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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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... sondern fürs Leben

©Eva Markert

Samstags, gleich nach dem Aufwachen, dachte Christiana zum ersten Mal daran. Wie ein Schleier legte sich das mulmige Gefühl über ihr Wochenende.
Niemand konnte sie verstehen. "Stell dich nicht so an!", sagte ihre Mutter. Der Vater versuchte sie zu beruhigen. "Es passiert schon nichts." Dennoch wurde der Schleier bis zum Sonntagabend immer dichter und dunkler.
Und dann kam der Montag, der schrecklichste Tag der Woche. Den Freitag fand sie auch schlimm, aber nicht ganz so, weil sie da nur eine Stunde hatten und außerdem gleich in der ersten. Am Montag war es eine Doppelstunde und sie musste bis zur fünften warten.
In der zweiten großen Pause kauerte sich Christiana auf die Stufen der Turnhalle. Sie fühlte sich nicht gut. Zum Frühstück hatte sie nichts essen können. Nun tat ihr der Bauch weh.
Sophie setzte sich neben sie.
"Ich glaube, mir wird übel", sagte Christiana.
"Du willst dich bloß drücken."
Sophie konnte nicht begreifen, warum Christiana den Sportunterricht so furchtbar fand. "Immerhin ist das besser als Mathe oder Geschichte", sagte sie. Christiana mochte Mathe und Geschichte auch nicht, aber sie hätte zehn Geschichtsstunden oder mehr über sich ergehen lassen, wenn dafür einmal Sport ausgefallen wäre.
Nach und nach versammelten sich die Sechstklässlerinnen vor der Turnhalle. Beim ersten Gong wurde die Tür von innen aufgestoßen und die Mädchen drängten hinein.
Christiana verkroch sich in eine Ecke des Umkleideraums. Alle schrieen durcheinander, Hosen und T-Shirts wurde in Knäueln auf die Bänke geworfen, der Boden war übersät mit Schuhen und einzelnen Strümpfen.
Langsam band sich Christiana die Schnürsenkel zu. Sie verabscheute ihre neuen Hallensportschuhe. Ausgerechnet zum Geburtstag hatte sie die bekommen. Sie hockten zwischen den Geschenken, breit und hässlich, und guckten sie hämisch an. Christiana hatte die Dinger sofort unter den Tisch gestellt.
"Beeil dich! Die Habicht ruft schon die Namen auf!"
Christiana holte tief Luft. Es half nichts. Sie musste da jetzt reingehen.
Der Turnhallengeruch schnürte ihr die Kehle zu. Der Druck im Magen wurde stärker.
"Christiana!"
In ihren Ohren rauschte es. "Hier."
Und dann begann das bange Warten. Was war heute dran? Hoffentlich, hoffentlich Handball. Dabei konnte sie sich ins Tor stellen und rechtzeitig ausweichen, wenn die anderen auf sie zustürmten. Bloß nicht Völkerball! Ein entsetzliches Spiel! Wie eine Kanonenkugel schoss der Ball durch die Halle. Klatschrote Flecken hinterließ er auf der Haut, wenn man davon getroffen wurde. Einmal hatten sie ihr die Brille von Nase geschlagen. Ganz verbogen war sie danach.
Ach, wenn die Habicht doch "Circletraining" sagen würde! Mit einem Schlag wäre sie ihre Sorgen für heute los. Davon bekam sie zwar immer Seitenstiche, aber gefährlich war es nicht.
"Geräteturnen, bitte, bitte Geräteturnen!", bettelten die einen.
Die anderen versuchten sie zu übertönen. "Völ-ker-ball! Völ-ker-ball!"
Christiana schrie am lautesten. "Circletraining!"
"Bist du verrückt?" Sophie stieß sie in die Seite.
Die Habicht stand auf. Sie hatte sich entschieden. "Stufenbarren."
Das Fünkchen Hoffnung verlosch. Stufenbarren - das schlimmste Gerät von allen.
Während der Barren aufgebaut wurde, hockte sich Christiana neben Ute auf die Bank. Wie sehr sie Ute beneidete! Die brauchte nicht mitzuturnen, weil sie sich neulich im Sportunterricht verletzt hatte. Nun musste sie mit Krücken herumlaufen, weil ein Fuß in Gips war. Trotzdem hätte Christiana liebend gern mit ihr getauscht.
"Eine Riege bilden!" Die Stimme der Habicht schnitt durch das Geschrei. Christiana tat, als hätte sie nicht gehört, und redete weiter mit Ute. Vielleicht würde die Habicht sie übersehen, vielleicht brauchte sie wenigstens die erste Übung nicht mitzumachen ...
"Das gilt auch für dich, Christiana!"
Ihre Beine fühlten sich schwer an, als sie zu den anderen hinüberging und sich einreihte.
Die Sportlehrerin klatschte in die Hände. "Unterschwung!" Sie setzte sich auf den Boden. Die Pfiffe aus ihrer Pfeife gellten in Christianas Ohren. Ein Mädchen nach dem anderen sprang. Die Schlange vor ihr wurde schnell kürzer. Als sie an der Reihe war, packte sie mit beiden Händen den hohen Holm und stellte ihre Füße auf den niedrigen.
Die Habicht nahm ihre Pfeife aus dem Mund "Nun mach schon!"
Ein paar Mädchen stießen sich an.
Vorsichtig ließ sich Christiana über den unteren Holm gleiten und landete mit einem Plumps auf den Füßen.
"Springen sollst du! Der Barren ist doch keine Rutschbahn!"
"Christiana rutscht lieber", rief jemand. "Kein Wunder! Ihr Rücken ist so schön dick gepolstert!"
Alle schütteten sich aus vor Lachen, und am lautesten lachte die Habicht.
Mit gesenktem Kopf trottete Christiana ans Ende der Reihe.
"Felgaufschwung!"
Der schmerzhafte Druck in ihrem Leib nahm zu. Die Rolle rückwärts über den hohen Holm fürchtete Christiana besonders. Sie fand das Gefühl grauenvoll, wenn oben auf einmal unten und unten oben war. Heimlich beobachtete sie ihre Mitschülerinnen und wartete auf eine günstige Gelegenheit. Jetzt! Sie huschte ans Ende der Riege, wo die Mädchen standen, die ihre Übung bereits gemacht hatten.
"Die Christiana hat sich schon wieder gedrückt!"
Von vielen Händen wurde sie nach vorn geschoben.
Die Habicht sprang auf und trat auf Christiana zu. "Du bist die Nächste!"
Christiana blickte zu Boden. "Ich kann das nicht", flüsterte sie.
In der Halle wurde es sofort leiser.
"Du hast es ja noch nicht einmal versucht."
"Ich hab Angst."
"Angst ist dazu da, überwunden zu werden."
Der Ring, den die Mädchen um den Barren gebildet hatten, zog sich zu.
"Ich fall bestimmt runter."
"Na und? Dann fällst du eben."
"Aber das tut doch weh."
"Kind! Du kannst dich nicht ständig in Watte packen. Also los jetzt!"
Christiana setzte an, obwohl sie wusste, dass es unmöglich war.
"Ich komm nicht rum!"
"Du musst dir mehr Mühe geben!"
"Es geht nicht."
Einige Mädchen tuschelten.
Die Habicht schüttelte den Kopf und seufzte. "Stell dich wieder hinten an. Und jetzt macht ihr eine Hockwende."
Christiana konnte nicht verstehen, wie die anderen so einfach über den schwindelerregend hohen Holm springen konnten. Sie befürchtete immer, dass sie mit einem Fuß daran hängen bleiben würde.
Die Habicht ließ sich wieder im Schneidersitz auf dem Boden nieder und pfiff.
Nora trat vor. Elegant schwang sie sich über den oberen Holm und - verlor das Gleichgewicht. Hart schlug sie auf dem Boden auf.
Gelächter hallte von den Wänden wider.
Nora lag wie ein Käfer auf dem Rücken. Und da geschah etwas Merkwürdiges: Ganz von selbst lachte Christiana mit. Sie presste die Hand vor den Mund, aber es sah wirklich zu komisch aus. Für einen Augenblick ließ der Druck in ihrem Innern nach.
Die Habicht half dem Mädchen aufzustehen. Nora war ganz blass. "Ich habe plötzlich keine Luft mehr gekriegt", stammelte sie.
Das Lachen blieb Christiana im Halse stecken.
Die Lehrerin hieb Nora auf die Schulter. "Das ist normal, wenn man auf den Rücken fällt."
"Ich dachte, ich muss sterben."
"So schnell stirbt sich's nicht. Setz dich einen Augenblick hin."
Christiana sah Nora nach, wie sie zur Bank taumelte.
Der nächste Pfiff ließ sie zusammenfahren. "Weiter! Du!" Die Habicht richtete ihren Zeigefinger auf sie.
Christiana konnte nicht mehr richtig durchatmen, als sie auf den Stufenbarren kletterte. Der Balken, auf dem sie stand, war viel zu schmal für die breiten Turnschuhe. Sie umklammerte den oberen Holm, aber ihre Hände waren so glitschig, dass sie sich gar nicht richtig festhalten konnte.
"Nun spring!"
Christiana merkte, wie sie zitterte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Los! Hopp!"
Die Sportlehrerin stellte sich vor den Barren. "Wenn du nicht springst, gebe ich dir eine Fünf." Sie griff in die Tasche ihrer blauen Trainingshose.
Christiana konnte sich nicht rühren. Sie schaute in die erwartungsvollen Gesichter ihrer Klassenkameradinnen. Nora und Ute am anderen Ende der Turnhalle sahen ebenfalls zu ihr herüber.
Dann fiel ihr Blick auf den Lehrerkalender. Es war ein kleines, rotes Buch und ziemlich dünn. Die Habicht schlug es auf und blätterte darin.
In diesem Augenblick geschah etwas. Christiana wurde auf einmal ganz ruhig. Der Druck verschwand.
"Einverstanden", sagte sie und stieg vom Barren.
Die Habicht riss die Augen so weit auf, dass ihre Augenbrauen unter dem fransigen graublonden Pony verschwanden.
"Geben Sie mir ruhig die Fünf. Aber Sie können mich zu nichts zwingen. Ich springe nie wieder, wenn ich nicht will."
Ihre Mitschülerinnen murmelten. Doch die Habicht sagte gar nichts. Sie steckte ihr Notenbuch in die Tasche und pfiff. "Die Nächste!"
Christiana stellte sich hinten an.


Eingereicht am 25. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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