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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Nils Thomsen
© Gabriela Weil
Sein Name war Nils Thomsen. Er wohnte in einer alten, weidenumgrenzten Kate gleich hinter dem Deich, deren Reetdach über und über mit Moos bedeckt war, was dem Betrachter einen Hauch von Verwunschenheit vermittelte. Seit nunmehr drei Jahren wohnte Nils allein dort: damals verstarb seine Frau Gesche. Der alte Thomsen genoss bei den Dorfbewohnern einen seltenen Ruf; man sagte von ihm, er habe das zweite Gesicht, eine Behauptung, der Folgendes zu Grunde lag: Vor Jahren feierte man im Kirchspielskrug die Hochzeit
des Deichgrafen Hamkens. Als die ausgelassene Gesellschaft spät in der Nacht im Begriff war, aufzubrechen - draußen ging gerade ein heftiges Unwetter nieder -, hielt Nils Thomsen die Leute mit bleichem Gesicht und schlotternden Gliedern zurück: sie sollten wieder hinein ins Lokal gehen, denn hier auf der Straße würde sich gleich ein Unglück ereignen - prophezeite er und blickte mit weiten, ausdrucksleeren Augen auf die von Erlen begrenzte einzige Zufahrtsstraße zum Dorf. Die Hochzeitsgäste aber meinten, der Thomsen
sei nicht recht bei Trost, habe wohl zuviel Genever getrunken und schlugen seine Warnung in den Wind. In dem Moment zerschnitt ein greller Blitz die Dunkelheit, verfing sich in einer der Erlen, spaltete diese der Länge nach durch und ließ den Baum krachend quer über der Straße niederstürzen. Anschließend folgte ein solcher Donner, dass der ganze Erdboden vibrierte. Zutiefst erschrocken flüchteten die Leute ins Lokal - alle, außer Nils, der in dieser Nacht nicht mehr zum Vorschein kam. Seitdem haftete ihm der
Ruf an, er könne Ereignisse voraussehen.
Der alte Thomsen war von niederer, drahtiger Statur. Seine blauen Augen blickten aufmerksam und misstrauisch zugleich aus dem schmalen Gesicht, das geprägt war von geraden, unkomplizierten Zügen. Alles lag offen in diesem Gesicht, wenn, ja wenn da nicht jenes stete Misstrauen im Blick liegen würde, das sich übrigens auch in dem vorsichtigen Gang des Mannes wiederfand, der anmutete als könne er jeden Augenblick in eine Glasscherbe treten.
Nils Thomsen hatte wahrlich viel erlebt in seinem Erdendasein: Er wusste um die Zeit der großen Armut hier, wo es noch keinen Fremdenverkehr gab und die Küstenbewohner ausschließlich von Strandgut, ihrem Vieh und vom Fischfang lebten. Nils ging damals auf Störfang, denn einzig der Stör brachte Geld ein, sofern man denn das Glück hatte, diesen Fisch, der eine Länge von bis zu fünf Metern erreichen kann, in seinen Netzen zu fangen. Aber dann baute man das große Stauwerk und die Störe suchten sich eine andere Route
zu ihren Laichplätzen. Ja, und außerdem gab es da noch die riesigen Wanderdünen, die Jahr für Jahr mehr ins Landesinnere strebten und den Menschen ihr Hab und Gut einfach wegnehmen, indem sie sich darüber legten. Damals pflanzte die Gemeinde zum Schutz ihrer Bewohner Strandhafer auf die Dünen, um diese sesshaft zu machen. Indes - die Not der einfachen Leute hier war so groß, dass sie die festen Halme abbrachen, um sie als Viehfutter zu verwenden. So blieb dem Bürgermeister nichts anderes übrig, als Wachposten
in die Dünen zu schicken, die dem Treiben Einhalt gebieten sollten, was oftmals zu Handgreiflichkeiten führte, denn für die Ansässigen hier waren die Dünen ihr eigen Grund und Boden.
Doch dann änderte sich schlagartig alles, als nämlich die ersten Touristen aus der Großstadt anrückten und von der grandiosen Weite des hiesigen Sandstrandes überwältigt waren. Und es kamen von Jahr zu Jahr mehr, und sie brachten Geld mit und Arbeit für die Einheimischen: Chauffeure, Köche, Stubenmädchen, Wäscherinnen sowie Strandwärter fanden im Zuge dessen eine lohnende Beschäftigung; auch der arme Fischer Nils Thomsen, der sich plötzlich in der Rolle eines Strandwärters wiederfand, um die wohlhabenden Stadtbewohner
vor den heimtückischen Gefahren von Ebbe und Flut zu bewahren. Nur - das Paradoxe an dieser Situation war, dass Nils gar nicht schwimmen konnte, dafür aber konnte er umso lauter in sein Alarmhorn blasen und zwar derart, dass man schon vor lauter Schreck ob des ohrenbetäubenden Lärms umgehend die Sicherheit des festen Bodens unter den Füßen suchte. Deshalb konnte der alte Thomsen am Ende seiner Strandwärterzeit auch eine stolze Bilanz vorweisen: niemals ist unter seiner Obhut ein Badegast in Seenot geraten.
Mit seiner Frau Gesche indes verband ihn eine ganz besondere Beziehung, nämlich Ehrfurcht. Nils Thomsen war der festen Überzeugung, dass Gesche einst im Himmel für ihn bitten und ihm zur rechten Zeit ein Zeichen geben würde, wann er denn beim Petrus anklopfen und um Einlass bitten könne. Der Alte wusste um das Ableben seiner Frau vor dem eigenen.
Dann verstarb Gesche: eines Abends, als das Ehepaar wie jeden Abend gemeinsam in seiner Wohnstube saß - Gesche strickte gerade einen roten Pullover für ihren Mann, der soeben fertig geworden war -, sank sie einfach über ihrem Strickzeug zusammen und hörte auf zu atmen. Nils, dessen Platz neben seiner Frau auf dem Sofa war, nahm die Tote samt Strickzeug in seine Arme und hielt Totenwache. Drei Tage lang hockte er so unbeweglich gemeinsam neben der Verstorbenen. Schließlich raffte er sich auf und ging zum Amt,
um den Todesfall zu melden.
"Warum er denn nicht eher gekommen sei?", fragte ihn der Beamte in vorwurfsvollem Ton.
"Ich habe Totenwache gehalten", antwortete Nils.
"Aber es ist hier Pflicht, jeden Todesfall umgehend zu melden laut Paragraph neun der Gemeindeordnung", echauffierte sich der Amtsdiener und unterstrich mit einem Nasenstüber die Richtigkeit seiner Zurechtweisung.
Daraufhin reckte Nils Thomsen seine schmächtige Gestalt in die Höhe, um in scharfem Ton zu entgegnen: "Ich habe meine Pflicht getan, ich habe Totenwache bei meiner Frau gehalten." Und dabei warf er dem Beamten einen derart stechenden Blick zu, dass dieser wie hypnotisiert wortlos die notwendigen Formalitäten in Angriff nahm.
Kurz danach wurde der Leichnam von Gesche im Sarg aus der Kate hinterm Deich herausgetragen und fortgebracht. Nils sah den Bestattungswagen mit den schwarzverhangenen Fensterscheiben wegfahren, während seine Hände sich um den roten Pullover klammerten, den Gesche für ihn gestrickt hatte. Blutrot war er, ja, blutrot, das war ihre Lieblingsfarbe gewesen. Mit vorsichtigen Schritten schlurfte Nils ins Haus zurück, wobei er die Eingangstür offen ließ. Er vermochte nicht, sie zu schließen. Die offene Tür symbolisierte
für ihn Abschied. Schließlich schlug der böige Wind sie zu.
Seit diesen Ereignissen waren nun drei Jahre vergangen, drei lange Jahre, in denen man den alten Nils des Abends bei schönem Wetter pfeiferauchend vor seiner Kate auf der Bank hockend beobachten konnte; seine wettergegerbten Hände streichelten stets liebevoll über einen blutroten Wollpullover. Die ganze Welt ringsumher nahm an Hektik, Unrast sowie Schnelligkeit jeden Tag zu - einzig Nils Thomsen saß da, ausgestattet mit einer Seelenruhe und aller Zeit dieser Welt. Er wartete, wartete auf ein Zeichen von seiner
Frau Gesche.
Eines Tages, es war ein windiger Herbstnachmittag, entdeckte Nils einen Drachen, der sich langsam hinter der Deichkrone in den blauen Himmel schraubte. Es war nichts weiter als ein ganz einfacher Drache, dessen Holzgestell billiges Pergamentpapier überzog - und das war blutrot! Und Nils wusste, was das war. Und er ging in seine Kate, streifte sich den blutroten Pullover von Gesche über, schloss sorgfältig die Eingangstür hinter sich zu als Zeichen von Heimkehr, um dann mit seinem visionären Lächeln auf dem offenen
Gesicht und großen, weiten Schritten hinaus zum Meer zu gehen. Ja, fest, groß und sicher waren seine Schritte auf einmal, nicht mehr vorsichtig, als könne er jeden Augenblick in eine Glasscherbe treten. Und Nils Thomsen ging hinaus zum Meer und noch weiter - ins Meer. Und obwohl er als Fischer und Strandwärter gearbeitet hatte, so konnte er doch nicht schwimmen.
Der Drachen gehörte zwei Jungen aus dem Dorf, die sich an seinem lustigen Flug erfreuten. Der Wind indes wurde mit einem Mal so heftig, dass sich der Drache von seiner Schnur losriss und einzig dem Gesellen Wind gehorchend immer höher hinauf und weiter hinaustrieb aufs offene Meer. Betrübt blickten die beiden Knaben ihrem lieben Spielgefährten hinterher. Lange standen sie da und blickten ihm hinterher bis er schließlich am Horizont in der Ferne über dem Meer verschwand.
"Er ist weg", jammerte der kleinere Junge unglücklich und begann zu weinen.
Tröstend nahm ihn daraufhin der Größere in den Arm. "Nein, er ist nicht weg, wir können ihn nur hier nicht mehr sehen."
"Aber wo ist er denn?", fragte der Kleine.
"Drüben, auf der anderen Seite des Meeres in England."
"Und kann man ihn da jetzt sehen, in England?"
"Ja, dort drüben kann man ihn jetzt sehen", versicherte der große Junge.
Daraufhin lief ein Lächeln über das tränennasse Gesicht des Kleinen und die beiden gingen Hand in Hand nach Hause.
Eingereicht am 18. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.