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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Marrakech
© Gerd Berghofer
Im Cafehaus zu Mittag. Die Musik schnarrt standesgemäß im Hintergrund. Rührgeräusche und mancher Blick in den Kaffeesatz, Zeitungsrascheln, gediegen in Halter gespannt. Heiße Schokolade und eine hübsche Kellnerin entschädigen für langes Warten und das Geräusch, das die betagte Dame am Nachbartisch beim Schlürfen einer Melange verursacht. Draußen hängt der Tag unter einer nebligen Schmusedecke, selbst so ein Tag kann träumen von Sofa und Kuschelrunden und vanillearomatisiertem Rotbuschtee. In den Gesichtern hängt
die Unlust, und ein stilles Verständnis für denjenigen, der jeden Augenblick einschläft in Anbetracht der tagumspannenden Lustlosigkeit. Auf der Speisekarte gibt es leider keine Mütze voll Schlaf, in der man sich suhlen könnte. Das am meisten anekelnde Geräusch in einem Kaffeehaus ist das Klingeln eines Handys, es erregt zumindest schweigenden Unmut. Die ständige Erreichbarkeit hat ihren Preis in der Zerstörung des Paradieses. Daneben: Sitzen, schweigen. Heiße Schokolade muss dick sein, dick und süß und braun,
und die Sahne darin kalt und weiß. Was die standesgemäße Musik in den Hintergrund presst ist das Geschnatter der Gänse von Tisch drei. Vier Frauen, die sich viel zu sagen haben, heben den Geräuschpegel ins Schmerzhafte. Grazil bewegen sich die Kellnerinen durch die Tischreihen, sie gleiten wie weißschwarze Schlangen hindurch und sind alle blond und mit einem seligen Lächeln bestückt. Die Frau am Nachbartisch liest "Spaziergang durch Berlin" von Franz Hessel, groß in goldenen Lettern steht das auf dem
blauen Leineneinband, ein Buch in Übergröße. Berlin ist überall. Die Schokolade lässt sich trinken und aus Langeweile lässt sich auch die Speisekarte auswendig lernen, doch selbst die Namen der Gerichte sind purer Schmerz in ihrer ausgelullten Phantasie, wo sich allein schon die Namen der Salate anhören wie Zufälligkeiten aus der Erdkunde. Dennoch ist das Flair unbezahlbar und wohin gehört der Schreibende, wenn nicht in ein Cafehaus. Dort schrieben sie alle, die wirklich großen Schriftsteller, heute sitzt Ecke
und schreibt sich sein eigenes Denk-mal, niemand wird sich an seinen Besuch erinnern, es sei denn, er schubst vor Zorn die Frau vom Nachbarstuhl, weil sie Kaffeeflecken in ihr Berlin-Buch sudelt. Wer sich an einem Buch vergeht, vergeht sich am Intellekt der Welt und an der Kultur eines Landes. Aber man weiß auch: Berlin ist überall. Sie blickt zu mir herüber, ihr Auge ist ganz nah. Weiß, so weiß, als sei die Farbe daraus ausgeblasen, man sah es aber auch schon gelb, so, als zöge trüber Honig Richtung Zentrum,
nicht mehr als die Haut eines geschälten Regenbogens, bunt wie der Picadilly Circus nach innen und für uns doch nicht mehr als ein Fixstern. Dort saugen ich mich fest als gäbe es nichts anderes und wenn es Augenblicke zu finden gilt, dann sicher hier. Hier verlieren sie die Haftbarkeit ihrer Bestimmung und kreisen um das Bull, schwarz, aufblasbar, zoomunkundig, doch mit einem Laboratorium inside, mit Dunkelkammer, Bildlabor mit Schere und Album darin, alles Ansichtssache. Es reicht an guten Tagen so weit hinaus
bis beinah ins Kleinste, immer wieder fährt ein faltiger Tafelschwamm dazwischen. Ich wende mich ab, ich kann nicht anders und muss endlich an Hochsommer denken. Vielmehr kommt mir eine Frau unter den Gänsen viel zu nah, sie öffnet ihren Mund zu einer aufspreizenden Bewegung bis ans Ende der Scharniere, dazwischen flaniert die Genusssucht und verfällt in ein animalisches Geräusch, darunter birst das Baguette "Roma" wie rösche Schweinshaut, einige Krumen stürzen sich auf die Rüschenbluse und bleiben
in den Tälern dieser haften wie gesäter Samen. doch andere, weiter auf der Flucht vor dem was einschlug, trudeln wie einsame Segler dem Boden entgegen, so sie nicht auf dem Tisch, auf dem Teller aufschlagen. Völlig geräuschlos geht das alles, sehr zur Freude derjenigen, die sich der Kaffeehausgeräuschkulisse hingeben wollen, übrigens kann diese Frau ihren Hals dehnen wir eine Schlange.
Man bezahlt für alles, was man hatte, die Sudelflecken, Geschnatter und die schlechte, durch zig Lungen geglittene Luft inklusive, und schält sich seinerseits standesgemäß in Hut und Mantel ohne viel geschrieben zu haben, nur beeindruckt im pursten Wortsinn. Die Eindrücke hängen schwer in den Taschen. Am schwersten jener: Man sollte das Cafehaus wechseln. Man geht dahin ohne zurückzublicken und hat vor seinem kopfschüttelnden geistigen Auge den Namen des Salates "Marrakech".
Eingereicht am 18. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.