Tick. Tick. Tick. Tick. Marie schließt die Augen und versucht das monotone Ticken der Uhr auszublenden. Sie sitzt auf dem Teppichboden ihres Zimmers.

Draußen regnet es und nur wenig Licht dringt durch das kleine Fenster am Ende des Raums. Die Vorhänge sind grau. Ursprünglich waren sie mal weiß, doch Marie hat sich nie die Mühe gemacht sie zu waschen. Sie werden ja sowieso wieder dreckig.

An der Wand hängt eine Postkarte aus Italien. Ihre Freundin hat ihr die Karte vor einiger Zeit geschickt. Marie kann sich nicht mehr genau erinnern, wie lange das her ist. Ein oder zwei Jahre liegt es auf jeden Fall zurück.

Sie sind nicht mehr befreundet. Marie weiß nicht so genau warum. Sie hat sich keine Gedanken darüber gemacht. Jetzt starrt sie nachdenklich die Karte an. Das Meer und der Strand sind abgebildet. Eine ganz gewöhnliche Postkarte, die eine wundervolle Sehnsucht in ihrem Betrachter weckt, selbst in die Ferne zu reisen und das Abenteuer zu suchen. In Marie weckt sie gar nichts. Sie weiß nicht, warum sie die Karte überhaupt aufgehängt hat. Sie passt nicht in das graue, einsame Zimmer.

Die Wände sind ziemlich leer. Ein Kalender vom letzten Jahr hängt noch an der Wand. Marie hat ihn nicht abgenommen. Sie hat keine Ahnung, welcher Tag heute ist, oder welchen Monat wir haben. Auch die Uhrzeit ist ihr nicht bekannt. Der Zeiger ist hängen geblieben und tickt jetzt auf der Stelle.

Tick. Tick. Tick. Tick.

Es ist kalt im Zimmer, weil die Heizung ausgefallen ist. Marie zieht die Beine an den Körper und umschlingt sie mit den Armen. Ihr viel zu großer Pullover wärmt sie nicht richtig.

Maries Blick fällt auf die Blumen auf ihrem Nachttisch. Sie sind schon lange verwelkt. Wenn Marie sie berühren würde, würden sie wahrscheinlich zu Staub zerfallen. Aber Marie berührt sie nicht. Sie vermeidet es normalerweise sogar sie anzusehen. Die Blumen sind von Matthias. Er hat sie ihr zur Verlobung geschenkt. Es sind rote Rosen. Dass sie rot waren ist jetzt kaum zu erkennen. Matthias ist nicht mehr da. Marie wartet darauf, dass er wieder kommt. Aber er wird nicht wiederkommen. Nie mehr. Matthias ist tot.

Tick. Tick. Tick. Tick.

Der Zeiger versucht weiterhin von der Stelle zu kommen. Marie sieht zu Boden. Sie kann den Anblick der Rosen nicht ertragen.

Früher, als die Blumen noch nicht welk waren, hat sie jeden Tag geweint.

Jetzt fehlt ihr die Kraft dazu, irgendetwas zu empfinden.

Der Regen prasselt noch immer auf das Fenstersims. Eine Böe lässt das Fenster aufgehen. Marie hat es nicht zugemacht. Sie wird es auch nicht zumachen, obwohl ihr kalt ist. Sie wird eine sehr lange Zeit dort sitzen und vor Kälte zittern. Dann wird ein starker Wind kommen. Die Vorhänge werden wehen und die Postkarte wird davonfliegen. Der Wind wird die Blumen vom Nachttisch reißen und sie werden zu Staub zerfallen. Marie wird ihren Platz verlassen, um das Fenster nun doch zu schließen. Dabei wird sie an die kleine Wanduhr kommen und diese wird zu Boden fallen. Der Sekundenzeiger wird sich befreien und seinen Platz verlassen. Tick. Tack. Tick. Tack. Marie wird die Uhr aufheben und den Zeiger anstarren. Sie wird schwer schlucken.

Eine Träne wird über ihr Gesicht laufen und auf das Ziffernblatt der Uhr fallen. Und dann wird sie zaghaft lächeln. Sie wird die Uhr, vorsichtig wie einen Schatz, an ihren Platz hängen und einen letzten Blick auf die umgefallene Blumenvase werfen. Dann wird sie das graue, einsame Zimmer verlassen und nie wieder zurückschauen. Marie wird weitermachen, als wäre das alles nie geschehen.

Tick. Tack. Tick. Tack.