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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Verschlossene Türen

© Eva Markert

"Übrigens, Herr Stiller hat gleich einen Termin." Liane war dabei, die Unterlagen für die morgendliche Sprechstunde zusammenzustellen.
‚Ich weiß', hätte Beate beinahe geantwortet. Stattdessen sagte sie: "Aha."
"Der Mann sieht toll aus, findest du nicht? Und dazu noch ungebunden ..."
"Woher willst du das wissen?"
"Er trägt keinen Ring, und wenn man bei ihm anruft, meldet sich immer der Anrufbeantworter."
"Du hast bei ihm angerufen?"
Liane wandte sich ab und kramte in einer Schublade. "Ja, wegen der Termine natürlich", murmelte sie.
In diesem Augenblick stieß ein dunkelhaariger junger Mann energisch die Tür auf. Beate lächelte.
Liane zwinkerte ihr heimlich zu und verdrehte die Augen. "Bitte nehmen Sie noch einen Moment im Wartezimmer Platz, Herr Stiller", sagte sie. Kurz darauf folgte sie ihm, tänzelte durch den Raum und ordnete Zeitschriften. Sie versuchte unablässig, den Mann in ein Gespräch zu verwickeln, obwohl er sich in eine Zeitung vertieft hatte und nur einsilbige Antworten gab.
Kurz nachdem er im Sprechzimmer verschwunden war, ging die Tür wieder auf. "EKG, bitte!"
Liane war schneller. Sie rannte geradezu in den Behandlungsraum. Ihr Plappern drang durch die geschlossene Tür und Beate konnte beide laut lachen hören. Dann war es eine Zeitlang still. Sie lauschte. Kein Laut. Sie würden doch nicht ...
Als Liane aus dem Behandlungsraum kam, brannten zwei rote Flecken auf ihren Wangen. "Ich bin hin und weg", flüsterte sie ihr zu.
Ein nagendes Gefühl breitete sich in Beate aus.
*****
Sie saßen nebeneinander auf dem breiten Ledersofa. Jörg hatte eine Flasche Wein aufgemacht.
"Das hättest du erleben müssen", sagte er. "Am liebsten hätte sie mich gleich auf der Behandlungsliege verführt. Beim Anlegen der Elektroden hat sie mit den Fingerspitzen meine Brustwarzen ..."
"Du bist eben ein attraktiver Mann." Beate küsste ihn und fuhr mit ihren Händen unter sein T-Shirt.
"Du hast also tatsächlich nichts verraten. Nie hätte ich gedacht, dass Frauen so verschwiegen sein können."
"Was sagst du da?" Beate stürzte sich auf ihn. Sie rangelten.
"Ich möchte einfach nicht, dass jemand etwas erfährt", erklärte sie. "Ich verstehe mich gut mit Liane. Außerdem ist der Chef ziemlich konservativ. Es wäre ihm bestimmt nicht recht, dass ich mit einem Patienten angebandelt habe."
"Dann müssen wir uns eben weiter verstecken. Auch wenn ich meine hübsche Freundin ab und zu mal gern herumzeigen würde."
Beate spürte, wie sie rot wurde. Noch nie hatte sie jemand hübsch genannt. "Sei mal ehrlich: Findest du nicht, dass Liane viel besser aussieht als ich?"
Jörg überlegte kurz. "Nach allgemeinen Standards vielleicht. Sie hat eine sehr gute Figur, lange Beine ..."
"Und die zeigt sie bei jeder Gelegenheit", warf Beate ein.
"Warum auch nicht?", fuhr Jörg fort. "Dazu die langen blonden Locken - sie ist schon ein Hingucker."
Beate strich sich durch ihre kurz geschnittenen braunen Haare.
"Aber du", Jörg umarmte sie, "mit deinem lieben, süßen Gesicht gefällst mir trotzdem tausendmal besser!"
Beate lehnte sich an ihn. Ein Schatten hatte sich über den Abend gelegt.
Plötzlich sprang Jörg auf. "Beinahe hätte ich es vergessen. Ich habe was für dich." Vorsichtig öffnete Beate das Kästchen. Darin lag ein roter Schlüssel. Fragend sah sie ihn an.
"Das ist ein Schlüssel zu meinem Haus", erklärte er. "Den habe ich für dich machen lassen. Du kannst jetzt kommen und gehen, wann du willst."
Nur für einen Augenblick wurde der Schatten heller.
*****
"Du, der Stiller hat heute schon wieder einen Termin. Dabei war er doch erst gestern da und hat sich ein Rezept geholt."
"Na und? Er kommt, weil der Chef ihm einen Termin gegeben hat."
"Ich weiß nicht, ich weiß nicht." Lianes Mund näherte sich Beates Ohr. "Ich habe das Gefühl, dass mehr dahinter steckt. Achte mal auf seine Blicke. Manchmal starrt er mich geradezu an. Meine Beine ..." Sie zupfte an ihrem Minirock.
"Das bildest du dir ein."
Doch als Jörg im Wartezimmer saß, fiel Beate auf, dass er Liane tatsächlich von oben bis unten betrachtete. Mehrmals. Und Liane lachte, warf ihre Mähne nach hinten und scharwenzelte um ihn herum. Beate spürte einen kleinen glühenden Punkt in ihrer Mitte, der schnell größer wurde.
Als Jörg gegangen war, schien Liane ganz aus dem Häuschen. "Er kommt ab morgen zur Bestrahlung. Jeden Tag! Er behauptet, er hätte Verspannungen im Nacken. Aber das ist sicher nur eine Ausrede. Beate, das wird was! Ich spüre es. Wie er mich ansieht ..."
Ein Strudel riss Beate mit sich fort. "Ich weiß, dass Jörg wirklich Schmerzen hat. Und wenn es eine Ausrede wäre, dann käme er, um mich zu sehen."
Liane stockte mitten in der Bewegung.
"Wir sind seit drei Monaten zusammen."
"Das kann nicht sein! Davon hätte ich doch was gemerkt!" Lianes Stimme war schrill. "Du lügst, weil du eifersüchtig bist!"
Die Patienten im Wartezimmer blickten neugierig zu ihnen herüber. Beate schloss die Tür. Dann kramte sie in ihrer Handtasche, riss den Schlüsselbund heraus und hielt ihn Liane vors Gesicht. "Siehst du den roten Schlüssel? Den hat er mir gegeben. Es ist sein Hausschlüssel."
In diesem Augenblick kam Jörg wieder zur Tür herein. "Ich habe meinen Schirm vergessen." Er grinste.
Beate lief zu ihm hin, warf die Arme um seinen Hals und küsste ihn auf den Mund. Im ersten Augenblick zuckte Jörg zurück. Dann erwiderte er ihren Kuss. "Bis heute Abend, Schatz", sagte sie laut.
Beate lächelte ihrer Kollegin direkt in die Augen. Liane biss die Zähne aufeinander und machte sich am Aktenschrank zu schaffen.
*****
"Das war aber eine Überraschung!", rief Jörg ihr zu, als sie abends seine Wohnungstür aufschloss und ihre Jacke im Flur aufhängte. Er geleitete sie zum Sofa. "Warum hast du unser Geheimnis so plötzlich gelüftet?"
"Wegen Liane. Sie dachte, du wärst in sie verliebt. Da habe ich ihr von uns erzählt, aber sie glaubte mir nicht." Beate rückte ein Stück von ihm ab.
"Wie kommt sie bloß auf diese Idee?"
"Da fragst du noch?"
Jörg sah sie verständnislos an.
"Du verschlingst sie mit den Augen. Ich habe es selbst gesehen!"
"Aber ich habe dir doch gesagt ..." Jörg legte den Arm um sie. Steif saß Beate da. "Jetzt beruhig dich erst mal. Ich habe Sushi besorgt. Das magst du doch so gern. Danach reden wir weiter."
Beate konnte nicht mehr als einen Happen essen. Sie gab nur einsilbige Antworten, wenn Jörg sich bemühte, ein Gespräch in Gang zu bringen.
"Ich verstehe dich nicht", sagte er schließlich. "Schaust du denn nie mehr nach anderen gut aussehenden Männern?"
"Nein!" Beate spuckte das Wort regelrecht aus. "Nicht, seitdem wir zusammen sind." Und es stimmte.
"Aber du weißt doch, dass ich dich liebe."
"Woher soll ich das wissen, wenn du andere Frauen anstarrst?"
"Liane ist nun mal attraktiv, und trotzdem ..."
Das war zu viel. Ehe Beate es sich versah, sprang sie auf. "Dann geh doch zu ihr", schrie sie, "und lass mich in Ruhe!" Kurz darauf knallte sie die Wohnungstür hinter sich zu.
*****
"Du machst nicht gerade einen glücklich verliebten Eindruck."
Das war das Erste, was Liane an nächsten Morgen zu ihr sagte. Deutlich sah Beate das höhnische Funkeln in ihren Augen. Sie blätterte in ihren Abrechnungen. Liane sollte nicht sehen, dass sie mit den Tränen kämpfte.
Das Telefon klingelte. Liane nahm das Gespräch an. "Guten Morgen, Herr Stiller", sagte sie mit ihrer allerfreundlichsten Stimme. Beate raschelte laut mit Papier.
"Er hat alle seine Bestrahlungstermine abgesagt." Liane verzog ihre aufgeworfenen Lippen zu einem Lächeln.
Beate brauchte ein Taschentuch. In ihrer Jackentasche müsste eins sein.
"Warum trägst du eigentlich wieder dieses alte Ding? Wo ist deine schicke neue Jacke geblieben?"
"Ich habe sie bei Jörg vergessen."
"Die würde ich aber schnellstens abholen. Du kannst ja gleich heute Abend hingehen."
"Ich glaube, Jörg ist heute nicht zu Hause", flüsterte Beate.
"Na und? Ich denke, du hast einen Schlüssel."
In der Mittagspause hatte Liane plötzlich etwas sehr Dringendes in der Stadt zu erledigen. Beate war allein in der Praxis und dachte nach. Die Jacke musste sie abholen, daran führte kein Weg vorbei. Aber wann? Wenn Jörg nicht zu Hause war? Oder sollte sie noch einmal mit ihm sprechen? Nach und nach wich der tobende Zorn in ihr einer tiefen Traurigkeit.
"Hast du eigentlich die Urinproben schon untersucht?"
Beate zuckte zusammen. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Liane zurückgekommen war. Schnell zog sie sich ins Labor zurück. Es war noch still in der Praxis. Nur Liane rumorte leise im Personalraum.
*****
In der Abenddämmerung ging Beate durch den Vorgarten. Im Haus brannte kein Licht. Sie würde im Wohnzimmer auf Jörg warten. In ihrer Tasche hatte sie eine Flasche seines Lieblingsweins.
Sie steckte den Schlüssel ins Schloss. Er glitt zwar hinein, doch er ließ sich nicht drehen. Sie versuchte es erneut. Der Schlüssel passte nicht.
In diesem Augenblick gingen die Straßenlaternen an. Hatte sie den falschen genommen? Nein, es war der rote, den Jörg ihr gegeben hatte.
Unschlüssig stand sie vor der Tür.
Ein Auto bog in die Straße ein. Instinktiv duckte sich Beate in den Schatten der Büsche. Jörgs Wagen hielt vor dem Gartentor. Erst als im Haus das Licht anging, wagte sie sich hervor.
Für all das gab es nur eine Erklärung. Er hatte das Schloss austauschen lassen. So schnell. Es war aus, aus und vorbei - endgültig.
Sie nestelte am Ring des Schlüsselbundes. Es war schwer, den Schlüssel herauszudrehen. Die Finger taten ihr weh. Mit einem klappernden Geräusch fiel der rote Schlüssel in den Briefkasten.
Zu Fuß machte sie sich auf den Heimweg. Im Vorbeigehen öffnete sie eine Mülltonne und ließ die volle Weinflasche hineinfallen.
Ein paar Tage später hing ihre neue braune Jacke plötzlich am Garderobenständer in der Praxis. "Der Stiller hat sie heute Morgen ganz früh vorbeigebracht", erklärte Liane und kicherte.
Das war das letzte Lebenszeichen, das Beate von Jörg erhielt.
*****
"Praxis Dr. Steingen, guten Tag?" Liane lauschte. "Für dich", sagte sie und reichte ihr den Hörer hinüber.
"Hallo, Beate, wie geht es dir?"
"Danke, gut. Und dir?" Nach all den Monaten brachte seine Stimme sie sofort aus der Fassung.
"Danke, auch gut. Hör zu, ich muss dich was fragen. Hast du heute Abend Zeit?"
"Ja - ja", stammelte sie.
"Ich hole dich ab. Bis nachher."
Beate bemühte sich, das Zittern ihrer Hände zu verbergen. Aber Liane entging nie etwas. Den ganzen Tag spürte sie ihre lauernden Blicke.
*****
Jörg sah noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Es versetzte ihr regelrecht einen Stich. Er nickte Liane höflich zu und lächelte Beate dann an. "Das Wetter ist so schön. Lass uns in den Park gehen."
Jörg redete über dies und das, aber Beate fiel nichts ein, was sie hätte antworten können. Sie taumelte neben ihm her und fühlte sich dumm und hässlich.
Sie setzten sich auf eine Bank.
"Ich will gleich zur Sache kommen. Hast du damals versucht, meine Haustür mit dem Schlüssel zu öffnen, den ich dir gegeben hatte?"
Beate nickte. "Aber er passte nicht."
"Ich weiß." Jörg kramte in seiner Hosentasche und reichte ihr einen Schlüssel. "Er ist zwar rot wie der, den ich machen ließ, aber es ist ein anderer. Hast du ihn vielleicht verwechselt?"
"Nein, bestimmt nicht."
"Ich hatte ihn aufbewahrt. Erst vor kurzem habe ich gemerkt, dass sich die Tür damit gar nicht öffnen lässt."
"Ich dachte, du hättest das Schloss ausgetauscht."
Plötzlich spürte sie Jörgs Arme um ihre Schultern. "Und ich habe geglaubt, du hättest den Schlüssel zurückgegeben, weil du nichts mehr von mir wissen wolltest."
Tränen stürzten aus ihren Augen.
Jörg drückte sie fester an sich. "Wir waren beide so dumm. Wenn wir nur einmal in Ruhe miteinander geredet hätten! Vielleicht wäre alles anders gekommen. Aber dazu war ich zu stolz."
Beate räusperte sich. "Und wenn wir ..."
Hastig zog Jörg seinen Arm fort.
Sie spürte, wie Röte ihr Gesicht erhitzte.
"Ich habe eine neue Freundin. Als ich ihr den Schlüssel gab, merkten wir, dass er nicht passt."
Beate blickte angestrengt zu Boden. Ein kleiner Käfer überquerte gerade den breiten Weg. Ob er das andere Ende erreichen würde, ohne zertreten zu werden?
Wie von ferne Jörgs Stimme. "Vielleicht haben wir ja aus unseren Fehlern gelernt."
Darüber musste sie später nachdenken. Hatte sie etwas gelernt?
"Wer ist sie?", fragte sie. "Doch nicht ..."
"Liane? Nein. Sie hat zwar ein paar Mal versucht, sich mit mir zu verabreden, nachdem wir beide uns getrennt hatten, aber sie war mir viel zu aufdringlich. Meine Freundin ist eine Kollegin. Du kennst sie nicht."
Der kleine Käfer verschwand im Gras.
"Wenn ich es mir genau überlege", sagte Jörg, "ist es wahrscheinlich besser so. Mit deiner Eifersucht hätte ich auf die Dauer sowieso nicht leben können."
Ein schwarzer Vogel landete am Wegrand. Beate zuckte zusammen, als er etwas vom Boden aufpickte.
Jörg stand auf. "Ich muss jetzt gehen. Mach's gut, Beate!"
"Du auch."
Er ging davon. Beate sprang plötzlich auf. "Warte", rief sie, "vielleicht war der Schlüssel nur verbogen?"
Er drehte sich noch einmal um. "Nein, wir haben ihn uns genau angesehen. Es ist ein anderer."
*****
Der Mond verschwand hinter einer Wolke, als das Taxi vor einem Mietshaus hielt. Ein Mann kam heraus. Schnell verschwand Beate im Hausflur.
Vor einer Wohnung im dritten Stock blieb sie stehen und steckte den roten Schlüssel ins Schloss. Sie hatte sich nicht getäuscht. Mühelos ließ sich die Tür öffnen. Beate ließ sie mit einem Knall hinter sich zufallen.
Sie hörte einen Schrei. Mit weit aufgerissenen Augen stand Liane vor ihr.
Stumm sah Beate sie an. Dann warf sie ihr den roten Schlüssel vor die Füße.


Eingereicht am 22. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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