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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Tag im Winter

© Barbara Delor

Es war ein kalter Wintermorgen im Dezember, als ich mich von meiner Mutter verabschiedete. In den letzten Tagen hatte es unentwegt geschneit und auch jetzt war der Himmel bedeckt, so dass man ahnte, es würde weitere Schneefälle geben. "Ich geh´ jetzt mal los, Mama. Die Straßenbahn kommt schon in 10 Minuten. Wenn es so stark wie gestern schneit, bleibt die Bahn stecken und ich muss den weiten Weg zu Barbara zu Fuß laufen, stell´ dir das mal vor!" fügte ich scherzhaft hinzu. Ich streifte mir meine dicken Winterhandschuhe über, umarmte meine Mutter und zog los.
Barbara war meine Freundin, ich hatte sie auf dem Gymnasium kennen gelernt. Sie wohnte mit ihrer Mutter am Rande der angrenzenden Stadt in einem eigenen Haus. Barbara war klein, temperamentvoll, dunkelhaarig. Besonderes Markenzeichen, sie ging nicht aus dem Haus, ohne an ihrem unteren Lidrand einen dicken schwarzen Strich gezogen zu haben. Mit meinem inneren Auge sehe ich sie noch heute so vor mir. Damals war sie neunzehn Jahre alt, ein Jahr älter als ich und sie fuhr schon einen braunen BMW. Ich beneidete sie nicht um dieses Auto, jedoch um ihr Zimmer, das sie für sich alleine hatte, der größte Wunsch meiner Kindheit und Jugend.
Unsere fünfköpfige Familie bewohnte eine enge Dreizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus, erbaut in den sechziger Jahren, ich teilte mir das Kinderzimmer mit meinen beiden Geschwistern, Monika und Hans. Seit einem Monat waren wir allerdings nur noch zu viert, mein Vater war gestorben.
Als ich mich an diesem Tag auf den Weg zu Barbaras Haus machte, war meine Freundin schon auf dem Weg nach Bayern, um dort ihren Freund zu besuchen. Da wir in wenigen Monaten unsere Abitur-Prüfungen ablegen sollten und es eine Menge zu lernen gab, hatte sie mir vorgeschlagen, mich während ihrer Abwesenheit ungestört und in Ruhe in ihrem Zimmer auf den großen Tag vorzubereiten. Ich nahm ihr Angebot dankbar an. Ihre Mutter, Frau Wessel, war damit einverstanden.
Da stand ich nun mit Sack und Pack vor ihrem Haus. Barbaras Mutter, eine kleine rundliche und sehr freundliche Frau öffnete mir, hieß mich willkommen und führte mich in Barbaras Zimmer, das schon behaglich warm war. Das Zimmer war mir vertraut, wir hatten hier schon des Öfteren zu zweit oder auch mit weiteren Freundinnen gesessen und geplaudert oder auch zusammen gelernt, manchmal auch gefeiert. Frau H. ließ mich nach einem kleinen Schwatz allein und ich begann, meine Sachen auszupacken, die Lebensmittel brachte ich in die Küche. Dann setzte ich mich an den Schreibtisch und ordnete Bücher, Hefte und Schreibzeug.
Ganz plötzlich stieg eine merkwürdige Unruhe in mir auf, die ich nicht einzuordnen wusste, in meinem Hals würgte etwas, ich war nicht mehr in der Lage, klar zu denken. Was war nur los mit mir? Ich stand verstört auf und lief im Zimmer umher. Ich nahm ein Buch zur Hand und versuchte, mich lesend abzulenken. Doch meine Konzentration war gleich Null. Ich bereitete mir einen Tee zu und schaute aus dem Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Meine Unruhe wuchs. An Lernen war nicht mehr zu denken. Auf einmal wusste ich es, ich musste noch heute, ich musste sofort wieder nach Hause. Während sich diese Gedanken in meinem Kopf verfestigten, verschwand das Panikgefühl unversehens wieder, so, als wäre es nie zuvor in mir. Stattdessen schwirrten tausend Überlegungen durch meinen Kopf: Wie sollte ich Frau Wessel nur meinen plötzlichen Entschluss erklären? Und Barbara? Ich war 18 Jahre alt und hielt es keine Nacht entfernt von Zuhause aus, das musste auf sie einfach lächerlich wirken. Das würde keiner verstehen. Ich dachte an meine Schulfreundinnen, die zum Teil schon mit ihren Freunden zusammen lebten oder in der Stadt alleine ein Zimmer bewohnten. Und was würde meine Mutter sagen, wenn ich am gleichen Tag wieder vor der Tür stand und meine Geschwister? Ja, es war beschämend für mich. Ich trat wieder ans Fenster und sah noch einmal hinaus in den Schnee. Die Autos, es waren nur noch einige wenige zu sehen, fuhren im Schritttempo. Ich packte meine Sachen und meinen ganzen Mut zusammen und ging zu Frau Wessel: "Frau Wessel, ich fahr´ wieder nach Hause." Frau Wessel sah mich etwas verwirrt an: "Jetzt?", fragte sie. Ich wollte ihr gerade eine "Geschichte" über meine Gründe erzählen, stattdessen weinte ich. Frau Wessel strich mir tröstlich über den Kopf. "Du kannst heute nicht mehr los, Agnes, es fährt wegen des starken Schneesfalls keine Straßenbahn mehr". Doch mein Entschluss stand fest, ich musste nach Hause. Ich würde laufen. Noch war es einigermaßen hell. "Dann lass wenigstens deine schwere Tasche hier, die kannst du dir ja in den nächsten Tagen holen, Agnes."
Ich ging los, es war ein weiter Weg. Ich stapfte in mich versunken durch den Schnee. Ich wusste nicht, wie viele Stunden ich unterwegs war. Als ich in meiner kleinen Stadt ankam, war die Dunkelheit bereits hereingebrochen und es war sehr still. Nur der Schnee knirschte leise unter meinen Füßen. Es schneite nicht mehr. Der Himmel war klar und die Sterne funkelten. Aus den Fenstern der Häuser fiel das Licht auf die Straße und ließ den Schnee glitzern. Ich blieb stehen und sah zu den Sternen hinauf: Was für ein Wunder? Und mit einem Mal durchströmte mich ein Gefühl des Glücks, ich war geborgen, ich gehörte dazu. Eine große Last fiel von mir ab.
Und dieses Wissen um Verbundenheit mit allem begleitete mich mein Leben lang. Es war nicht zu jeder Zeit abrufbar, doch wusste ich immer, es ist alles gut so wie es ist. Oder um es mit den Worten eines Autors auszudrücken, dessen Name ich vergaß: Ich schaue nach oben und weiß, es ist alles in Ordnung, Gott ist noch in seinem Himmel.


Eingereicht am 22. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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