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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Verleger

© Thomas Lappe

Der Verleger Julius Handkant, der seit weit über zwanzig Jahren kein Buch mehr besessen hatte, der, seiner Bezeichnung zuwider, nicht einmal ein herkömmlicher Verleger war, liebte es, den Dingen ihren zugewiesenen Platz in der Welt zu nehmen und sie andernorts zu platzieren. So hat man ihn dabei beobachten können - manchmal durch die Überwachungskameras in den Kaufhäusern, meist aber leibhaftig -, dass er, bevorzugt in Buchhandlungen, Bücher aus dem Regal, die, sagen wir: unter C einsortiert waren, kurzerhand bei L oder M oder W einschob. Er tat es möglichst unauffällig, für Aufsehen hatte Julius nicht sorgen wollen. Ihn interessierten vielmehr die Reaktionen der anderen. Das verärgerte, später resignierte Kopfschütteln der Angestellten war vorhersehbar; sie konnten einige ihrer Bücher nicht verkaufen, da sie sie erst viel zu spät wieder fanden. Nicht vorhersehbar war jedoch das Verhalten anderer Kunden, die, unter L oder M oder W suchend, plötzlich einen Band mit Verfassernamen C entdeckten. Manche versetzten dem Fremdkörper einen züchtigenden Stupser mit der Zeigefingerspitze, andere zogen das aufdringliche C heraus und kauften es sogar. Julius stand derweil, wie unbeteiligt, an der Seite und schaute zu. Es freute ihn diebisch, die Menschen in ihren Erwartungen zu irritieren; er war fast jeden Tag in den Buchläden, um deren kleine Welt ein Stück weit durcheinander zu bringen. Seine Handlungsweise interpretierte man als gewisse Spleenigkeit; nie brachte er so viel durcheinander, dass das korrekte Wiedereinsortieren wirklich Arbeit gemacht hätte. Und da er selbst hin und wieder kaufte, verziehen ihm die Buchhändler der Stadt auch, dass seinetwegen ab und an ein Buch nicht an Ort und Stelle war. Er selbst legte das gekaufte Buch jedoch nie in sein eigenes kleines Wohnzimmer, sondern sofort irgendwo in der Stadt ab. Auf einem Brückengeländer, einer Parkbank, in der S-Bahn. Julius ging es nicht um die Bücher, sondern um deren Verschiebung. Deren Verlegung. Immerzu trug Julius einen langen, nicht mehr ganz neuen Mant ehlten. Seine einst braunen Schuhe waren abgelaufen, seine schmutziggrauen Haare struppig und wirr. Wer ihn sah, missachtete ihn; man hielt ihn für einen, der kürzlich obdachlos geworden war. Das Gegenteil war zwar der Fall, Julius besaß Geld und war überdies sehr reinlich, und ohnehin: Es störte ihn nicht, dass man ihn seiner tarnenden Fassade wegen nicht Ernst nahm, im Gegenteil. So konnte er unbeachtet überall aus und ein gehen; niemand sprach ihn an, ob man ihm helfen könne, was bedeutete: Niemand wollte Geld von ihm.
Und so vollbrachte er seit Jahren sein eifriges kleines Werk: das Verlegen. Irgendwann genügten ihm die zwölf oder dreizehn Buchhandlungen und Antiquariate der Innenstadt nicht mehr; das Durcheinandner, das zu verbreiten er sich anschickte, war ihm nicht groß genug, sofern es Durcheinandner überhaupt genannt werden konnte. Er verging sich zunehmend an anderen Branchen: In Bekleidungsgeschäften konnte er Hosen und Anzüge und Krawatten umordnen, in Glas- und Haushaltswarengeschäften Tassen und Kochlöffel und Suppenterrinen. Wo immer Julius auftauchte, hinterließ er in der wohlgeordneten Warenwelt seiner Zeit schmerzliche Lücken des Verlegtseins. Ihm fiel auf, wie sehr die Welt sich auf ihre eigene Ordnung verlässt, auf die ihr innewohnende, intakte Struktur. Als ob die Stadt, eine Großstadt, allein durch die angestrengte, gleichwohl gar nicht mehr bemerkte Sortiertheit zusammen gehalten worden wäre. Julius wollte in jener Phase seines Lebens diese Ord- und Subordnungen verzerren durchtrennen entblößen. Indem er winzige Änderungen vornahm, entblößte er die gesamte aberwitzige Systematik. Dabei war er rechtschaffen: Er arbeitete in einem Büro, zahlte Steuern, war friedliebend, stahl nichts, nie wurde er angezeigt oder des Ortes verwiesen. Einzig nach Feierabend schlüpfte er in seine Tarnkleidung und lebte das aus, was er zivilisierte Insubordination nannte. Es tat ihm gut. Alles, was er bewegte, bewegte er im selben Laden. Wo er nichts verlegen konnte, das fiel aber nicht wirklich ins Gewicht, war in jenen Geschäften, die mit Auslagen hinter Glasscheiben arbeiteten: etwa Bäckereien Schmuckläden Hutgeschäfte. Doch zauberhaft leicht waren ein Plattenladen, ein Sportartikel- oder ein Souvenirshop zu unterwandern. Welch Genuss es war, einen Eierkocher aus der Küchenabteilung im Untergeschoss bei den Kinderspielen im zweiten Stock abzustellen. Welche Befriedigung, das billige Shampoo A in die Reihe der teuren Edeldüfte Y zu applizieren. Je weiter und ausdauernder Julius Handkant seine zivilisierte Insubordination trieb, ü mehr wurde ihm der labile Zusammenhalt der bürgerlichen Gesellschaft bewusst. Ihre Anfälligkeit. Er schien zwar der einzige zu sein, der sich des Verlegens der Dinge mit solcher Inbrunst angenommen hatte, und was er an Dingen umsortierte, war auch nicht so viel, dass es der bürgerlichen, die ja hauptsächlich eine Warengesellschaft war, geschadet hätte, nicht einmal volkswirtschaftlich - aber immerhin.
Der dreiundfünfzigjährige Julius Handkant, einsneunundsechzig groß, schlank und blauäugig, nahm für sich in Anspruch, mit zivilisierter Insubordination zivilisierte Insubordination zu betreiben: kleinen Nadelstichen oder Sandkörnchen gleich, die Tag für Tag die Maschinerie des Geordneten störten. Ein wenig zwickten. Pieksten. Es sollte nicht schmerzen, aber wirken. Es war wie eine Sucht. Immerzu spähte er nach Gelegenheiten, Dinge von hier nach dort zu verlegen; nie mehr als zwei oder drei in einem Geschäft, sonst wäre es zu auffällig gewesen. Folglich wurde er nie beschimpft, Hausverbote gab es nicht; er war Kunde. Immerhin. Kunden hatten das Recht, zu stöbern, Waren hier weg- und dort hinzulegen, selbst, wenn die Angestellten sie später wieder einzusortieren hatten. Julius nutzte diese immanente Schwäche des kaufmännischen Wettbewerbes aus, um nicht zu sagen: schamlos. Und Dialoge mit Kaufhausdetektiven wusste er mit einer einfachen Tatsache von vornherein zu unterbinden: Er kaufte hier und da ein. Wer sollte folglich etwas gegen ihn zu sagen wagen.
So ging es Jahr für Jahr; im Laufe dieser konzentrierten Aktivitäten hatte er, um es bildlich zu sagen, bestimmt selbst schon ein ganzes Warenlager von A nach B geräumt. Aber das war ja der Sinn der Sache. Und, das sei noch angefügt, er schimpfte auf Diebe: Dutzende hatte er schon ertappt, wenngleich nie verraten. Sie machten etwas Ähnliches wie er, sie bewegten Dinge in eine Richtung, in die sie nicht gehörten. Aber ihre heimlichen Zugriffe waren nicht zivilisierte Insubordination, sondern eine Straftat. Sie bewegten in der Gesellschaft nichts, sie stahlen nur die Dinge und bestätigten denselben damit erst jene Wertigkeit, die ihnen durch Konvention ohnehin anheim gelegt worden war. Indem die Diebe etwas wegnahmen, maßen sie dem Weggenommenen allenfalls Bedeutung bei, mehr nicht. Er hingegen, Julius, verlegte die Gegenstände an eine unerwartete Stelle und nahm ihnen zunächst ihre Bedeutung. Sie verloren ihre Wertigkeit innerhalb der Hierarchie. Was er tat, fünf Jahre lang, war seine Art widerspenstigen Anerkennens bürgerlicher Gegebenheiten, die er erst dadurch, dass er sie anerkannte, zu unterlaufen imstande war. Und so legte er Tag für Tag Bücher in Zeitschriftenregale, Bikinis zu Stempelkissen und Aktenordnern, bunte Kinder- zu schicken Erwachsenenbrillen. Nichts war vor ihm sicher, und an allem bemerkte er, wie Ernst wir die Dinge nehmen. Waren sind heilig. Es sind Chiffren, über deren korrekte Wahrnehmung wir uns definieren. Wir definieren unser eigenes Eingeordnetsein darüber, ob wir etwas dort finden, wo wir es zu finden erwarten. Julius Handkant wollte Zeit seines Lebens nichts finden, weil er nicht suchte. Er war völlig anspruchslos, Besitz verabscheute er. Seine winzige Wohnung war, bis auf ein Bett, so gut wie leer. Dieser Mann definierte sich über seine Unbehaustheit, über seine Beweglichkeit inner-, ja, besser: oberhalb der Gegenstände dieser Welt. Gleichwohl er leben und essen musste, also auch Geld verdienen, war sein wirkliches Leben eines außerhalb der Gesellschaft. Nicht so weit, dass er sich i ern oder Suizid hätte entziehen wollen, aber doch immerhin so weit, dass er sozusagen keinen Respekt vor den Mechanismen und Zyklen der modernen Einkaufswelt hatte. Dabei war Julius kein Zyniker oder Fatalist; er selbst hätte sich als allein stehenden, einsamen, aufgeklärten Realisten bezeichnet, hätte ihn je jemand gefragt. Es war ja nicht so, dass er die Schönheit mancher Dinge nicht gesehen oder dass er ihren Nutzen nicht erkannt hätte. Aber das wohlgefällige Eingeordnetsein in ein allseits akzeptiertes System schien den Dingen und Waren, im Gegenteil, das Symbolische, was sie doch auch haben, zu rauben. Sie zu verlegen und zu entwerten, hieß, ihnen diesen Wert, vielleicht sogar einen gesteigerten, beim Wiederfinden zurückzugeben. Wonach man nicht sucht, könnte das heißen, das hat keine Bedeutung. So also verstand Julius sich als Bedeutungsverschaffer. Nebenberuf: Verleger. Vielleicht, dachte er manchmal, maß sogar ausgerechnet er den Dingen der bürgerlichen Kultur die höchste Bedeutung bei. Indem er sie verlegte, beachtete er sie. Rückte sie in einen neuen Blickwinkel, in ein neues Umfeld. Durch ihn erst nahmen die Menschen die Dinge wieder wahr. Und so hielt sich seine Verschrobenheit lange.
Er war guter Dinge, wie man so sagt, doch wie liest sich solch eine Formulierung bei einem wie Julius Handkant. Er war guter Dinge. Und eines Abends im fünften Sommer seiner zivilisierten Insubordination glaubte er, er müsse - natürlich unbeobachtet - das Kreuz vom Altar einer kleinen Nebenkapelle der größten Kirche der Stadt auf die Sitzfläche der dunklen Holzbank in der drittletzten Reihe platzieren. Es war eine Eingebung gewesen, so könnte man vielleicht sagen. Es war kein Kunst- oder Mundraub, es war kein Sakrileg, es schien Julius eher eine Art Aufräumen. Platz schaffen für Neues. Er griff sich das goldene Kreuz, es war nicht groß und nicht schwer, und trug es in die Bankreihe und stellte es dort ab. Die Kirche war leer bis auf einige Besucher, die vorn am Hochaltar standen und leise flüsterten. Julius, gekleidet in seinen Mantel, setzte sich in dieselbe Bankreihe ans gegenüberliegende Ende und wartete. Er wollte die Reaktion der Besucher sehen, wenn sie denn das verlegte Kreuz entdeckten, und tatsächlich, lange musste er nicht ausharren. Zur Besuchergruppe - vielleicht Touristen - gehörte auch ein kleiner blonder Junge, der den anderen verhalten, immerhin befand er sich an heiliger Stätte, vorausgeeilt war; er erblickte das Kreuz an ungewohnter Stelle und auch den grauhaarigen, einigermaßen arm aussehenden Mann. Sie tauschten Blicke. Blaue helle Kinderaugen schauten in blaue listige Verlegeraugen. Der Junge hätte etwas sagen mögen, meinte Julius zu spüren, er hätte sagen mögen, Seht mal, das Kreuz hier, der Mann da hat es vielleicht hierher gestellt, er hätte fragen mögen, Warum sitzt der Mann da, muss man denn ein Kreuz da hinstellen, um richtig zu beten, er hätte also irgendwie reagieren mögen, auf dass der Verursacher der Verwirrung sein Ziel erreicht hätte, nämlich Widerspruch - aber der kleine Junge sagte nichts. In seinem ruhigen, augenblicklich wissenden Schauen lag ein Grad von Verständnis, der jedem Erwachsenen längst abhanden gekommen war, und dass die Besuchergruppe das Kreuz nicht ebenfalls ent der Blondschopf sich, es verbergend, davor stellte und die leise plaudernden Erwachsenen vorüber gehen ließ. Dann drehte sich das Kind noch einmal zu Julius um und lächelte ihn ernsten Gesichtes an, und Julius lächelte glücklich zurück, weil er in diesem Acht- oder Neunjährigen endlich jemanden gefunden zu haben glaubte - auch ohne Suche -, der ihm ebenbürtig war. Vielleicht sogar überlegen. Es schien Julius, als sei erstmals er selbst der Verlegte.


Eingereicht am 20. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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