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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Aura

© Jutta Jordans

Ich hatte Mikaela zufällig in der Fußgängerzone getroffen. Jetzt saßen wir zusammen in einem netten Straßencafé und tauschten Erinnerungen aus. Schließlich hatten wir uns wirklich ewig nicht gesehen. Sie wirkte gestresst und unruhig, aber sie sah noch genauso gut aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Eigentlich schade, dass das nie so richtig geklappt hatte, mit uns beiden.
Ich erzählte, dass ich erst kürzlich meinen Job verloren hatte. In der IT-Branche war eben auch nicht alles rosig. Sie sei immer noch Redakteurin bei der Lokalzeitung, berichtete Mikaela. Wir tauschten Belanglosigkeiten aus: "Was macht eigentlich...?", "Hast du noch mal was von...?" und "Weißt du noch?"
Sie schien nicht recht bei der Sache. Ständig schaute sie sich nach anderen Leuten um.
"Erwartest du jemanden?"
Sie schüttelte den Kopf.
"Du wirkst irgendwie nervös. Angespannt. Ist was?", fragte ich.
"Nein, nicht wirklich. Ich bin nur etwas abgelenkt zurzeit."
"Die Arbeit?"
"Was? ... oh, ja, die Arbeit. Viel Stress im Moment."
Sie schaute wieder von einem Cafébesucher zum anderen. So etwas ist in gewissem Maße ansteckend. Auch ich begann, die anderen Gäste und die Passanten näher zu mustern.
Herr Feigand von der IBO-Soft ging vorbei, bemerkte mich aber nicht.
"Schau mal!", sagte ich und deutete auf den Vorübergehenden. "Der wird vielleicht mein neuer Chef. Bei dem hatte ich gestern ein Vorstellungsgespräch und der wirkte ganz angetan."
Mikaela starrte ihm nach. Dann schaute sie mich an.
"Überleg dir das gut. Der hat eine ganz negative Aura. So dunkelgrün. Wirkt irgendwie bösartig."
Ich muss sie ziemlich dumm angesehen haben. Ich kannte Mikaela als selbstbewusste, zielstrebige Karrierefrau, die mit beiden Beinen fest im Leben steht.
"Dunkelgrün?", fragte ich nach, nicht ganz sicher, sie richtig verstanden zu haben.
"Ja, dunkelgrün. Das ist nicht gut. Hinterhältig, meistens."
"Du meinst, du kannst bei Menschen eine Aura sehen?"
"Ja. Ich hätte das auch nie für möglich gehalten. Aber alle Menschen haben eine Aura. Du musst dich nur darauf einlassen. Dann ist es ganz deutlich. Ein farbiges Leuchten um sie herum. Und die Aura lügt nie. Es ist faszinierend."
Sie wirkte fast ein wenig entrückt, als sie das sagte. Ich konnte es nicht fassen. Was war mit meiner vernünftigen Mikaela passiert?
"Wer hat dir denn das erzählt? Bist du irgendeiner esoterischen Sekte beigetreten oder so?"
"Das ist gar nicht nötig. Jeder Mensch kann Auren sehen. Er muss sich nur dafür öffnen."
Ich war sprachlos. Was konnte man darauf erwidern?
Plötzlich hatte Mikaela es sehr eilig.
"Danke für den Kaffee. Vielleicht sehen wir uns ja demnächst noch mal. Ruf mich doch an, meine Nummer hast du ja sicher noch."
Ja, hatte ich, aber ich war mir nach diesem Gespräch nicht so sicher, ob ich eine Fortsetzung wünschte. Sie hatte aber sowieso keine Antwort abgewartet, sondern war schon in der Menge verschwunden.
Kurz darauf fing es an. Zunächst war es nur ganz schwach. Vielleicht sah ich, ausgelöst durch Mikaelas Geschwätz, die Menschen auch wirklich etwas anders an als vorher. Erst dachte ich, es wäre nur eine Täuschung, Lichtreflexe von den vielen Schaufenstern. Oder vielleicht stimmte etwas mit meinen Augen nicht. Aber alles Blinzeln und Reiben änderte nichts: Um die anderen Menschen nahm ich plötzlich eine dünne Hülle farbigen Lichts wahr. Je mehr ich darauf achtete, desto deutlicher und strahlender wurden diese Hüllen.
Die Bäckereifachverkäuferin leuchtete mich hellgelb an, als sie mein Brötchen in die Tüte packte. Es war eine freundliche Farbe. Ich lächelte beim Bezahlen. Der alte Mann, der auf der Bank in der Sonne saß, war dunkelblau, er sah sehr zufrieden aus. Ein paar Kinder spielten lautstark Fangen und strahlten dabei in Rot- und Grüntönen.
Fasziniert ließ ich meine Blicke hin und herschweifen. Tatsächlich! Sie waren alle bunt. Ich machte ein Spiel daraus, mir vorher zu überlegen, wie wohl die Aura von bestimmten Menschen aussehen würde. Der Busfahrer, wahrscheinlich müde und ein bisschen genervt ... flackernd neongrün. Unser Hausmeister, leicht reizbar aber eigentlich ein guter Kerl, orange.
Ich lernte, das grundsätzliche Wesen eines Menschen und seine augenblickliche Stimmung auseinander zu halten. Es war wirklich erstaunlich, wie viel man an der Aura ablesen konnte. Ich ertappte mich mehrfach dabei, dass ich meinem Gegenüber in einem Gespräch gar nicht wirklich zuhörte. Es war doch viel spannender, zu beobachten, wie plötzliche Emotionen einen Farbwechsel oder ein helles Aufstrahlen der Aura verursachten.
Ich hätte meine neuen Erfahrungen gerne mit jemandem geteilt. Ich versuchte, Mikaela zu erreichen, aber sie hob nicht ab. Vielleicht war sie noch in der Redaktion. Ich erwog, die Auskunft anzurufen und mir die dortige Telefonnummer heraussuchen zu lassen, aber dann verzichtete ich. Beim Telefonieren würde ich keine Auren sehen können. Wie konnte ich da überhaupt einschätzen, was mein Gesprächspartner dachte und fühlte?
Jemand anderem von meiner neuen Fähigkeit zu erzählen, erschien mir nicht ratsam. Wer würde mir glauben? Wenn ich daran dachte, wie skeptisch ich selbst gewesen war. Ich schwieg also und sammelte Erfahrungen. Die Lichterscheinungen wurden immer deutlicher, überstrahlten alle anderen Wahrnehmungen. Selbst wenn ich ein Auto vorbeifahren sah, sah ich nicht den Kasten aus Stahl, sondern das Leuchten der mitfahrenden Personen. Bei Autobussen musste ich gelegentlich sogar die Augen schließen, um nicht von den vielfarbigen Strahlen geblendet zu werden.
Die nächsten Tage bewegte ich mich wie ein Schlafwandler. Diese ständige Präsenz der Gefühle anderer Leute wurde zu einer regelrechten Belastung. Es interessierte mich gar nicht so sehr, ob der Kellner vor Glück hellrot pulsierte. Wahrscheinlich hatte er letzte Nacht guten Sex. Ging mich das was an? Nein! Und der Straßenkehrer brauchte mich auch nicht so neidgrün anzusehen.
Ein hellblaues, frisches Leuchten vor mir strahlte mich an.
"Marek, altes Haus! Wie geht's?"
Die Stimme kannte ich. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich vertraute Gesichtszüge unter dem Hellblau wahrnehmen.
"Philipp? Schon wieder da? Ich dachte, du wärst in der Karibik."
"War ich auch."
"Du siehst erholt aus. Ganz hellblau."
"Hellblau? Wieso hellblau? Wenn du jetzt gesagt hättest, ich wäre braun geworden ..." Philipp schaute an sich hinunter. Ich setzte zu einer Erklärung an.
"Ja, weißt du ... deine Aura, die ist ganz hellblau. Das ist so, bei Menschen die entspannt und erholt sind."
"Meine Aura?" Er sprach das Wort aus wie etwas sehr suspektes.
"Ja, ich hätte ja auch nicht gedacht, dass es so etwas gibt. Aber jeder Mensch hat eine. Man kann sie sehen, wenn man darauf achtet. Es funktioniert wirklich."
Philipps Blick war jetzt geradezu mitleidig.
"Marek. Mensch. Dass du dir so einen Blödsinn erzählen lässt."
"Aber es ist kein Blödsinn. Du musst dich nur darauf einlassen. Probier es doch einfach mal aus."
Philipp war wirklich ziemlich braun geworden. Er hatte so ein albernes Hawaiihemd an, wahrscheinlich hatte er das mitgebracht. Ich überlegte, warum mir das erst jetzt auffiel. Dann sah ich es. Die Aura! Sie war weg. Nicht nur bei Philipp. Bei den anderen Menschen, die vorbeigingen auch. In meinem Kopf mischten sich Erleichterung und Konfusion.
"Philipp! War nett, dich zu treffen. Ich muss weiter. Meld dich doch einfach die Tage mal."
Schnell machte ich mich von dannen.
Das Telefon klingelt schon wieder. Das Display zeigt Philipps Nummer. ich weiß schon, warum du anrufst, mein Freund. Aber ich gehe nicht ran. Das Problem musst du jetzt selbst lösen. Ich bin heute hellblau und vielleicht ein kleines bisschen dunkelgrün.


Eingereicht am 20. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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