Sie sahen sich gar nicht ähnlich. Wenn die Polizei kam, war der Nachmittag gelaufen. Sie kamen eigentlich immer irgendwann.
Obwohl der Chef von der Tanke nichts dagegen hatte, dass wir da abhingen. Er hatte irgendwie Verständnis für uns. Keine Ahnung was er damit meinte.
Vielleicht meinte er die Langeweile in Helle Mitte. Vielleicht meinte er aber auch Henker, der ab und zu Ausländer klatschen ging. Und jeden umbringen würde, der sein Mädel länger als drei Sekunden anschaute. Das machte die Sache mit Lena irgendwie kompliziert. An dem Tag meinte es die Polizei ernst. Sie hatten es auf den Golf abgesehen und natürlich auf Henker. Drei Mannschaftswagen. Es war eine richtige Razzia. Wir rannten, was das Zeug hielt. Die Party war vorbei. Die zweite Woche saß ich fest.
Zuhause. Feldberger Ring. Ich wusste absolut nichts mit mir anzufangen. Ich hatte mich irgendwie selber eingelocht. Tiefkühlpizza zum Frühstück, zum Mittag und abends vor der Glotze. Meine Eltern an der guten alten Ostsee.
Alle CDs waren durchgehört. Der Videoladen hatte nichts Neues mehr zu bieten, außer in der Pornoabteilung. Draußen war es superwarm, fast wie im Sommer. Die Türkengang hing am U-Bahnhof ab und wartete, dass was passierte.
Aber es passierte nichts. Und die Pizza kam mir schon zu den Ohren heraus.
Ich hatte das Gefühl, jetzt noch das Wochenende und ich bin tot. Tod durch Tiefkühlpizza. Jugendlicher stirbt an einseitiger Ernährung." Ich rief also Franka an, so ganz zufällig. Keine Ahnung, warum sie spontan zusagte. "Kann ich bei dir einziehen?" Ich fragte ganz direkt. Eine verrückte Idee, dachte ich noch so bei mir. Aber sie sagte: "Komm vorbei." Einfach: "Komm vorbei." Ohne Zögern. Wir hatten uns nur noch selten gesehen, seit sie weg war. Der Kleine war ein paar Wochen
alt. Oder älter? Er hat sie ganz schön auf Trab gehalten. Sie musste sich allein durchboxen. Ihr Typ wollte das Kind nicht.
Sie hat es trotzdem bekommen. Der Kleine war am Schreien und Franka sagte nur: "Schön dich zu sehen." Sie war so herrlich unkompliziert manchmal. Es gab etwas zu essen: Kartoffeln und Möhren, für den Kleinen einen Brei daraus, es sah jedenfalls so aus, und sie fragte mich, ob ich etwas mitessen möchte: "Alles aus biodynamischem Anbau." Und ich sagte, dass ich gerade kein Hunger hätte. Na ja, es war gelogen. In Wirklichkeit hatte ich ein Loch im Magen. Aber irgendwie war mir das zu viel in
dem Moment. Auf der Straße quatschten mich zwei Punks an, ob ich ein paar Cents hätte, für ihren Hund, und wo es hier nach Kreuzberg gehe. Wir hatten zufällig den gleichen Weg. An der nächsten Ecke war McDonalds. Das war praktisch. Die Punks zogen weiter.
Der Laden war rappelvoll. Wegen irgend so einer Ferienaktion. Und es gab eine Klimaanlage. Am Tisch nebenan saßen zwei Mädchen, die sich einen gackerten. Ich hatte das Gefühl, sie würden über mich lachen. Ich suchte die ganze Zeit was in meinem Gesicht, Ketschup oder so was. Die eine von beiden war ziemlich fett und die andere war schlank. Ich bildete mir ein, sie würde super aussehen. Aber ich sah sie nur von hinten. Nach den Pommes mit Cola gings mir besser. Und dann fiel mir plötzlich der Name von dem Kleinen
wieder ein: Luis. Und ich musste plötzlich ganz dringend aufs Klo. Und wie ich Treppe herunter stolperte, sah ich draußen am Fenster Lena vorbeischlendern, ganz alleine. Und ich machte mir vor Schreck fast in die Hose. Meinen Schwanz in der Hand, dachte ich daran, wie ich sie in Französisch immer heimlich beobachtete. Wenn sie französisch sprach war es der Wahnsinn. Leider war Französisch mein schlechtestes Fach. Draußen war nichts mehr von ihr zu sehen. Ich hätte mir in den Arsch beißen können. Also schlich
ich zurück in mein neues Zimmer, Kinderzimmer. Franka und der Kleine waren nicht da. Ich drehte den Ghettoblaster auf Anschlag. BY MYSELF. LINKIN PARK.
2. Tim
Man stelle sich vor, Sie gehören aus heiterem Himmel zu einer der meistgesuchten Personen dieser Stadt. Okay, ich will nicht übertreiben. Ron kam in die Akademie. Wir machten zusammen diese Fortbildung, es ging um Kommunikationstraining im geschäftlichen Alltag. Das Seminar hatte den Morgen schon angefangen. Er kam zu spät. Nicht, dass es das erste Mal war, dass er zu spät kam. Nein, er kam eigentlich immer zu spät. Eine Dozentin erzählte Stunde um Stunde hochtheoretisches, aber belangloses Zeug. Sie selbst,
diese Frau, mit dem Namen Luisa, war die eigentliche Attraktion, der Grund für mein pünktliches Erscheinen. Der Typ strenge Sekretärin. Wir waren verabredet, Ron und ich. Ich dachte erst, er lässt mich hängen, aber es war etwas dazwischen gekommen. "Ich habe dich auf der Wache gesehen", nuschelte er mir so beiläufig zu, als er sich zu mir setzte. Ich wusste natürlich überhaupt nicht was er meinte. Meine Konzentration lag bei Luisa und dem was diese Frau auszeichnete. Das müssen Sie mir glauben, diese
Frau hatte einiges, was sie auszeichnete. Was für eine Wache? Ich verstand kein bisschen von dem. Aber es schien wichtig zu sein, wichtig genug, mich aus meiner Träumerei zu reißen. Auf einem Plakate hätte er mich erkannt. Was für ein Plakat? Ein Foto von mir. Zufällig. Ich wäre natürlich nie darauf gekommen. "Und? Wie sehe ich aus?", fragte ich ihn völlig naiv.
"Unvorteilhaft." So drückte er sich aus. So ganz geschwollen.
"Unvorteilhaft." Will der mich jetzt auf den Arm nehmen, schlechte Laune oder was? Nicht jeder ist morgens so scheiße drauf wie du, dachte ich noch.
"Ja, ja", hab ich gesagt. "Hab ich auch schon gesehen." Was man halt so sagt, wenn ein guter Freund versucht, einen besonders komischen Witz zu machen. Er hat mich angeschaut als wäre ich bescheuert. Ich habe ihn nicht ernst genommen. Natürlich. Wir dachten beide total aneinander vorbei. Was hätten Sie gesagt, wenn Ihnen ein Freund weiß machen will, Ihr Foto hängt auf einer Polizeidienststelle, womöglich auf allen und was weiß ich noch wo.
Und man sucht Sie wie einen Verbrecher. Na, also. Natürlich habe ich das nicht ernst genommen. Bis es so langsam bei mir klickerte. "Was hab ich den verbrochen?" Ich habe zu diesem Zeitpunkt nicht im Entferntesten an diese Geschichte gedacht. "Randale." Das Fragezeichen war mir regelrecht auf die Stirn graviert. Was heißt hier Randale? Es wurde immer absurder. Luisa, mein Engel, ließ sich kein bisschen aus dem Konzept bringen, als wir auf den Hinterbänken herumtuschelten wie die Schuljungen
in der 8. Klasse. "Keine Ahnung", sagte er. "Das wäre ich, ganz eindeutig." So wie er mich anschaute, war es ernst gemeint. Äußerlich hab ich mir natürlich nichts anmerken lassen.
Einfach cool reagiert. "Na, da kannste mal sehen." Wie war mir das unangenehm, später, als ich es selber sah, mich sah auf diesem Plakat.
Sicher war Ron völlig von den Socken wegen meinem Statement, hielt mich für einen verkappten Anarchisten oder so was. So kannte er mich wirklich nicht.
Er war sichtlich irritiert. Das wäre kein Gag oder so was. Ich solle mir selbst ein Bild machen, "aber sieh dich vor." Er machte mir richtig Angst.
Also bin ich hin zum nächsten Revier, ein paar Ecken weiter. Mir war mulmig, das muss ich zugeben. Aber eigentlich war es vor allem spannend. Wer weiß, wo das Ganze enden würde: Ich werde verhaftet, gehe ins Gefängnis, nicht über Los, schwedische Gardinen für fünfzehn Jahre. Es war sicher eine Verwechselung. Womöglich ein Doppelgänger. Die gibt es ja wirklich. Dann hielt ich die Luft an. Das besagte Plakat hing gleich hinter dem Eingang im Vorraum, wo man sich anmelden musste. Ein Fahndungsplakat, wie es im Buche
steht mit zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Bildern, Fotos, von Personen.
Einer der Beamten fragte mich sofort, wohin ich wolle, ob er mir helfen könne. Ich, "nee, nee," etwas verdattert. "Ich will nur mal gucken." Ich stand fassungslos vor dem Plakat, betrachtete das Foto, mich, eindeutig erkennbar. Wo war das? Scheiße, dachte ich, im ersten Moment: Was soll das Ganze? Ist das ein Joke? Ich schaute mir die anderen Bilder an, üble Gestalten, halb vermummt. Die wenigsten sahen ganz normal aus, wie ich. Ich meine, da waren reihenweise kaputte Typen abgebildet. Ich
sah gut aus, braun gebrannt wie acht Tage Mallorca um Ostern, billig, kein Komfort, aber egal, Hauptsache weg.
3. Falk
Ich schreckte hoch von einem Klingeln, was ich nicht kannte. Das Mobile an der Decke bewegte sich und ich schnallte so langsam wo ich war. Es klingelte noch einmal, hartnäckig. Es war Franka. Der Kleine schlief auf dem Arm. Ich hatte Hunger und dachte daran zu McDonalds zu schlendern. Irgendwie hoffte ich, Lena dort zu treffen. Ganz zufällig. Aber Franka hatte schon den Tisch gedeckt und so aßen wir zusammen. Sie machte ein paar Kerzen an. Es war eigentlich sehr gemütlich. Noch nie hatte ich mit meiner Schwester
im Kerzenschein Abendbrot gegessen. Mir war nicht wohl bei der Sache. Sie sagte kaum etwas und so musste ich auch nichts sagen. Dann ging sie ins Bett. Ich auch. In meinem Schlafsack versuchte ich mir einen runter zu holen, aber es ging nicht. Durch die Wand drang Musik. Nebenan war eine Party. Ein Haus weiter, wie ich feststellte. Die Wohnung war riesig. Es gab mindestens sechs Zimmer. Ich versuchte mein Staunen zu verbergen, ging wie selbstverständlich von Raum zu Raum und pflanzte mich schließlich in einen
eigenartigen lila Plüschsessel. Eine Ewigkeit starrte ich gegenüber in so eine Lampe, um die sich eine Rolle mit Fischenmotiven drehte. Eine weitere Ewigkeit dauerte es, bis ich mitbekam, dass man sich hier bei den Getränken frei bedienen konnte.
Ein Typ drückte mir ein Flasche Berliner in die Hand und fragte, ob ich vielleicht der Bruder von Sandra wäre, wir würden uns so verdammt ähnlich sehen. "Nee, nee", sagte ich. "Was kriegste für das Bier?" Es war wohl die falsche Frage. Der Typ drehte schmunzelnd ab ins nächste Zimmer. Nach dem zweiten Berliner war es mittlerweile brechend voll. Hellersdorf war tausend Kilometer entfernt. Ich kam mir vor wie in einem dieser Zigarettenwerbespots. Alles war in Bewegung. Gestylte Leute rauschten
hin und her, hatten gute Laune und waren voll gut drauf. Lena war schon mindestens fünfmal in der Menge aufgetaucht und wieder verschwunden. Als ich irgendwann aufstehen wollte, merkte ich, dass ich ziemlich einen in der Krone hatte. Erinnerungen an die Klassenfahrt im Sommer kamen hoch, der letzte Abend in der Dorfdisko. Ich schaffte es mich aufzurichten und konnte mich beherrschen. Die Musik war immer noch am Level. Ich versuchte es mit Tanzen. Irgendwie landete ich dabei in den Armen eines Mädchens. "Oh,
tschuldigung", sagte ich höflich. Sie grinste mich nur an und tanzte weiter.
Nicht mein Typ, dachte ich nur, jedenfalls in dem Moment. Mit Absicht oder durch Zufall, saß genau sie später in meinem lila Plüschsessel. Ich stotterte herum, dass ich schon den ganzen Abend in diesem Sessel ... Und ob sie das verstehen würde, dass ich jetzt gerne wieder dort ... Es waren alles nur so Halbsätze, ohne auf den Punkt zu kommen. Sie sagte: "Das ist mein Sessel, den habe ich mir mitgebracht." Und ich könnte von Glück reden, dass ich schon so lange in ihrem Sessel sitzen durfte. Dann rutschte
sie. Es war irre. Wir verbrachten den Rest der Nacht zusammen in dem lila Plüschsessel - in den abgefahrensten Stellungen. Und immer wieder dachte ich an Lena.
Verrückt, oder?
4. Tim
Mallorca, eine völlig andere Welt. Ballerman und der ganze Zirkus. Sicher hat die Insel auch was mit Strand und Sonne zu tun. Aber eigentlich geht es doch um etwas anderes. Das gesellschaftliche Erlebnis. Ron war auch mit. Es liegt wohl in der Natur der Sache, oder eine Sache der Natur, wenn zwei Singles, was eigentlich keine Rolle spielt, zwei Jungs auf Reisen gehen. Der sportliche Ehrgeiz. Und der besteht nun einmal darin in einer Woche so viel Bräute aufzureißen wie möglich. Was soll ich sagen, ich habe das
Rennen gemacht. Quantitativ gesehen. Wenn man Glück hat, ist nichts Ernstes dabei, ich meine, keine, die es ernst meint und auch noch aus derselben Stadt kommt. Es gibt wohl nichts Schlimmeres als Urlaubsbekanntschaften, die einem in die eigene Bude folgen. Ron hat sich scheckig gelacht. Er hätte es gleich gespürt, sagte er, so ein ungutes Gefühl: "Von der lass ich lieber die Finger." Mich ließ er reinreiten. Aber so schlecht war es nicht, im Gegenteil. Wieder Zuhause war sie drei Tage später auf dem
AB. "Hallo, hier ist die Tina." Eine Schlinge legte sich sanft um meinen Hals. Ausgerechnet sie. Verdammt. Sie würde gerne kommen, hätte da einen Studienplatz in Aussicht und so weiter, bla, bla. Ron hatte ihr die Nummer gegeben, mein lieber Freund Ron, sich ein Späßchen draus gemacht. Wie sie an seine Nummer gekommen war, die Erklärung ist er mir bis heute schuldig geblieben. Sie rief noch mal an. Zufällig war ich Zuhause. Scheiße. Sie war eine von denen, die einen am Telefon ohne Punkt und Komma zehn
Minuten vollquatschen konnten. Ich sagte immer "Ja" - "Ja" - "Ja" und am Ende hatte ich ihr, ohne es zu merken, eine Zusage gemacht. Und da stand sie plötzlich vor meiner Tür. Ehrlich. Ich hatte das Telefonat völlig verdrängt. Ich war wirklich überrascht. "Hi, lange nicht gesehen." Das waren ihre Worte. Küsschen, Küsschen. Sie sprach mit einer Zielstrebigkeit, die mich fast aus den Latschen hob. Ich meine, wir kannten uns eigentlich so gut wie überhaupt nicht. Was heißt
denn hier: "lange nicht gesehen"? Sie umarmte mich wie ein Mädchen aus einem Teeniefilm. Für sie war alles so selbstverständlich. "Man, ich bin echt froh hier zu sein", sagte sie. Ich verstand nicht - ich wollte nicht verstehen - was sie damit meinte. Ich kam mir vor wie plötzlich mitten in der Hauptrolle von ‚Noch so ein beschissener Teeniefilm, Teil fünf'. Aber ich gebe es zu, in manchen Situationen verhalte ich mich geradezu schicksalsergeben. Sie sah immer noch gut aus, aber nicht mehr
so gut wie ich sie in Erinnerung hatte. Das lag an ihren Hippie-Klamotten und an einigem mehr. Sie wirkte irgendwie anders, jünger. Sah aus wie höchstens achtzehn. Das verunsicherte mich. Ich mixte uns ein paar Cocktails und wir plauschten noch einmal über Wassersport und den ganzen Scheiß. Das Gespräch wurde zunehmend langweiliger. Wir passten so gar nicht zusammen. Ich dachte immer nur, verdammt noch mal, wie werde ich die wieder los.
Die gute Seite: Der Abend lief nach Schema F. Der überraschende Besuch von der lieben kleinen Tina bescherte mir doch ein nachhaltiges Betterlebnis. Von der Seite her war sie wirklich etwas Besonderes. Ich war es gar nicht gewohnt mit ein und demselben Mädel mehr als einmal ins Bett zu steigen. In der Regel mache ich mir keinen Kopf wie es weiter geht. Ich bin fixiert auf den ersten Abend. Man könnte auch sagen, ich will immer nur das eine. Aber nur einmal, höchstens zweimal. Für sich genommen hatte sie mich
gar nicht so falsch eingeschätzt. Zu mindestens auf was ich ansprang. Heute denke ich, es war alles nur eine Masche von ihr. Nicht ehrlich. Ich meine, ich bin auch nicht ehrlich. Aber ich gebe auch nicht vor, ehrlich zu sein. Sie hatte sich etwas in den Kopf gesetzt. Irgend so eine gequirlte Vorstellung von Liebe. Ich fühlte mich benutzt. Vielleicht sollte man das auch so nicht sagen. Sie war einfach so. Auf jeden Fall offenbarte sie sich mir schon am nächsten Tag.
Wie konnte es anders sein: sie hatte sich in mich verliebt. Das sagte sie so, mit einer Bestimmtheit, zwischen den Zeilen. Irgendwie schmeichelte es mir auch. Sie ist verliebt in mich. Wow. Ich versuchte es zu genießen.
Fühlte ich mich oben, das Mädel will von mir gevögelt werden. Ron lachte nur. "Pass auf", sagte er: "Sie wird sich breit machen. Und dann wirst du sie nicht mehr los."
5. Falk
Wie ich die Augen auf machte, merkte ich, dass Sandra mir vorsichtig ins Ohr pustete. Sie strahlte mich an und ich muss ehrlich sagen, dass ich etwas verblüfft war. Mir kam es in dem Moment wirklich so vor, als hätte ich sie zum ersten Mal gesehen. Wir lagen in der Ecke eines Zimmers mit ein paar Decken und Kissen. Sandra saugte sich währenddessen mit aller Kraft an meinem Hals fest. Aber ich konnte mich eigentlich nicht beschweren: eine unvergleichliche Partynacht, ein Mädchen, was drauf und dran war, sich in
mich zu verbeißen. Was wollte man mehr? Es wäre schön, wenn man manchmal einfach den Kopf ausschalten könnte. Ich könnte es gut gebrauchen. Diese lästigen Gedanken und Fragen, die mir immer zum falschen Zeitpunkt das Leben schwer machten. Einfach ausschalten. Und genießen. Sie schmeckte nach Sekt.
Mit der Hand fasste sie mir zwischen die Beine. Im Flur lief ständig irgendwer von links nach rechts und von rechts nach links. Sie hat ein bisschen gemacht, was sie wollte. Und ich habe sie machen lassen. Es war wieder genauso ungewöhnlich warm wie letzten Tage auch schon. Die Sonne brannte uns ins Gesicht als wir mit der Hochbahn über die Oberbaumbrücke fuhren. Es ging nach Kreuzberg. Später zum Konzert. Das hört sich jetzt vielleicht unwahrscheinlich an, aber es war das erste Mal, dass ich nach Kreuzberg kam.
Wirklich, das erste Mal. Im Park trafen wir eine Freundin von ihr. Sie rief zu ihr rüber. Gleichzeitig nahm sie meine Hand in ihre. Dann stellte sie mich vor. Sie erzählte ihr von der Party, der guten Musik und dem lila Plüschsessel, den sie extra mitgebracht hatte, um einen Typen abzuschleppen. Die beiden lachten sich eins. Erst jetzt wurde mir klar, dass es ein Gag von ihr gewesen war, dass sie den mitgebracht hatte. Sie tratschten noch eine ganze Weile weiter, was mir die Gelegenheit gab, Sandra eine Zeit
lang von oben bis unten zu betrachten. Wenn sie sprach, wackelten ihre dunklen glatten Haare im Takt hin und her. Sie sah so anders aus jetzt bei Tageslicht, dass mir ein wenig Angst und Bange wurde. Wie soll ich sagen, sie war wenig proportioniert. So stand ich da, im Herzen von Kreuzberg am Görlitzer Park, völlig verloren. Lena war unerreichbar und würde es bleiben, für immer. Warum zum Teufel himmelte ich Lena bloß so an. Wir holten uns einen Döner mit viel Knoblauchsoße und pflanzten uns auf die Wiese. Sie
fütterte mich mit Zwiebelringen und Rotkohlstückchen. Ich hatte das Gefühl, dass alle Welt uns beobachtete, mich beobachtete, wie ich hier mit einem Mädel rummachte, was mir eigentlich nicht zu gefallen schien. Bescheuert, oder? Und am Liebsten wäre es mir gewesen, hätte sie mich auf der Stelle durchgevögelt. Und alle Welt hätte dabei zugesehen, Cool und Zeiger, meine Mutter, mein Vater und natürlich Lena. Obwohl es ihr sicher am Arsch vorbei gegangen wäre. Livesex im Park mit Videostream im Internet. Das Konzert
war Open Air. Es sollten "Die Ärzte" spielen, was sie auch wirklich taten.
Sandra war Ärztefan total. Sie hatte sich seit Wochen darauf gefreut, auch weil es umsonst war. Das Ganze war gesponsert von Ikea, glaube ich. Ich weiß es nicht mehr. Ich tat so, als wäre ich begeistert. In Wirklichkeit fand ich die "Ärzte" scheiße. Ich meine, die Musik ist ganz Okay, aber die Typen gehen mir tierisch auf die Nerven. Der Platz gefüllt, die Stimmung gut, obwohl alles noch drei Stunden hin war. Von der berühmten Kreuzberger Mischung hatte ich schon mal gehört. Freaks mit Rastamähne machten
Varietékunststückchen. Ein Punk spielte zur Einstimmung auf der Gitarre Ärztesongs nach. Natürlich mussten wir uns dazusetzen. Ich kaufte ein paar Dosen Bier von einem türkischen Jungen, der aussah wie höchstens acht. Von irgendwoher kam ein Joint und machte die Runde. Aber Kiffen ist nichts für mich. Ich habe es einmal probiert und kam ziemlich schlecht drauf. Sandra behielt die Tüte einfach bei sich, bis sie aufgeraucht war. Wir saßen da und inhalierten die coole Atmosphäre. So verging die Zeit. Irgendwann
stand auf einmal ein Typ auf der Bühne und machte eine Ansage. Mit dem Zeitpunkt änderte sich alles schlagartig. Wie auf Knopfdruck setzte sich die träge Masse plötzlich in Bewegung. Alles stürmte nach vorne. Sandra riss mich hoch und zerrte mich mit, so weit es ging, bis fast ganz nach vorne. Und dann kamen auch schon die großen Stars auf die Bühne. Alles tobte, ich mitten drin. Ich hab sie verloren, erst ihre Hand, dann aus den Augen. Und ich muss ehrlich sagen, es tat mir nicht Leid in dem Moment. Die Bewegungen
der tobenden Masse und ihr Rhythmus schoben mich langsam zur Seite weg. Es war wie auf dem Wasser, wenn man so langsam weggetrieben wird. Später hab ich sie noch einmal kurz gesehen. Es war am Ende des Konzerts. Die Leute schrien wie verrückt: "Zugabe". Da tauchte sie plötzlich aus der Masse auf.
Auf ihrem Shirt hatte sie einen großen breiigen Fleck. Es sah aus wie Kotze.
Ich war froh, dass sie mich nicht sah, obwohl wir nicht weit auseinander standen. Sie lief umher und wusste nicht so recht, was sie machen sollte.
Ich ekelte mich in dem Moment irgendwie vor ihr, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung hatte, was da passiert war. Und es interessierte mich auch nicht mehr wirklich.
6. Tim
Ron hatte von diesem Konzert gehört. Das war seine Idee. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Die Ärzte, live und draußen. Er wollte da hin und es war klar, dass ich mitkomme. Wir waren Ärztefans, früher jedenfalls. Heute nicht mehr so, aber egal. Tina kam natürlich auch mit. Logisch. Das war der Haken, obwohl nicht wirklich. Eigentlich war es gut, würde ich im Nachhinein sagen, weil es Klarheit schaffte. Sie war mir peinlich - vor Ron, den anderen Jungs, die dabei waren und überhaupt. Sie hatte wieder diese
luftigen Klamotten an, die ich einfach nur zum Schreien fand. Ich habe es dann gesagt, so mittendrin, einfach so, ansatzlos, ohne Vorwarnung. Ich gebe es zu, es war auch von außen inspiriert. Die Ärzte spielten gerade diesen Song: Männer sind Schweine. Das war eine Warnung. Ich sagte zu ihr: "Du Tina, mach dir wegen mir bitte keine falschen Hoffnungen. Du bist zwar in mich, ich aber nicht in dich", und so weiter und sofort. "Alles kein Problem, es sollte nur gesagt sein, dass kein falscher Eindruck
entsteht." Fair play. Nicht, dass ich es für den richtigen Moment hielt. Es kam wirklich spontan. Es war einfach überfällig. Für sie war es die Katastrophe, natürlich. Sie verschwand ohne ein Wort. Und wir feierten weiter. Sangen mit wie die Schuljungen von Paul dem Bademeister und Claudia ihrem Schäferhund.
Gegen Ende des Konzerts kam ihr Auftritt, sozusagen die Revanche. Es war sicher eine halbe Stunde vergangen. Genug Zeit sich so richtig vollaufen zu lassen. Man war mir das peinlich. Wissen Sie, so als wenn man auf einem Betonsockel steht und im Boden versinken möchte. Tina stand plötzlich auf der Bühne, völlig betrunken. Sie musste sich in kürzester Zeit die Kante gegeben haben. "Die Ärzte" hatten sich gerade Backstage zurückgezogen. Sie ließen sich feiern. Die Leute tobten, klatschten Zugabe. Tina,
allein auf der Bühne, erinnerte mich ein bisschen an Jennis Joplin, irgend so ein uralter Videoclip, den ich gesehen hatte. Alle dachten, das würde dazugehören, es käme eine wichtige Ansage oder so was. Es wurde leise. Tina schaute in die Menge, sagte diesen einen Satz: "Tim, ich finde dich zum Kotzen". Und übergab sich in die erste Reihe. Kein scheiß. Wir standen nicht weit weg. Für einen Augenblick hatten sich ihr Blick und meiner gekreuzt.
Die Teenies, die ganz vorne standen, kreischten los, wegen der Kotze, aber die breite Masse fing wieder an zu grölen: "Zugabe, Zugabe!" Ron und die Jungs feierten mich. Ich war so etwas wie Held für sie. Und ich? Keine Ahnung. Die Ärzte spielten keine Zugabe. Am Imbiss gabs das nächste Bier. Um die Ecke hatte sich ein Tumult entwickelt. Ein Haufen durchgeknallter Spinner fing an zu randalieren. Ärgerten die sich, dass es keine Zugabe gab?
Also, das ging mir absolut nicht in die Birne. Sie hatten die Scheiben bei einem Supermarkt eingeschlagen und bedienten sich munter drauf los. Keine Polizei weit und breit. Als hätten die sich extra verzogen. Von Ron und den Jungs war auch nichts mehr zu sehen. Ich hatte den Überblick verloren, wollte eigentlich nur noch nach Hause. Von irgendwoher flogen Steine irgendwohin. Es war eine regelrechte Schlacht. Einer musste mich getroffen haben, ich merkte es am Knöchel. Natürlich wäre alles anders gekommen, hätte
dieser Stein mich nicht am Knöchel getroffen. Oder hätte ich diesen Stein nicht aufgehoben. Aber eigentlich würde ich sagen, hatte dieser Stein nicht direkt etwas damit zu tun wie es dann kam. Das Bier in der einen, den Stein in der anderen Hand ging ich rüber zu den Idioten, die den Supermarkt plünderten. Es war wirklich unfassbar, das müssen sie mir glauben. Man kennt das ja sonst nur aus dem Fernsehen, Irak, Südamerika. Die Eingangstür war mittlerweile gar nicht mehr existent. Die Typen schleppten raus, was
sie in die Hand bekamen, hauptsächlich Bier und Süßigkeiten. Primitiv, oder?
Nicht, dass ich etwas gegen die im Einzelnen hatte. Was weiß ich, was die für Probleme haben, die mich nicht im Geringsten interessierten. Irgendwie hat mich die ganze Situation einfach provoziert. Sicherlich, das Bier tat sein übriges. Sagen wir mal so, ich folgte einfach einem spontanen Gefühl meines Rechtsbewusstseins. Ich bin also rein in den Laden, schaute mich um.
Weiter hinten packte einer eine Bananenkiste voll. Es sah aus, als wäre er am Einkaufen. Ich fragte den Typen, ob es ihm gut gehe, und überhaupt, ob ihm klar wäre, was er hier mache. Und er schaut mich an und sagt: "Ick geh shoppen, alta". Ein Jugendlicher, vielleicht sechzehn, höchstens. Er hielt mich für bescheuert. Ich kann nicht sagen, dass es eine Kurzschlussreaktion war. Selbstverständlich war ich selber überrascht über mich. Noch mehr überraschten mich allerdings die Anderen im Laden. Ich nahm
den Stein, den ich noch immer in der Hand hielt, der mir draußen gegen den Knöchel gedengelt war, holte aus und schlug ihn dem Typen von der Seite gegen den Kopf, etwa auf Höhe des Ohrs. Rums. Es knallte und er flog der Länge nach hin, hielt aber die Kiste, die Bananekiste mit seinem Einkauf immer noch fest in seinen Händen. Unglaublich, oder? Das müssen Sie sich mal vorstellen. So wichtig war ihm die scheiß Bananenkiste mit den Kram, dass er sie in der Sekunde der Wahrheit in der Hand behielt. Und da lag er
dann, Blut lief ihm an der Seite runter. Nicht wenig. Für einen kurzen Augenblick bekam ich einen Schreck, ehrlich. Also, ich wollte ihn ja nicht umbringen.
Und die anderen Idioten im Supermarkt, was machten die? Nichts. Jeder war mit sich beschäftigt. Sicher, es war laut, keiner hatte es direkt gesehen.
Vielleicht eine hektische Situation. Aber ich fand es bezeichnend.
7. Falk
Ich habe mich im Nachhinein öfter gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, bei ihr zu bleiben. Sicher, es wäre alles anders gekommen. Aber das ist ja immer so. Und es ging einfach nicht. Ich würde sagen, sie hat mich losgelassen. Und das war es dann auch. Alles was danach passierte, hat ja eigentlich nichts direkt damit zu tun. Aber klar ist natürlich, ohne sie wäre ich nie nach Kreuzberg gekommen, nie auf dieses Konzert. Und wie dann alles gekommen ist. Ich konnte alles beobachten, wie das ganze Chaos langsam
aber sicher entstand. Eine Horde Punks hatte sich schon eine ganze Weile vor dem Supermarkt versammelt. Ich erkannte die zwei von gestern, die mich nach dem Weg gefragt hatten, Kreuzberg und so. Der eine schrie immer wieder: "Bier her, Bier her" oder so ähnlich. Immer wieder. Ein Haufen Hunde spielten miteinander, bis ein Rottweiler dazukam und die anderen aufmischte.
Das sah nicht schön aus. Er verbiss sich in einen der Mischlinge. Der Punk, dem der Hund gehörte, hüpfte wild umher, um ihn zu retten. Er hatte einen Irokesenhaarschnitt und sah in dem Moment wirklich aus wie ein Indianer, der ein Tänzchen veranstaltete. Ein Stück weiter hatten Leute ein Lagerfeuer entzündet, im Hintergrund Trommeln zu hören. Überhaupt war viel Bewegung in den Platz gekommen. Sicher waren einige von der Musik gepuscht. Eigentlich war keine gewalttätige Atmosphäre, eher irgendwie Volksfeststimmung.
Ich sah wie sich ein paar Typen mit Kapuzen an der Tür vom Supermarkt zu schaffen machten. Die Scheiben haben sie nicht eingeschlagen. Da waren nämlich Rollos vor. Dann kamen noch welche mit einer Holzbohle, die sie als Ramme benutzten, was weiß ich wo sie die her hatten. Und "Bums", auf war die Tür.
Der eine schrie noch: "Hey Leute, es gibt Volksbier für alle", und warf einen Karton Dosenbier auf die Straße. Nicht, dass ich das alles gut fand, aber es war schon irgendwie witzig, die Situation, alle gehen da rein und nehmen sich, was sie wollen. Steine sind keine geflogen. Jedenfalls bis dahin, das habe ich gesehen. Und dann irgendwann passierte das Unglaubliche. Lena kommt auf mich zu, ausgerechnet in diesem Durcheinander, läuft direkt an mir vorbei. Sie erkennt mich, dreht sich um und spricht
mich sogar an: "Was denn, du auch hier?" Und ich: "Ja. Wieso? Wer denn noch?" "Wer denn noch." Mir fiel wirklich nichts Besseres ein in dem Moment. Aber es war irgendwie auch egal. Ein Typ, den ich noch nie im Leben gesehen hatte, rief sie zu sich rüber. Und ohne ein Anzeichen davon, dass diese Begegnung wirklich stattgefunden hatte, war sie auch schon wieder verschwunden. Ich starrte rüber zum Supermarkt, ein Vermummter verteilte gerade Bierdosen. Ich war irgendwie perplex, auf
alle Fälle ging ich langsam auf den Eingang zu. Dann kam einer auf mich zu, den ich auch noch nie im Leben gesehen hatte, ein schicker Typ, braun gebrannt und drückte mir einfach so einen Schokoladenosterhasen in die Hand: "Ein Geschenk des Hauses", kurz und knapp, als wäre er der Filialleiter persönlich. Mein erster Osterhase in diesem Jahr, obwohl Ostern längst vorbei war. Vielleicht habe ich gut und gerne fünf Minuten mit dem Schokohäschen in der Hand so dagestanden. Es muss bescheuert ausgesehen
haben. "Haut ab, haut ab", hörte ich irgendwie hinter mir. Von überall her flogen Metallkartouchen auf den Platz. Sie rauchten und drehten sich lustig im Kreis. Ich weiß noch, dass ich mich fragte: "Oh, sehr witzig, wer hat sich das denn jetzt ausgedacht?" "Rock´n Roll", schrie einer hinter mir. Und schon brannte es in meinen Augen und im Hals, als hätte ich eine Flasche Tabasco getrunken. Das Rollkommando der Polizei fegte über den Platz, von allen Seiten, so was hatte ich noch
nicht erlebt. Alles rannte.
Ich rannte mit, in irgendeine Richtung. Da, wo alle hin rannten, keine Ahnung in welche, ich konnte nichts sehen, die Augen brannten, ich hätte Kotzen können. Meinen Freund, den Osterhasen hielt ich fest umklammert. Und weil ich wohl zu viel von diesem Zeug inhaliert hatte, war ich bald der Letzte. Und den letzten beißen bekanntlich die Hunde. Und weil es eben keine Hunde waren, die da hinter mir her waren, spürte ich keine Zähne die sich in meinem Arsch verbissen, sondern einen harten Schlag auf meinem Kopf,
der mich zum Stehen brachte oder besser gesagt, zum Erliegen. "Ich brauche einen Arzt", krächzte ich mit letzter Kraft. Und der Bulle über mir, der mich gestoppt hatte: "Die Ärzte sind schon nach Hause gefahren." Ich fand es gar nicht lustig. Stattdessen durfte ich im Mannschaftswagen mitfahren, liegend mit einem Stiefel im Nacken, der meinen Kopf zu Boden drückte. Beim Verhör am nächsten Morgen zauberte ein Beamter dann tatsächlich wieder den Osterhasen hervor. Es war wirklich eine magische
Situation. Es fehlte nur noch, dass er ihn aus dem Hut holte. Ich begrüßte meinen Freund: "Hey, wo kommst du denn her? Ich habe dich schon so sehr vermisst." "Sie erkennen ihn also wieder?", fragte mich der Beamte. "Ja, sicher. Das ist doch mein Freund der Osterhase", sagte ich nur. Und der Beamte: "Junge, Junge, du hast wohl zu Ostern nichts von deinen Eltern bekommen." Und dann konnte ich gehen.
"Sie hören dann von uns", sagte er noch. Aber ich habe nichts mehr von ihnen gehört. Den Osterhasen konnte ich mitnehmen. Ich hatte Glück. Das glaube ich jedenfalls. Es hätte auch anders kommen können. Es hätte alles ganz anders kommen können.
8. Tim
Für mich war der Fall abgeschrieben. Das war vielleicht ein bisschen naiv.
Sicher, ich habe an die Möglichkeit gedacht, so allgemein, aber gerechnet habe ich nicht damit. Und schon gar nicht zu dem Zeitpunkt. Sie haben mich eiskalt erwischt. Das Mädel, was ich am Abend in der EX-Bar am Tresen aufgerissen hatte, Susan, da bestand sie drauf, war noch da, als es klingelte und diese Polizeitypen in Zivil vor der Tür standen. Warum ich überhaupt zur Tür gegangen war, verstand ich selber nicht. "Herr Reichelt? Haben Sie Zeit uns ein paar Fragen zu beantworten?" Wie im Film, original.
Der eine hielt mir seinen Ausweis vor die Nase. Ich hatte solche Augen. Der Typ hätte mir einen U-Bahn-Fahrschein zeigen können, ich hätte es nicht gemerkt. "Wieso, was, warum?" Im Hintergrund stand eine ältere Dame, Frau Becker, meine immernette Nachbarin. Sie musste die freudige Ankunft im Spion beobachtet haben. Fast gleichzeitig trat sie mit mir vor die Tür. Mit giftigem Blick: "Der da, der war´s, der hat mir die Handtasche gestohlen", stand sie im Hausflur und gab den beiden in dieser
gefährlichen Situation offensichtlich Rückendeckung. So kannte ich sie gar nicht. Ich muss eine Figur abgegeben haben. Hätte nur noch gefehlt ohne Unterhose dazustehen. "Na ja, eigentlich nicht", sagte ich ganz ehrlich. "Können Sie nicht später noch mal wieder kommen?" Und der andere: "Es wird nicht lange dauern. Dürfen wir reinkommen?" Sie meinten es ernst. Also habe ich mich angezogen, um mit den beiden ein Schwätzchen zu halten. Ich ahnte ja trotz allem in dem Moment nicht, warum
die beiden Herren Beamten mich so dringend sprechen wollten.
Susan, mein blondes Gift quiekte irgendetwas im Schlafzimmer und stand plötzlich auch noch da. Sie war etwas irritiert, hüpfte halb nackt zwischen den beiden herum, um schnellstmöglich zu verduften. Wie die beiden Kriminalbeamten loslegten, sagte ich gar nichts mehr. Ich meine, ich gab alles zu. Warum hätte ich auch leugnen sollen. Ich war augenscheinlich der gesuchte Mann, Widerspruch zwecklos. Natürlich tat ich so als hätte ich das Foto zum ersten Mal gesehen. Aber ich versuchte den Beamten die ganze Wahrheit
zu erzählen. Na gut, nicht die Ganze. Den kleinen Zwischenfall verschwieg ich. Das machte die Sache nicht unnötig kompliziert. Es hätte, glaube ich, Ärger gegeben, obwohl es in meinen Augen ja eine Art Notwehrsituation war, moralisch gesehen. Meine Neugier, meine Entrüstung über diese Idioten. Das konnte doch alles nicht angehen. Das gute Konzert, die gute Stimmung, bis zu diesem Zeitpunkt. Und wenn die Polizei früher gekommen wäre, wäre das alles nicht passiert. Ein schlagendes Argument. Ich redete und redete
und ließ die beiden kaum zu Wort kommen. Und alles ohne einen Kaffee vorher. Am Ende hatte ich sie so weit. Der eine ließ durchblicken, dass er auch mal Ärztefan gewesen war, früher, genauso wie ich. Da hatten wir es doch. Das konnte kein Zufall sein. Vielleicht zahlte sich auch in diesem Moment das Kommunikationstraining von Frau Luisa Obertittengeil aus, das ich ja vor nicht allzu langer Zeit erfolgreich absolviert hatte. Auf alle Fälle glaubten die beiden mir meine Geschichte, die im Großen und Ganzen nicht
so weit her geholt war. Ich war raus aus der Sache. Über mein Foto auf den Plakaten würde ein Kreuz gemacht. Zum Revier, unterschreiben, aus, Bums, Akte zu, erledigt, jedenfalls so gut wie. "Ich hab´s dir ja gesagt." Das war alles, was Ron zu meinem Besuch am Vormittag einfiel. Wir sahen uns im Büro. Und dann lachten wir. Und er fragte mich, wie die Nacht mit der Blondine gewesen wäre. Und ich sagte: "Nicht schlecht." Und dachte: hätte besser sein können.
9. Falk
"Erzähl bitte den Eltern nichts." Den Satz konnte ich mir bei Franka sparen.
Nicht im Traum hätte sie den Eltern von der Sache erzählt. Ich sagte "Hallo" als wäre nichts gewesen. "Na, mein Junge, alles klar?" Ich antwortete nichts, nickte nur, ging in mein Zimmer und freute mich wieder in meinen eigenen vier Wänden zu sein. Ich musste schlafen. Die Eltern hatten einen schönen Urlaub. Wer sagt´s denn? Ich erzählte ihnen von meinem Ausflug zu Franka und dem Kleinen. Mama war ganz interessiert: "Und wie geht es unserem Kleinen?" Papa ignorierte das, fing an
vom Wetter zu erzählen, das wirklich großartige Wetter. Und dass er nicht verstehen könnte, wieso die Deutschen immer wieder nach Mallorca fliegen müssten, wo es doch an der Ostsee so schönes Wetter hat. Lena hab ich in der Schule wieder gesehen. Sie hat nichts gesagt. Warum auch. Überhaupt haben wir den Rest der Schulzeit kein Wort mehr miteinander gesprochen. Neulich hab ich sie mal wieder gesehen, von weitem. Cool wollte natürlich wissen, was so in Berlin passiert war die zwei Wochen in den Ferien. Ich erzählte
ihm von der Tankstelle, Henker und dem Türken, der Razzia und dem ganzen Gerenne. Mittlerweile sitzt er sogar im Knast. Aber nicht wegen dem Türken, sondern wegen einer Schießerei, aber keiner weiß was Genaues. Von Kreuzberg habe ich ihm nichts erzählt, obwohl er es vielleicht wirklich cool gefunden hätte. Ich behielt das Ganze für mich, nur Franka wusste Bescheid. Ich habe sie jetzt öfter besucht und Luis.
Er ist wirklich groß geworden. Und wenn ich ehrlich bin, hätte ich Sandra gerne mal wieder getroffen. Das sage ich jetzt so im Nachhinein. Vielleicht hätte es doch was mit uns werden können? Ich wünsche ich mir manchmal, ich würde sie zufällig auf der Straße wieder treffen. Und sie würde mir um den Hals fallen, sich festsaugen, wie damals. Und wir könnten da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Manchmal ertappe ich mich sogar bei dem Gefühl, ich wäre heute verliebter in sie als damals. Komische Sache. Also begnüge
ich mich damit, mir abends im Bett manchmal vorzustellen, sie wäre bei mir und wir wären zusammen. Und dann saugt sie sich wieder fest bei mir. Sie küsst mich und arbeitet sich langsam nach unten. Sie küsst und saugt und küsst und saugt und saugt so lange, dass es schon weh tut. Und ich kann es nicht mehr zurückhalten. Ich werde nicht mehr lange in Hellersdorf wohnen bleiben, soviel steht fest. Die Gegend kotzt mich mittlerweile ziemlich an. Ich werde mein Glück woanders finden. Wo? Weiß ich noch nicht.
Eingereicht am 27. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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