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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Bärlauch am Morgen
© Sigrid Lang
Behutsam drückte Laura die Türklinke hinunter und schaute in das Zimmer ihrer Großmutter. Seit einigen Tagen hatte sie eine fiebrige Erkältung und musste das Bett hüten. Die blauen Vorhänge waren zugezogen. Der Geruch von Thymiantee erfüllte den Raum. Im diffusen Licht erkannte sie die Umrisse des Bettes und das dicke Federbett. Leise Schnarchtöne waren zu hören. Auf Zehenspitzen näherte sich Laura dem Bett. Das Schnarchen verstummte. Die Großmutter schlug die Augen auf und betrachtete ihre Enkelin mit Erstaunen.
"Wer besucht mich denn so früh am Morgen?", fragte sie freundlich und lächelte.
"Du musst aufwachen, Oma, der Frühling ist da". Laura hielt ihr ein paar Stängel mit großen Blättern entgegen, an denen kleine weiße Blüten hingen. "Da, hab' ich eben gepflückt. Maiglöckchen".
Die Großmutter steckte ihre Nase in die Blüten und sog den Geruch ein. Schnell wendete sie den Kopf ab und lachte. "Die riechen aber merkwürdig, Laura, riech' mal selbst dran."
"Ich finde auch die stinken", sagte Laura verwundert.
Die Großmutter lachte wieder und bekam einen Hustenanfall. Sie deutete auf das Glas Wasser auf ihrem Nachtisch. Nachdem der Hustenanfall verebbt war, reichte das Mädchen ihr das Glas und sie trank in kleinen Schlucken. Dann stellte sie das Glas zurück.
"Ich glaub', das ist Bärlauch, mein Schatz", sagte sie und lachte wieder, auch Laura lachte. "Maiglöckchen kommen aber auch bald".
Sie setzte sich auf und umarmte Laura, die sich an sie schmiegte. "Am besten, du nimmst eine Vase aus dem Schrank und stellst sie auf die Fensterbank. Nachher bringst du sie Mama in die Küche, die Blätter kann sie in den Salat tun. Das schmeckt fein".
Laura nahm eine Vase aus dem Bauernschrank und füllte sie mit Wasser.
"Mach' bitte das Fenster auf, lass' die Sonne rein".
Laura zog die Vorhänge auf und öffnet das Fenster weit. Frische Luft strömte herein. In den Sonnenstrahlen tanzte der Staub.
"Bärlauch am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen" dichtete die Großmutter. "Mir geht es heute schon so viel besser."
Sie drückte Laura glücklich an sich.
"Du musst dich aber zudecken, wenn das Fenster offen ist", sagte Laura altklug. "Der Doktor hat gesagt, wir müssten aufpassen, dass du keine Lungenentzündung bekommst". Sie stopfte der Großmutter die Federdecke bis unter das Kinn. "Ich hatte schon solche Angst, dass du sterben musst, Oma".
Die Großmutter streifte die Bettdecke wieder ab, zog Laura aufs Bett und nahm sie in die Arme. "Ich hab' Angst, dass es passiert", flüsterte Laura.
"Angst musst du nicht haben", murmelte die Großmutter in ihr Haar. "Ich hab' auch keine Angst".
"Wie ist es denn, Sterben?", fragte das Mädchen leise.
"Ich weiß es nicht. Aber es ist bestimmt wie Einschlafen. Man wird müde, macht die Augen zu und wenn man aufwacht ist man fort, woanders".
Tränen stiegen dem Kind in die Augen, ihr Hals tat weh. Sie drückte sich an ihre Großmutter.
"Als ich so alt war wie du, zehn Jahre", begann die Großmutter "ging ich sonntags immer in den Kindergottesdienst. Einmal durften wir dabei sein, als die Konfirmanden am Freitag vor der Konfirmation ihre Prüfung ablegen mussten. Jedem der Konfirmanden wurde eine Frage gestellt, die sie dann vor allen Anwesenden, auch den Eltern, beantworten mussten. Ich fand das so schrecklich, ich stellte mir vor, wenn man mich fragen würde und ich könnte keine Antwort geben! Ich beschloss, mich nicht konfirmieren
zu lassen. Ich hatte richtig Angst davor. Denk dir, als ich dann vierzehn war, und - selbstverständlich - in den Konfirmationsunterricht ging, hatte ich gar keine Angst mehr. Inzwischen hatte ich alles gelernt, was ein Konfirmand wissen muss und als es soweit war, konnte ich frei und ohne Scheu die Fragen beantworten. Das war ein wichtiges Ereignis für mich, ich hatte festgestellt, dass ich mir ganz unnötig Sorgen gemacht hatte".
Laura setze sich auf und sah sie an.
Die Großmutter lächelte. "Ich weiß jetzt, dass das Leben einen mit seinen Aufgaben wachsen lässt" fuhr sie fort. "Das habe ich damals gelernt. Man ist dann soweit, kann den Dingen gelassen entgegensehen ohne Angst. So wird es auch mit dem Sterben sein". Sie hob den Kopf und lauschte. "Hör' mal, eine Meise läutet". Sie nahm Laura wieder in die Arme.
Gemeinsam hörten sie dem Frühling zu.
Eingereicht am 19. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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