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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Gib mir bitte den Schlüssel
© Silke Klaassen- Boehlke
"Fährst du?"
"Ja, sicher fahre ich, setz dich schon mal rein!"
"Ich weiß nicht, habe ich überhaupt an alles gedacht?"
"Ich denke schon, was sollte denn fehlen?"
"Ich fehle mir, ich werde mich vermissen,
die alten Zeiten, alles was gewesen, nie wieder wird es so sein,
wie es war. Ich werde mir sehr fehlen, ich vermisse mich jetzt schon,
wie ich alle vermissen werde, die jetzt nicht hier bei mir sind.
Himmel, bitte steh mir bei!"
"Liebling?"
"Ja?"
"Ich fragte, was denn fehlen sollte?"
"Unterlagen, wichtige Papiere, ich weiß es nicht, es fehlt immer etwas!"
"Es wird nichts fehlen, alles ist gut!"
"Nichts ist gut, gar nichts ist gut.
Wie soll denn etwas gut werden, wenn es noch niemals gut war.
Wer will mir denn sagen, dass alles wieder gut wird? Wer?
Ich werde keinen Menschen dort im Krankenhaus kennen, keinem Menschen jemals vertrauen,
denn ich vertraue ja noch nicht mal mehr mir. Alles nur Lug und Betrug.
Ich hasse mich, ich hasse alles, habe mir nur etwas vorgemacht, all die Jahre,
und wußte nichts davon, habe es noch nicht mal gespürt, wie denn auch,
wie sollte ich
es spüren, wenn doch alles scheinbar gut war, Jahrelang gut war,
gut.. nein, nichts ist mehr gut. Gut sein bedeutet, dass es schmerzt,
und es tut so weh."
"Du bist so still, geht es dir nicht gut?"
"Hör auf zu fragen, frag mich nicht, was soll ich denn antworten,
dass alles gut ist? Ich sagte doch schon, nichts ist mehr so wie früher,
keine Antworten auf Fragen, und glaube mir bitte, Fragen habe ich viele,
so viele Fragen, wie soll ich es sagen, wie soll ich es beantworten,
mir fehlen die Worte, ich fehle mir, ... fehlen ... werde ich fehlen?
... irgend wem fehlen? ... meine Kinder werden mir fehlen, aber ...
werde ich ihnen auch fehlen?
Lieber Gott, ich hatte doch noch so
viel mit ihnen vor!
Sie fehlen mir jetzt schon ..."
"Hör mal, ich habe mir gedacht, dass ich dich morgen
mit den Kindern besuchen komme, gleich nach der Arbeit, ist dir das Recht?"
"Vorsicht, dass ist eine Falle! Du willst mir Hoffnung machen,
mich ablenken, ich soll mich freuen, vorfreuen, doch ich kann mich nicht freuen,
ich will weinen, ich will schreien, ich will dass ganze Elend aus mir heraus brüllen.
Ich will aufschreien, so laut wie ich noch nie in meinem Leben geschrien habe.
Ich will mich frei schreien, in den Himmel schreien, ich will... !"
"Sag doch endlich etwas!"
"Ja, kommt vorbei!"
"Weißt du, die Kinder freuen sich dich wieder zu sehen!"
"Mich wieder - zu - sehen, ja, ich will sie auch wieder sehen,
immer wieder ansehen, keinen Blick von ihnen lassen, dass will ich auch, so gerne.
Ich will sie nicht verlassen, verstehst du? Ich will sie hier haben,
warum sind sie jetzt nicht da? Ich will jetzt kein Auto fahren und schon gar nicht
in diese Richtung, Richtung Klinik, ich will in die Sonne, an den Strand,
ich will mit den Kindern das Meer wiedersehen, da will ich hin!
Doch wer fragt schon, was ich will, wer fragt? Keiner
fragt wirklich, keiner...
ich aber weiß, was ich will. Und ich weiß auch, was ich nicht will.
Ich will nicht in die verkehrte Richtung fahren, ich will hier nicht lang fahren,
bitte kehre zurück, ich will zurück, bitte laß mich doch aussteigen, halte einfach an.
Ich will euch nicht wiedersehen wollen, weil ich euch gar nicht verlassen möchte,
kannst du das nicht einfach verstehen? Ich will nicht weg!"
"Wir sind bald da, mach dir keine Sorgen!"
"Sorgen? Was du heute kannst be-SORGEN, dass verschiebe nicht auf Morgen,
was für ein blöder Spruch. Ich sterbe jetzt schon, irgendetwas in mir stirbt gerade,
ganz allein, vor lauter Angst, sterbe ich, ohne dass ich es will, ohne dass ich es beeinflussen kann.
Meine Uhr tickt, sie läuft ab... rückwärts.. läuft sie.. gegen meinen Strich,
verdammte Zeit, ich will nicht dass die Zeit vergeht.
Ich will nicht ablaufen, ich will nicht gleich da sein,
kehr bitte um, du fährst in die verkehrte
Richtung,
wir müssen mit der Zeit fahren, nicht dagegen.
Ich will da nicht hin, wo ich etwas beende,
was noch nicht begonnen hat,
ich hatte doch noch so viel vor, wollte so viel erreichen!"
"Morgen wissen wir mehr, es wird nicht so schlimm werden!"
"Und ... am Morgen, ... wer vertreibt Kummer und Sorgen?
Wie gehen denn noch mal all diese blöden Sprüche? Spinnen, ich glaube,
Spinnen waren es. Spinnen am Morgen! Aber ich will keine Spinnen, ich will mich wieder haben!
Ich will nicht dahin, nicht drüber nachdenken, nicht selber weiterspinnen.
Weißt du, schlimm ist es schon, denn ich sterbe jeden Atemzug ein bisschen mehr, nur ...
ich werde sterben und von euch gehen, doch ihr müsst mit meinem Tod leben,
und eines Tages werde ich
auch für euch gestorben sein, endgültig.
Ich werde tot sein und ihr lebt. So wird es aussehen. Totgeschwiegen.
So und nicht anders. Spinnendreck!"
"Komm, nimm das Taschentuch und hör auf zu weinen, du bist nicht alleine!"
"Doch, ich bin alleine, denn keiner geht mit mir, ich muss da alleine hin,
wo ich nicht hin will, doch ihr sagt, ich muss, und ich sage, ich muss nicht.
Ich will nicht, ich will gar nichts davon hören, nichts sehen und nichts davon riechen.
Mir ist schlecht, mir ist so verdammt schlecht und dabei soll doch alles bald wieder gut sein.
Nichts ist gut, denn mir ist so schlecht. Ich bin schlecht, richtig schlecht
und krank und bald tot, schneller als man denkt, kann alles passieren,
sagt
man, wenn man nicht aufpasst. Ich habe nicht aufgepasst,
habe nicht auf mich aufgepasst, immer auf die Anderen,
aber nicht auf mich, nun ist es zu spät. Verpasst habe ich mich,
regelrecht verfehlt, bin an mir vorbei gerannt, habe mich in das Leere laufen lassen,
nun laufe ich wieder in die verkehrte Richtung. Ich will zurück,
mich wieder finden, ich weiß ja noch nicht einmal den Tag,
an dem ich mich verlor, Himmel, wo soll ich mich denn nur suchen gehen?"
"Kann ich irgendetwas für dich tun? Bitte sag doch etwas!"
"Ich kann nicht mehr reden, mein Hals ist wie zugeschnürt.
Mir ist übel, richtig übel, mein Herz klopft
und das Blut rauscht in meinen Ohren. Wie soll ich schlucken,
wenn der Mund ganz trocken ist, wie soll ich erzählen,
wenn ich mich nicht mehr hören kann, womit kann ich euch beruhigen,
wenn ich nur noch zittere und jeden Moment ein klein wenig mehr sterbe."
"Bitte, sag etwas!"
"Mir ist kalt!"
"Soll ich die Heizung aufdrehen?
"Ich bekomme keine Luft!"
"Oder lieber das Fenster runter machen?
"Ich sterbe!"
"Nein, du wirst nicht sterben, alles wird gut!"
"Alles? Nein, nichts wird gut.
Die Tränen wollen springen, warum halten sie sich an den Klippe fest
und stürzen sich nicht herab? Verdammt noch mal, macht mir Platz
und weint euch aus, ihr verdammten Tränen, verschwindet
wie all die verlogenen Worte und falschen Versprechungen.
Geht, geht alle und lasst mich allein, ich werde sowie so allein sein,
ich, ich, ich, immer nur ich, und ihr werdet alle vor mir stehen,
mit Tränen auf euren Gesichtern und werdet mich ansehen,
mich
sehen, mich, einen Menschen, der nicht mehr weinen wird,
weil er längst gegangen ist, obwohl er nicht gehen wollte."
"Woran denkst du gerade?"
"Ich will noch ein letztes Mal fahren!"
"Du kennst die Strecke nicht!"
"Aber ich kenne die Richtung. Gib mir bitte den Schlüssel."
Eingereicht am 19. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.