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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Willkommen in meiner Welt

© Maike Schneider

Lasst Euch von mir eine Geschichte erzählen.
Gleich vorneweg: eigentlich ist es keine Geschichte. Es ist mein Leben.
Ich möchte gerne erzählen, was mir passiert ist. Mit mir geschehen. Was mich erwischt hat. Oder wie ich zur falschen Zeit am falschen Ort war.
Wenn es mir ganz schlecht geht, rede ich mir ein, ich wäre gar nicht ich. Ich wäre jemand anderes. Jemand aus einer anderen Familie, jemand, wie er bei jedem gleich nebenan wohnen könnte. Ich erzähle es jetzt einfach, ja? Stellt Euch vielleicht vor, ich würde von jemandem anderen erzählen. Von jemandem, der es vermutlich verdient hat. Aber, was haben Kinder verdient? Außer, dass man sie liebt und gut für sie sorgt. Und hier fängt meine Geschichte an.
Geboren wurde ich 1985. Im Herbst. Ich hatte bereits jede Menge Geschwister und im Laufe der Jahre wurden es noch mehr. Ich war das fünfte Kind von neun. Das erste Mädchen, und bis zum jüngsten Kind auch die Einzige. Als Sarah auf die Welt kam, war ich sieben. Ich war grade eingeschult worden. Mit Schultüte und allem Pipapo. Das war ein ganz schöner Auflauf, ich kann mich noch gut erinnern. Alle hatten sie mich begleitet. Papa trug den Jüngsten, Aaron, auf dem Arm, Mama hatte mal wieder einen dicken Bauch, weil Sarah bald auf die Welt kommen sollte.
Und dann, wie die Orgelpfeifen, wir Großen. Alle starrten uns mit großen Augen an. Es wurde getuschelt und gelacht. Aber das waren wir schon gewohnt. Sprüche wie "Bei denen hat die Verhütung aber auch nicht geklappt", "Den Klapperstorch zum Dauergast?", "Eure Eltern haben wohl nur ein Hobby, was?", oder gar: "Fickfick, hurra!".
Wisst Ihr, eine große Familie zu haben, ist eine tolle Sache. Es ist immer jemand zum Spielen oder Streiten da. Größere Geschwister helfen den kleineren. Die Mutter motzt weniger, weil sie genug anderes zu tun hat. Man ist nie alleine, wenn man's nicht möchte. Man kann alleine sein, wenn man will. Ich hatte mein eigenes Zimmer, bis Sarah da war, und dann waren wir zu zweit. Die Jungs teilten sich drei Zimmer. Unser Haus war vielleicht nicht das Modernste, aber es war groß und gemütlich.
Es wäre einfacher für uns alle gewesen, wenn die anderen Leute nicht ein Problem damit gehabt hätten, dass es Menschen gibt, die mehr als nur ein Kind haben wollen. Und sich auch trauten, sie zu bekommen.
Wir Kinder hatten uns einen Blick angewöhnt, den wir den 'grimmigen Blick' nannten. Simon, der Älteste, lehrte ihn uns. Wir sahen damit überheblich aus, wütend, abweisend und jeder, der diesen Blick erntete, war in Gefahr, verhauen zu werden. Das war in der Gruppe ganz okay. Aber als Mädchen, das ab und zu auch ganz allein unterwegs war, gab es im Leben manchen Moment, an dem es eindeutig besser war, wenn die eigenen Füße einen schnell forttrugen.
Manchmal war ich nicht schnell genug.
Ich wurde hinterrücks geschlagen, für jedes Mal, an dem meine Brüder sich mit einem der anderen Jungs aus dem Dorf geschlagen hatten. Ich wurde getreten, an den Haaren gezogen, ins Gebüsch geworfen. Wenn meine Brüder das mitbekamen, verdroschen sie den Übeltäter, der wiederum mir dann wieder auflauerte. Ich war nicht zimperlich, oh nein, das kann man bei sieben Brüdern gar nicht sein. Ich war gut im Hauen, Kratzen, Spucken und Schreien. Aber oft nicht gut genug.
Ich war grade dreizehn geworden, als sie mich wieder einmal überrumpelten. "Sieh an, die kleine Fickificki ...", einer der geschworenen Feinde meiner beiden ältesten Brüder umrundete mich neugierig. Zwei seiner Kumpels grinsten so doof und gemein, wie nur pubertäre Dummköpfe grinsen konnten, während sie an meinen Haaren zogen oder mir in den Hintern kniffen. Ich setzte den 'grimmigen Blick' auf, aber sie lachten mich aus. Dann trat ihr Rädelsführer näher an mich ran.
Grabschte auf meine gerade sprießenden Brüste und grinste mir dabei fett ins Gesicht. Ich schlug nach ihm, aber die anderen hielten mich schnell fest. Meine Schulsachen fielen zu Boden und sie traten darauf. "Ist ja 'ne niedliche Schnecke geworden, die kleine Fickificki." "Ob die wohl auch schon das Familien-Hobby teilt?" Sie lachten höhnisch, gehässig, fies. Griffen mir erneut an die Brüste, zogen an meinem Rock. Ich zischte: "Lasst mich in Ruhe, ihr Idioten, Pfoten weg!" "Oho!", gröhlten sie, "jetzt kriegen wir aber Angst ..." "Wir zittern ja schon!" "Kommen jetzt gleich deine dämlichen Brüder und helfen der kleinen Muschi?" Und sie lachten wieder. Ich wurde hinter ein Häuschen getrieben, auf den Spielplatz, auf dem ich früher mit meinen Geschwistern gespielt hatte.
"Komm, Fickificki ..." Ich versuchte zu entkommen, wegzulaufen. Trat um mich. Kratzte, spuckte dem einen ins Gesicht.
Sie waren drei gegen eine. Geschätzte zweihundert Kilo gegen dreiundvierzig. Nüchtern betrachtet hatte ich keine Chance. Sie warfen mich zu Boden. Zerrten meine Kleidung von mir, öffneten die ihre. Kurz gesagt, sie missbrauchten mich. Lang gesagt, .... nein, ich denke, das wollt Ihr nicht wirklich wissen. Ich zumindest würde es nicht wissen wollen. Wenn ich es nur vergessen könnte.
Hinterher ließen sie mich wie Dreck liegen.
Ich raffte die kläglichen Reste meiner Kleidung zusammen, verhüllte mich notdürftig, sammelte meine verstreuten und verdreckten Schulsachen wieder ein und schlich mich nach Hause. Ich hatte panische Angst, dass mich einer meiner Brüder so entdeckte. Was die mit den Jungs anstellen würden, das mochte ich mir gar nicht vorstellen. Ich schaffte es bis in unseren Garten. Da überwältigten mich meine Schmerzen, zwischen meinen Beinen lief ein Strom Blut herab, ich konnte nicht mehr aufrecht stehen.
Wie sollte ich ungesehen den Weg bis in mein Zimmer schaffen? Wimmernd ließ ich mich am Fahrradschuppen zu Boden rutschen. Schlang die Arme um meine Knie und heulte leise vor mich hin. In meinem Kopf wirbelten Bilder des eben Erlebten durcheinander. In meinen Ohren hörte ich ihre gehässigen Stimmen, ihr ekelhaftes Keuchen. Mir war schlecht und ich erbrach mich. Da entdeckte mich meine kleine Schwester. Sie schrie: "Vicky, was ist passiert?" Noch bevor ich abwinken konnte und ihr deuten, sie solle um Himmels willen ihren Mund halten, stand Simon, unser großer Bruder, neben ihr. Er sagte nichts, fragte nichts. Bekam nur einen finsteren Zug um die Mundwinkel und hob mich vorsichtig hoch. Trug mich wie eine kostbare Fracht in mein Zimmer, legte mich sacht hin und küsste mir dann zärtlich auf die Stirn. Holte schließlich unsere Mutter und verschwand.
Ich sah ihn lange nicht wieder.
Das nächste Mal im Gerichtshof. Er und mein nächstältester Bruder, Samuel, standen unter Anklage. Ich war als Zeugin geladen. Mein Bauch war dick, so dick wie normalerweise der meiner Mutter in den letzten Wochen ihrer Schwangerschaften. Dieses Mal war ich die werdende Mutter.
Trug das Zeichen meiner Schande unter dem Herzen.
Die Erklärung für die Taten meiner Brüder.
Die Anklage lautete auf Totschlag, versuchten Totschlags und Körperverletzung. Ob mein Kind, das ja nichts für den Moment seiner Zeugung konnte und doch ein Recht auf Leben hatte, je einen leiblichen, noch lebenden Vater haben würde, konnte nur ein Gentest erweisen.
Mein Kind wuchs unter meinen Geschwistern auf. Als ob es ganz selbstverständlich eines von uns wäre. Sein genetischer Vater war am Leben. Musste die Folgen seines Tuns tragen. Sowohl im Gefängnis, indem er und sein Kumpan nach dem Prozess gelandet war, wie auch die körperlichen Verletzungen, die ihm meine Brüder zugefügt hatten, und die er sein Leben lang tragen würde. Er hat mir Briefe geschrieben, wie Leid ihm alles tun würde. Ich habe ihm nie darauf geantwortet. Was hätte ich ihm sagen sollen?
Meine Brüder haben meine verlorene Ehre gerächt. Aber war sie so viel wert? Ihr Leben ist genauso zerstört wie meines. Nie habe ich jenen Moment vergessen, war oft dort auf diesem Spielplatz. In Gedanken und in Realität. Seither darf mich kein männliches Wesen mehr anfassen, ohne dass ich sofort Angst bekomme. Mein Kind ist ein Mädchen. Sie ist sehr lieb, ruhig, ziemlich zurückhaltend. Sie ist heute sechs Jahre alt und kommt nach den Sommerferien in die Schule. Sie weiß noch nichts über ihre Zeugung. Hoffe ich zumindest. Wie soll ich es ihr sagen? Aber ich muss es, bevor der Klatsch in der Stadt auch sie erreichen wird. Was soll ich ihr sagen?
Und wieder wäre ich gerne in einem anderen Leben, an einem anderen Ort ... Verzeiht mir, wenn ich Euch erschreckt habe. Das wollte ich nicht.
Ich wollte nur eine Geschichte erzählen. Denkt nicht mehr daran. Das versuche ich auch. Tschüß, vielleicht sehen wir uns mal wieder, ja? Und ... habt Dank für Euer Zuhören.


Eingereicht am 23. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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