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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Am seidenen Faden

© Sigrid Lang

Der Wagen verlangsamte sich und bog von der Autobahn auf den Parkplatz ein. Judith stellte den Motor ab und ließ den Kopf auf die Hände sinken, die das Lenkrad hielten.
Zu viel war in den letzten Stunden passiert. Ihre Schläfen pochten, der Druck von der verspannten Nackenmuskulatur verursachte ihr Kopfschmerzen. Sie stieg aus, schloss die Autotür und lehnte sich dagegen. Sanft massierte sie den Nacken. Die kühle Luft tat ihr gut und sie ging ein paar Schritte auf die andere Seite des Wagens. Außer ihr hatte nur noch ein anderer Personenwagen hier geparkt. Ein jüngeres Pärchen saß darin über eine Straßenkarte gebeugt. Sie hatten nur kurz in ihre Richtung geschaut, als Judith ausgestiegen war. Nach Osten hin hatte man den Blick auf die abgeernteten Maisfelder, dahinter die Bundesstraße, die durch eine Reihe einzeln stehender Häuser gekennzeichnet war. Im Hintergrund die blaue Hügelkette des Schwarzwaldes. Die Herbstsonne stand schon tief und legte goldenes Licht auf die Landschaft. Bald würde es dämmern. Bei dem Gedanken an den Abend erfasste sie eine Welle der Verzweiflung. Tränen brannten ihr in den Augen. Sie hatte nicht geweint, nicht, seitdem sie es wusste. Jetzt ließen sich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein Weinkrampf schüttelte sie. Sie ließ sich in die Hocke sinken und gab sich dem Weinen hin. Das Geräusch eines startenden Wagens ließ Judith aufblicken. Das Pärchen war auf der Weiterreise. Vor sich in der Buchenhecke hatte eine Spinne ein filigranes Netz gesponnen. Ein feiner Seidenfaden, an dem die geschickte Weberin hing, wurde von dem leichten Wind bewegt.
`Wie das Glück - es hängt an einem seidenen Faden`, ging es ihr durch den Kopf. Sie schnäuzte sich und trocknete die Augen. `Wahrscheinlich sehe ich jetzt wie ein Waschbär aus`, dachte sie mit einem schiefen Lächeln. Sie setzte sich ins Auto und betrachtete sich im Rückspiegel. Mit einem Papiertuch entfernte sie das verschmierte Mascara notdürftig. Das Weinen hatte sie erleichtert. Ihr Kopf war wieder klarer. Sie musste jetzt gründlich nachdenken, sich die nächsten Schritte überlegen, bevor sie wieder nach Hause fuhr.
Nach Hause! War es noch ihr Zuhause? Was machte denn ein Zuhause aus? Es war doch nicht die Wohnung, die Möbel, es war der Mensch, der mit ihr schon mehr als fünfunddreißig Jahre zusammen lebte. Das war ihr Zuhause. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, verstanden und geliebt. Ja, auch geliebt. Hatte sie sich das nur eingebildet, es sich gewünscht und für wahr genommen? Nur, weil sie ihren Mann liebte? War Peter denn eigentlich der, für den sie ihn hielt oder hatte sie immer nur den Mann geliebt, den sie sehen wollte? Wieder stieg ein Schluchzer aus ihrer Brust und Tränen liefen ihr über die Wangen. Bis gestern war ihr Leben so gut gewesen. In jüngeren Jahren hatten sie ihre Stürme zu überstehen gehabt, aber sie auch gemeistert. Sie wurden beide friedlicher, Peter und sie. Judith schätzte sich glücklich. Er war ein liebevoller Ehemann, sie fand ihn immer noch attraktiv. Die körperliche Liebe genoss sie, wenn sie auch nicht mehr so häufig miteinander schliefen als früher. Aber das war normal nach so vielen Ehejahren. Jedenfalls hatte sie das geglaubt. Seit gestern zog sie alles in Zweifel.
Karo war eine Schulfreundin. Während Judith und Karo, die eigentlich Karoline hieß, ihre Lehre machten, hatten sie sich aus den Augen verloren und später durch Zufall wieder getroffen. Karo arbeitete immer noch als Krankengymnastin in einer Praxis in der nächsten Kleinstadt. Sie hatte nach ihrer Scheidung nicht wieder geheiratet. Karo hatte einen langjährigen Freund. Jeder wohnte für sich. In unregelmäßigen Abständen trafen sich die Freundinnen, entweder bei Karo oder bei Judith, aßen etwas Gutes und verbrachten einen gemütlichen Abend. Peter fühlte sich in Karos Gesellschaft wohl und übernahm meist das Kochen, wenn sie eingeladen war. Judith schluckte, als sie darüber nachdachte. Es stimmte, er schien sich immer zu freuen, wenn Karo kam. Aber war das etwa verdächtig? Peter und Karo tranken gern Wein, vielleicht auch mehr als gewöhnlich an diesen Abenden. Während Judith sich lieber an Wasser hielt, fanden Peter und Karo immer mehr gemeinsame Themen und konnten über Dinge lachen, die Judith nicht so witzig vorkamen. Aber sie schob das auf den Alkoholpegel zurück. Manchmal war sie sich allerdings ein bisschen ausgeschlossen vorgekommen.
Gestern, am Freitagabend, war Karo wieder bei ihnen. Nach dem Essen hatten sich im Wohnzimmer die zweite Flasche Wein geöffnet, Peter hatte Musik von Mozart aufgelegt, die leise im Hintergrund spielte. Bei den bekannten Stücken hatte Judith im Kopf mitgesummt. Karo hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht. Judith ging ins Arbeitszimmer, um das Buch zu holen, das sie von Karo ausgeliehen hatte. Um es später beim Abschied nicht zu vergessen, legte sie es neben Karos Tasche, die auf der Kommode im Flur stand. Die ersten Klänge des `Clarinet Concerto in A major`, das sie so liebte, kamen Judith entgegen, als sie sich der angelehnten Wohnzimmertür näherte. Abrupt blieb sie stehen. Im Wohnzimmer wurde geflüstert. Judith wollte nicht lauschen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Dieses Flüstern war so bedrohlich. Eine Alarmglocke schrillte in ihrem Kopf. Peter hatte etwas geflüstert, was Judith nicht verstanden hatte. Deutlich hörte sie, wie Karo leise sagte: "Wenn du nicht kommst, mache ich es mir eben selber". Peter hatte leise gelacht und etwas gesagt, das wie `wehe` geklungen hatte. Sie fühlte sich, als hätte sie eine Keule getroffen. Die Beine schienen ihr zu versagen. Sie erreichte das Badezimmer und ließ sich auf dem Rand der Badewanne nieder. Sie verbarg das Gesicht in den Händen. Was für ein Abgrund tat sich vor ihr auf! Judith spürte, wie ihre Hände zitterten, auch über die Knie hatte sie keine Gewalt mehr und sie ließ sich auf den Fußboden gleiten. Das Gehörte ließ keinen Zweifel aufkommen. Peter und Karo waren ein Paar. Gab es vielleicht doch eine andere Erklärung? Es war so eindeutig, aber das konnte doch nicht wahr sein. Wie lange schon? Hatten sie hinter ihrem Rücken über sie gelacht, über diese Ahnungslose? Ekel erfasste sie. Ihr Magen hob sich, sie musste sich übergeben und schaffte es gerade noch, sich über die Toilette zu beugen.
Sie spülte den Mund und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie könnte die Beiden spontan zur Rede stellen. Das wäre vielleicht das Beste. Wie würden sie reagieren? Würden sie versuchen, sich herauszureden, ihr weismachen, sie hätte etwas falsch verstanden? Sie konnte doch nichts beweisen und würde als hysterische Ziege dastehen. Würden sie zugeben, ein Verhältnis miteinander zu haben? Könnten sie darüber sprechen? Jetzt nicht, sie war viel zu verletzt und geschockt, um überlegt sprechen zu können. Sie brauchte Zeit, über ihr Vorgehen nachzudenken. Zunächst würde sie sich nichts anmerken lassen, aber schon allein der Gedanke an die Beiden ließ sie wieder würgen. Zorn erfasste sie. Sie schaute in den Spiegel. Ihre Lippen waren weiß, sie hatten sich aufeinander gepresst, als wollten sie keinen Schrei, kein Wort entschlüpfen lassen. Sie brauchte keine Entschuldigung vorzubringen, wenn sie jetzt wegen heftiger Magenschmerzen mit einer Wärmflasche zu Bett ginge. Sie brauchte Ruhe, Ruhe und Zeit, um über alles nachzudenken. Sie füllte eine Wärmflasche mit heißem Wasser. Der Zorn gab ihr die nötige Kraft, den Verrätern in die Augen zu schauen. Etwas lauter als notwendig schloss sie die Badezimmertür, um ihnen die Gelegenheit zu geben, ein unverdächtiges Gespräch zu führen. Das wehleidige Gesicht brauchte sie nicht zu schauspielern. Die ` Magen- und Darmgeschichte` wurde ihr sofort abgenommen, so, wie sie aussah. Besorgt sahen sie sie an. "Kann ich irgendwas für dich tun?" Peter sah richtig verstört aus. War es Sorge oder hatte er ein schlechtes Gewissen? "Nein, lieb von dir, ich möchte nur ins Bett". Judith fühlte so etwas wie Triumph in sich aufsteigen, so gut hatte sie sich unter Kontrolle. Karo wollte sich vom Sofa erheben, um die Freundin zu umarmen. Judith flüchtete zur Tür. "Bitte nicht, wer weiß, ob es ansteckend ist. Dein Buch liegt bei deiner Tasche. Gute Nacht." `Falsche Schlangen`, ging es ihr durch den Kopf, als sie die Schlafzimmertür hinter sich schloss. An Schlaf war nicht zu denken. Wieso war sie auf den Gedanken gekommen, Peter könnte fremd gehen. Sie führten ein regelmäßiges Leben, abends waren sie zu Hause, sie gingen nur gemeinsam aus. Es gab keinen Kegel- oder Tennisclub, keinen Stammtisch, dem Peter angehörte. Wann hätte er eigentlich Gelegenheit gehabt, Karo zu treffen? Worüber sprachen sie wohl, so allein? Eiskalte Wut schien sie zu überwältigen. Am liebsten wäre sie aus dem Bett gesprungen, hätte die beiden angeschrien, ihrem Zorn, ihrem Ekel Luft gemacht. Der Drang, mit Gegenständen um sich zu werfen, etwas zu zerschmettern wurde so stark, dass sie sich kaum beherrschen konnte. `Nicht, nicht, nicht` redete sie sich zu, `das macht dich nur lächerlich`. Sie krallte sich an die Wärmflasche. Sie brauchte ihre ganze Willenskraft, ihrem Verstand zu gehorchen.
Lange war Karo nicht mehr geblieben. Als sich Peter neben sie ins Bett legte, hatte sie wie erstarrt auf der Seite gelegen, den Rücken ihm zugekehrt und getan, als ob sie schliefe. Er hatte ihr leise `schlaf gut` ins Ohr geflüstert und ihr über das Haar gestreichelt. Beinahe wäre ihr ein Schrei entwischt, den sie noch rechtzeitig unterdrücken konnte. Bald hatte sie seine regelmäßigen Schnarchtöne gehört, den Rhythmus, der sie sonst auch in den Schlaf wiegte. Aber der Schlaf war erst in den frühen Morgenstunden zu ihr gekommen. Karo hatte sich immer an ihrem Leben interessiert gezeigt. Judith war nicht prüde, und sie war auch offen genug, intimere Dinge mit der Freundin zu besprechen. Nur, es gab eine Grenze. Karo schien diese nicht zu kennen, so dass Judith diese Fragen mit einem Lachen unbeantwortet gelassen hatte. Als sie jetzt darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass sie des Öfteren das Gefühl gehabt hatte, Karo wolle sie aushorchen. Und nicht nur das. Manchmal hatte Karo sie eindringlich - und wie es Judith jetzt deutlich schien - verunsichert gefragt, ob alles in Ordnung wäre. Hatte sie die Befürchtung gehabt, Judith wäre ihr auf die Schliche gekommen oder Peter hätte in einem Anflug von Sentimentalität und Wahrheitsliebe gebeichtet? An diesem Samstagmorgen war Judith Peter aus dem Weg gegangen. Sein besorgtes Fragen nach den Magenschmerzen und sein freundliches Gesicht waren ihr unerträglich. Sie fühlte sich traurig und leer, einsam. Sie würde heute ihre Tante besuchen, die etwa eine Autostunde entfernt in einem Altenheim lebte. Sie musste raus, allein sein, nachdenken. Peters Angebot, sie zu fahren, lehnte sie höflich ab. Noch nie hatte ihr freundlicher Ton so falsch in ihren Ohren geklungen. Judith hatte ihre Tante besucht. Diese freute sich, ihre Nichte zu sehen. Dass Judith etwas stiller war als sonst, bemerkte sie nicht. Es tat so gut, wenn jemand zuhörte. Bis zu diesem Parkplatz hatte Judith sich beherrschen können, nun konnte sie sich gehen lassen. Sie musste wieder an die Luft, die Brust war ihr z Tief atmete sie die frische Luft ein. Wo und wann mochten sie sich treffen? Die einzige Möglichkeit war die Praxis, in der Karo arbeitete. Während der Mittagspause war niemand dort, Karo konnte über Mittag dableiben. Es wäre ein Katzensprung für Peter, der in der Nähe arbeitete. Sehr geschickt und einfallsreich. Und völlig unverdächtig. War es eine rein sexuelle Verbindung? Hatten sie gemeinsame Zukunftspläne?
Judith spürte wieder die Verzweiflung aufsteigen. Was war denn eigentlich schief gelaufen? Brauchte Peter die Bestätigung durch eine andere Frau? Vielleicht hatte sie auch ihren Beitrag geleistet? Im Bett zum Beispiel? War sie manchmal zu spröde, sollte sie Peter vielleicht zeigen, dass sie ihn begehrte, ihn wollte? Sie hatte immer gewartet, dass er den Anfang machte. Ein Mann wollte vielleicht auch verführt werden, nicht immer nur derjenige sein, der die Frau verführte. Vielleicht war sie auch zu überheblich gewesen, hatte immer geglaubt, ihre Ehe wäre perfekt. Sie hätte vielleicht darüber nachdenken sollen, ob Peter das auch so sah. Scheinbar hatte ihm etwas gefehlt. Wieder stiegen Tränen auf und sie schluchzte laut.
Musste sie auf diese Art darauf hingewiesen werden, dass sie über ihre Ehe nachdenken musste? Ohne diese `Keule` wäre sie wohl gar nicht darauf gekommen. Sie war verletzt, tief getroffen, es würde dauern, bis der Schmerz vergangen und die Wunden geheilt wären. Aber die Liebe zu ihrem Mann war da, der wichtigste Baustein überhaupt. Sie würde ihr Wissen vorerst für sich behalten. Wenn Peter es auch wollte, würde sie einen neuen Anfang machen. Aber noch nicht, jetzt war sie noch nicht bereit dazu. Es waren noch viele Fragen offen. Ob sie ihm verzeihen konnte? Sie würde es herausfinden. Entschlossen stieg sie ins Auto.


Eingereicht am 20. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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