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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Franchthi
© Sylvia Hess
Die Koffer sind gepackt. Dietlinde zieht den Reißverschluss der Tasche mit den zerbrechlichen Souvenirs für das Handgepäck zu. Von draußen dringt das Blöken der Schafe herein, die wie jeden Nachmittag in die Ställe getrieben werden, ein eintöniges Geräusch, das ab und zu vom Belfern der Hirtenhunde unterbrochen wird.
"Fertig?" fragt Johannes an der Tür.
Sie nickt und richtet sich auf.
"Ich trage das Gepäck in den Flur", sagt er und drängt sich an ihr vorbei, "dann geht es heute Nacht schneller."
Das Schlafzimmer ist eng und Dietlinde weicht auf die Terrasse aus, um Johannes nicht im Weg zu stehen. Sie lehnt sich ans Geländer, genießt noch einmal die Aussicht über die sanften Hügel mit den ausladenden Olivenbäumen, folgt mit dem Blick der schmalen Straße, die sich hinunter schlängelt zum Meer. Am Himmel zerfledderte Wolkenfahnen und ein seltsam gelber Lichtstrahl, der die Insel Hydra dort drüben als dunkles, ausladendes M in die bleigraue See zu schreiben scheint. Gestern hat das Wetter gewechselt; der
perfekte Griechenlandhimmel ist hinter Wolkenschichten verschwunden, die stündlich Regengüsse über das ausgetrocknete Land schütten. Dietlinde beobachtet, wie der Rest der Herde jenseits der Straße im Stall verschwindet und der Schäfer die schwere Tür hinter den Tieren zu zieht.
Johannes tritt neben sie und zeigt mit geschlossener Faust auf das Meer.
"Ein Schiff!"
Sie fahren also wieder. Gestern durften die Schiffe nicht auslaufen, Sturm war gemeldet mit Windböen bis Stärke acht.
"Ich würde gern noch mal nach Kilada runter fahren", sagt Dietlinde mit der ihr eigenen Gleichgültigkeit in der Stimme, die oft im Widerspruch zu dem Gesagten zu stehen scheint. "Abschied nehmen vom Meer. Was meinst du?"
Johannes öffnet die Faust, der Autoschlüssel liegt darin. "Das wollte ich auch gerade vorschlagen."
Im Auto riecht es muffig, sie lassen die Scheiben herunter. Dietlinde ist froh über den Fahrtwind. Vor ein paar Tagen ist die Klimaanlage ausgefallen. In dem engen Mietwagen fühlt sie sich unwohl und gerät schnell ins Schwitzen.
Die geteerte Zufahrt zum Haus mündet nach ein paar hundert Metern in die Piste. Überall liegen Häuser an den Hügeln, vereinzelt oder zu dritt und viert aneinandergebaut, und die ganze Region ist von einem Netz unbefestigter Wege überzogen. Johannes prescht durch die Pfützen, dass die braune Brühe hoch spritzt. Der Wagen schlingert.
"Pass auf, Johannes, der ganze Weg ist aufgeweicht!"
Er drosselt das Tempo, fährt vorsichtiger. Den kurvigen Hügel runter, durch die Olivenplantage, am rostroten Zaun der Straußenfarm rechts ab, dann lange geradeaus bis zu den alten Olivenbäumen beiderseits des Weges, dort links, beim Bauernhof mit dem immer kläffenden Hund gleich wieder rechts bis zur Marmorschneiderei, dann links einen unübersichtlichen, mit dichten Hecken eingegrenzten Weg entlang, der nur eine einzige Abzweigung hat und nicht aufzuhören scheint, bis schließlich die beiden Müllcontainer auftauchen
und mit ihnen die geteerte Straße und mit ihr landkartenfeste Sicherheit.
Nach Kilada sind es nur wenige Kilometer Luftlinie, doch die Straßen sind gewunden und machen die Anfahrt lang. Als sie am Hafen eintreffen, dämmert es bereits. Johannes parkt den Wagen vor dem kleinen Fischlokal, in dem sie neulich gegessen haben. Der Wirt steht in der Tür und nickt ihnen zu. Sie steigen aus. Johannes schwingt die Beine kraftvoll heraus und setzt die Füße gleichzeitig auf die Straße, schiebt mit einem Ruck den gebeugten Oberkörper nach und richtet sich auf, tritt zur Seite und knallt die Autotür
zu, während er gleichzeitig dem Wirt zulächelt, den Kopf schüttelt und "Heute nicht!" ruft. Dietlinde dreht den massigen Körper erst auf dem Autositz in Türrichtung, stellt den rechten Fuß auf die Straße, hält sich mit dem rechten Arm an der Wagentür fest und zieht sich daran hinauf, bis sie sich mit dem linken Arm auf dem Wagendach abstützen und in einer halben Drehung auch das zweite Bein aus dem Auto ziehen kann. Sie steht einen Moment schwer atmend da, bückt sich noch einmal, hangelt ihre Handtasche
heraus und schiebt dann mit einer Pobacke die Wagentür zu. Johannes folgt dem Blick des Wirts, der Dietlindes Manöver beobachtet, und wendet sich ab.
Sie überqueren die Straße, gehen langsam an der Hafenpromenade entlang. Ein paar leichte Yachten ankern, daneben Fischkutter und kleine Boote. Es sind nur wenige Menschen unterwegs. Ein Pärchen knutscht hinter dem Kiosk, eine Frau schiebt mit schnellen Schritten einen Kinderwagen vorbei, im Kafenion diskutieren lautstark alte Männer. Zwei Hunde streiten sich um ein undefinierbares Stück Fleisch. Das Pflaster der Promenade ist noch feucht vom Regen; wenn Wind aufkommt, sprühen Wassertropfen von den Palmen. Es
riecht nach Tang und Dieselöl. Dietlinde zeigt auf die Bank, von der man einen schönen Blick auf die Insel des Milliardärs und über das Rund der Bucht hinweg hat. Als sie sich setzen, gehen die Lichter an, die Straßenlaternen von Kilada, die Lampen auf der Insel, in deren Mole die riesige Yacht ihres Besitzers liegt, und die gelben Scheinwerfer vor den Höhlen am anderen Ufer. Geheimnisvoll, gleich einer sich öffnenden Muschel, scheint die vordere Höhle in dieser Beleuchtung nächtliche Besucher zu erwarten, den
Eingang der hinteren ahnt man mehr als er zu sehen ist.
Johannes stößt einen Pfiff aus: "Schon dieses Panorama ist die Fahrt hierher wert!"
"Es hat was Mystisches, finde ich."
Er wendet ihr kurz den Kopf zu, nickt und sieht wieder hinüber.
"Von hier aus erkennt man gar nicht, dass es einmal eine einzige Höhle war", sagt er nachdenklich.
"Sie muss unglaublich gewesen sein. Eine Halle mit den Ausmaßen eines Tempels!"
"Hm. Möchte mal wissen, welche Schätze noch unter den Felsbrocken liegen, die bei dem Einsturz alles begraben haben."
Dietlinde lacht, klingt etwas weniger gleichgültig: "Nun, in der hinteren Höhle liegt einer - meine Sonnenbrille."
"Was?"
Sie zuckt mit den Schultern. "Meine Gucchibrille. Ich hab sie vorgestern auf einen Stein am Wasser gelegt, weißt du, an diesem kleinen Teich unten in der Höhle, und sie dann dort vergessen."
"Und das sagst du jetzt erst?"
"Es fällt mir gerade wieder ein. Gestern hat es ja geregnet! Ich habe sie vorhin beim Packen vermisst und überall gesucht. Schade um das teure Stück!"
Johannes schüttelt den Kopf und sagt nichts mehr.
Sie starren aufs Wasser, in dessen Wellen die Lichter tanzen.
Ich hab's verpatzt, denkt Dietlinde. Er wollte ein richtiges Gespräch mit mir anfangen über die Höhle. Ich hätte von Steinzeitmenschen, von allem, was uns der Archäologe bei der Führung vorgestern erzählt hat, sprechen sollen, nur nicht von meiner dämlichen Sonnenbrille. Das war's dann wohl, es ist aus, endgültig, ich weiß es. Wir hätten uns die Reise sparen können. Ich sehe doch, wie er die Lippen zusammenkneift, um jetzt bloß nichts Falsches zu sagen. Meint er etwa, ich hätte nicht bemerkt, wie er immer betont
wegsieht, wenn die Leute uns mit ihrem Vergleichsblick mustern - So ein gut aussehender Mann und daneben dieses Walross! -; wie er Löcher in den Himmel stiert, wenn er an einem Hang warten muss, bis ich hinterher gekeucht komme, und wie er dann etwas betont Freundliches sagt? Ich beobachte, wie er hinter seiner Sonnenbrille all die schlanken Frauen mustert - ich sehe seinen Kennerblick über Bikinifiguren schweifen, sich in gepiercte Bauchnabel bohren, in kleinen, festen Brüsten schwelgen - und dann lobt er die
Farbe meines Seidenrocks, um mir etwas Nettes zu sagen. Nett aber belanglos, denn wirklich zu sagen haben wir uns offenbar nichts, gar nichts mehr.
Ich hätte es ihr sagen sollen, denkt Johannes, es hat ja alles keinen Sinn. Wir sind nett und freundlich zueinander, höflich, ja, aber alles ist verkrampft. Ich hätte vor dem Abflug sagen sollen hör zu, Dietlinde, hör zu hätte ich sagen sollen, ich habe jetzt die dritte Geliebte in acht Jahren. Lass uns vernünftig reden, lass uns die Reise canceln. Wir sollten uns trennen, in Freundschaft meinetwegen, oder wie man das heute so nennt, aber trennen sollten wir uns. Ich kann einfach nicht mehr so weiter machen.
Ich kann ihr ja nicht ins Gesicht sagen, dass ich es nicht mehr ertrage zuzusehen, wie sie sich aus dem Auto wälzt oder aus dem Bett, wie sie neben mir her watschelt, wie sie bei jeder Gelegenheit Schweißausbrüche kriegt. Ich kann nicht mehr hören, wie ihre Schenkel beim Gehen aneinander klatschen, wie sie bei jeder kleinen Steigung keucht, wie sie blubbernd schnauft, wenn sie schläft. Nein. Ich will es nicht mehr. Die dritte Geliebte, und auch sie wird mir den Laufpass geben, wenn ich es nicht schaffe, Dietlinde
zu verlassen, weil mich das Mitleid an sie kettet wie Prometheus an seinen Felsen.
Er atmet tief.
Dietlinde auch, gleichzeitig.
"Fahren wir zurück?", fragt sie.
Es klingt kläglich. Käme sie nicht von Dietlinde, er würde diese Stimme einer zierlichen Frau zuordnen. Einer Frau, wie Dietlinde einmal eine gewesen ist.
Johannes nickt. Er räuspert sich.
Es fängt wieder an zu regnen.
Die Scheibenwischer quietschen. Johannes macht das Radio an, findet aber keinen Sender, nur Rauschen und Fiepen.
"Nervtötend, meinst du nicht auch?", fragt er und schaltet es wieder aus.
Dietlinde hört weder Scheibenwischer noch Radio noch Johannes. Sie starrt in den Lichtkegel, der das Stück Straße vor dem Wagen erhellt, ohne den Regen zu durchdringen.
Wie ist es bloß so weit gekommen?
Sie sieht nicht die Müllcontainer, nimmt nicht wahr, dass Johannes abbiegt, hört nicht, wie sich das gleichmäßige Rauschen unter den Rädern in Schmatzen und Platschen wandelt, als sie vom Asphalt auf die Piste wechseln.
Ihre Gedanken flattern auf, kreisen, fliegen fünfzehn Jahre zurück, fangen Erinnerungen ein, die wie zarte Gespinste in der Zeit schweben. Johannes stößt lachend eine Schaukel an, auf der Schaukel Dietlinde, eine schmale Frau, ihr dunkles Haar eine Fahne, wenn sie sich in den Himmel schwingt, und beim Rückstoß eine Woge um das strahlende Gesicht. Sie spürt noch jetzt dieses leichte Kitzeln, das sie beim Schaukeln immer so fasziniert hat, als würde jemand mit einer Feder von innen an ihre Bauchdecke streichen.
Sie will sich verlieren in diesem Gefühl, da ist es weg und ein anderes Bild zieht vorbei, es zeigt Dietlinde in Jeans; sie gräbt ein Loch, ein Pflanzloch für eine Rose, im Garten vor ihrem Haus, Johannes' und Dietlindes Haus. Sie haben ein Haus und einen Garten und bald auch ein Baby, einen kleinen Jungen, Daniel, mit staunenden Augen, die schwarz sind wie die seiner Mama.
Daniel. Die Bilder überstürzen sich. Daniel, der die Ärmchen nach ihr ausstreckt. Daniel, der jauchzend die ersten wackeligen Schritte macht. Daniel im Planschbecken. Mit Pudelmütze beim Schlittenfahren. Daniel zwischen Johannes und Dietlinde, die Händchen vertrauensvoll hochgestreckt, Engelchen flieg. Daniel.
"Scheiße noch mal!"
Johannes tritt mit voller Wucht auf die Bremse, deren Kraft Dietlinde in den Gurt reißt und aus ihren Gedanken heraus. Der Wagen schlingert, kommt zum Stehen.
"Mensch, war das knapp!"
Vor ihnen ein unbeleuchteter Lastwagen, breit wie der Weg. Ein Warndreieck baumelt an einem Seil von der Ladeklappe. Johannes hupt. Nichts rührt sich.
"Ich seh' mal nach", sagt er, "vielleicht hört der uns nicht in dem Regen."
"Aber er müsste doch unsere Scheinwerfer sehen. Ist da überhaupt jemand?"
"Weiß ich nicht."
Er springt aus dem Auto, hastet nach vorn. Dietlinde hört ihn fluchen.
Als er wieder einsteigt, tropft er.
"Keiner da, verdammt! Abgeschlossen."
"Und jetzt?"
"Und jetzt und jetzt! Jetzt sitzen wir erst mal fest. An dem Koloss kommen wir nicht vorbei." Er schnäuzt sich geräuschvoll. Dann macht er den Motor aus und schaltet das Licht ab.
"Sollen wir etwa hier stehen bleiben und warten, bis der Fahrer zurückkommt?"
"Was sonst? Oder willst du zu Fuß nach Hause laufen?"
Dietlinde sagt nichts mehr. Sie mag es nicht, wenn Johannes in dieser Stimmung ist, sie fürchtet sich davor, dass er dann irgendwann doch von den Dingen sprechen wird, die sie eigentlich nicht wahrhaben will. Dass er eine Geliebte hat, zum Beispiel. Sie weiß es längst, kennt ihren Duft, der in seinen Anzügen hängt, wenn er nach Hause kommt. Eines Tages wird es aus ihm herausbrechen, dann wird er sagen, dass er Dietlinde verlassen wird. Dass er sie hasst.
Sie sitzen und schweigen. Ihr Atem geht im Gleichklang, hin und wieder schnieft Johannes.
Nach zähen Minuten sagt er: "Wir verpassen noch das Flugzeug, wenn das so weiter geht. Nimm lieber das Handy raus, Dietlinde, und ruf den Vermieter an, vielleicht kennt er einen Schleichweg zum Haus."
Dietlinde greift nach ihrer Tasche, hält aber mitten in der Bewegung inne. "Das Handy steht in der Küche im Ladegerät!"
Johannes entfährt ein gepresster Ton, ein Gemisch aus Wut und Ohnmacht. Er atmet tief, und sie spürt körperlich, wie er sich beherrscht. Er lässt den Motor an und sagt betont ruhig: "Ich kann versuchen rückwärts zu fahren bis zu der Abzweigung, wir sind schon an ihr vorbei gekommen. Ich hab zwar keine Ahnung, wohin sie führt, aber mit Sicherheit wohnen da irgendwo Leute. Was meinst du?"
"Einverstanden."
Er fährt vorsichtig an, doch die Räder drehen durch. Der Motor jault auf.
"Mist, dieser Heckantrieb! Wir kommen nicht los."
"Warte!" Dietlinde schiebt sich aus dem Auto, setzt sich nach hinten. "So. Jetzt versuch's noch mal!"
Johannes legt den Rückwärtsgang ein, gibt Gas und lässt langsam die Kupplung kommen. Das Auto bewegt sich, schlingert noch einmal und bleibt dann in der Spur.
"Na bitte, es geht doch!" Dietlinde lächelt, aber es ist ein bitteres Lächeln, bei dem ihre Augen ernst bleiben, und es ist ihr plötzlich egal, dass sie so lächelt. Ohnehin sieht es Johannes nicht, denn er ist auf die Piste fixiert, die von den Rückfahrscheinwerfern nur spärlich beleuchtet wird. Nun, da sie rückwärts fahren, scheint die Strecke noch endloser, als sie ihnen sonst vorgekommen ist. Nach einer kleinen Ewigkeit schließlich die Abzweigung, der Wagen rollt wieder vorwärts. Die Piste ist genau
so schmal und von Gestrüpp gesäumt wie die, von der sie kommen; sie fahren schweigend in unbekannte Dunkelheit. Manchmal ist hinter einer Kurve eine Lücke im Gebüsch, doch sie erkennen nicht, was sich dort befindet, jedenfalls steht nirgends ein Haus, alles bleibt schwarz, Kilometer um Kilometer. Sie wechseln nur wenige Worte, verständigen sich knapp darüber, dass nichts zu sehen ist, dass sie wohl doch den Flug verpassen werden, schweigen wieder. Die Stimmung im Wagen ist eisig. Irgendwann hört es auf zu regnen,
aber es wird nicht heller. Dann holpert der Wagen schneller über die Piste, die nun deutlich abfällt, und Johannes muss öfter bremsen. Schließlich sehen sie rechts ein gelbliches Licht, es schimmert schwach, so dass sie nicht abschätzen können, ob es weit weg ist oder ob Bäume davor wachsen. Dietlinde beugt sich über den Vordersitz und sucht angestrengt den Pistenrand ab.
"Da!", rufen sie beide gleichzeitig, als ein Weg nach rechts abzweigt.
Die Strecke ist eng und buckelig, in den Senken steht das Wasser in tiefen Pfützen, die Steigungen sind felsig und glitschig. Von neuem beginnt es zu regnen, aber sie fahren auf das Licht zu, das bald gelber wird und größer. Der Weg verengt sich noch mehr, wird kurvig. Immer wieder verschwindet das Licht in den Kehren.
"Was ist das bloß?", fragt Dietlinde. "Für ein Haus ist das Licht eigentlich zu groß und - ach du liebe Zeit!"
Sie sind um eine Kurve gefahren, Johannes hält spontan den Wagen an.
"Wie sind wir denn hierher gekommen?"
Vor ihnen, in etwa fünfhundert Metern Entfernung, klafft, in gelbes Scheinwerferlicht getaucht, die Öffnung der Franchthi-Höhle. Da weder das Meer noch Kilada zu sehen ist muss es sich um die hintere Höhle handeln. Schlagartig wird ihnen bewusst, dass der Weg sehr bald zu Ende sein wird. Sie müssen zurück.
Fluchend tritt Johannes auf das Gaspedal und reißt das Lenkrad herum.
"Pass doch auf!", schreit Dietlinde, aber er schnaubt nur, bremst, haut den Rückwärtsgang ein, dass das Getriebe jault, stößt zurück, bremst, stochert in der Schaltung, gibt Gas.
"Willst du mich auch noch umbringen?", heult Dietlinde, als das Auto nach vorn schießt. Johannes kurbelt am Lenker, aber der Wagen bricht hinten aus, schleudert herum, schlittert über den Weg, rutscht zur Seite und landet krachend mit dem Heck in einer tiefen Rinne. Dietlinde wird bei dem Aufprall gegen die Tür geworfen, die Tür geht auf und Dietlinde fällt.
Sie fällt endlos, stürzt durch die Zeit, trudelt durch die Sphären ihrer künstlichen Gleichgültigkeit, durchstößt den Schutzwall aus Fett und Fleisch und schlägt hart auf die Erde, als der Arzt sie mit diesem durchdringenden Blick ansieht und sagt: "Ihren Mann konnten wir retten, Frau Reisacher. Für Ihren kleinen Jungen kam leider jede Hilfe zu spät."
Johannes stellt geistesgegenwärtig den Motor ab. Er hängt im Gurt, sieht aus dem Augenwinkel Dietlinde schreiend aus dem Auto fallen. Hat er sie aufschlagen gehört? Ist das wirklich Freude, wilde Freude, die da in ihm aufzuckt? Einen Moment nur, für den Bruchteil einer Sekunde, fühlt er sich frei. Dann schüttelt er sich, schluckt, löst den Sicherheitsgurt und klettert hinaus in den Regen.
Sie liegt wimmernd im Matsch.
"Bist du verletzt? Dietlinde! Sag was, verdammt noch mal!"
Er kniet sich neben sie, rüttelt hilflos an ihrer Schulter. Sie öffnet die Augen, kommt von ganz weit her, und als ihr Blick klar wird, zuckt Johannes zurück vor dem Hass, der ihm daraus entgegenschlägt.
Sie wird ihre Tabletten brauchen, denkt er und fühlt Panik in sich aufsteigen. Hoffentlich hat sie die nicht auch im Haus gelassen.
Sie richtet sich mühsam auf, stöhnt.
"Was ist, bist du verletzt?", fragt er noch einmal.
"Ich glaube nicht", flüstert sie. "Ein paar Prellungen. Mein Knie..." Wasser rinnt aus ihren Haaren, eine Gesichtshälfte ist schlammverschmiert. Sie schließt die Augen, öffnet sie wieder, schaut zu Boden.
Der Regen wird heftiger, von weitem hören sie Donner.
Er hilft ihr auf die Beine.
"Scheint okay zu sein!", sagt sie und klingt fast schon wieder wie immer. Freundlich, ein bisschen gleichgültig.
Johannes atmet unmerklich auf. "Hier, stütz dich auf mich. Kannst du gehen?"
Sie humpelt, aber sie kommt voran. Sie gehen ein Stück in der Rinne, bis sie zu einer Stelle kommen, wo sie ohne große Beschwerden auf den Weg klettern können. Als sie oben stehen, klappern ihm die Zähne. Sein Magen krampft, er hat Schmerzen, die er nur zu gut kennt.
Es donnert wieder, ein Blitz zuckt über den Himmel.
"Das Gewitter kommt näher, wir müssen ins Trockene", sagt Johannes. "Ins Auto können wir nicht mehr. Du musst es bis zur Höhle schaffen, Dietlinde."
Dietlinde nickt. Ich werde es schaffen, denkt sie und spürt eine neue Kraft, die von der alten Wut genährt wird. Ich gebe mich nicht auf.
Wenn sie sich später an diese Nacht erinnert, fehlt ihr der Weg zur Höhle. Sie weiß nicht mehr, wie lange sie gegangen sind, wie schmerzhaft jeder Schritt gewesen ist. Aber sie hat noch den eigenartigen Geruch in der Nase, der ihnen aus der Höhle entgegenschlägt, als sie sie endlich betreten.
Die Scheinwerfer leuchten etwa zwei Drittel des Innenraums aus. Das ist gut so, denn ein großer Teil dieser hinteren Höhle besteht aus gewaltigen Felsquadern, die beim Einsturz vor fünftausend Jahren aus einer Höhle zwei gemacht haben und nun kreuz und quer verstreut sind, als habe ein Riese mit ihnen gespielt. Die Zwischenräume bilden tiefe Spalten, über die man mit einem Sprung hinwegsetzen kann, die im Dunkeln jedoch gefährlich wären. Johannes zieht Dietlinde hinter sich her, sucht einen Platz, wo sie sich
setzen und anlehnen können. Aufgeschreckte Fledermäuse flattern an der Höhlendecke herum, der Moschus eines großen Tieres hängt in der Luft. Sie machen vor einer der Spalten Halt. Auf der anderen Seite ist der Felsen glatt, nicht mit Geröll bedeckt wie der, auf dem sie stehen.
"Nur noch ein großer Schritt", sagt er, "dann können wir uns ausruhen. Und wenn du möchtest, suche ich später nach deiner Sonnenbrille."
"Das weißt du noch?", fragt Dietlinde matt.
In diesem Moment geht das Licht aus. Sie stehen in vollkommener Dunkelheit.
"Was ist das?"
"Wieso schalten sie die Scheinwerfer ab?"
Stille ringsum. Von draußen hören sie den Regen, in der Ferne grollt das Gewitter.
"Vielleicht hat der Blitz eingeschlagen", meint Dietlinde. "Jetzt müssen wir warten, bis es Tag wird."
"Rühr dich bloß nicht von der Stelle!", sagt Johannes. "Denk an die Spalte vor uns."
Sie stehen wie erstarrt. Irgendwo unten plitscht es, fallen gleichmäßig Tropfen in stehendes Wasser. Wahrscheinlich der Höhlenteich, denkt Dietlinde und erinnert sich schaudernd daran, wie schwer ihr vorgestern der Abstieg über die Felsbrocken bis hinunter zum Höhlengrund gefallen ist, an ihre Angst, nicht wieder zurück zu können und sich vor allen lächerlich zu machen.
Dietlinde geht in die Hocke, tastet nach den Steinen und schiebt einige davon zur Seite. Sie berührt Johannes' Bein, zieht an seiner Hose.
"Was ist?"
"Wir können doch nicht die ganze Nacht stehen. Komm runter und hilf mir ein bisschen Platz zu schaffen."
Johannes geht vorsichtig in die Knie, nimmt einen faustgroßen Stein und schleudert ihn zur Seite. Es geschieht scheinbar nichts, dann hören sie den Stein weit unten aufschlagen.
"Hör doch auf damit, Johannes! Wir verlieren die Orientierung!"
Er will eine scharfe Antwort geben, beherrscht sich aber und schweigt.
Auch Dietlinde kniet inzwischen, räumt und schiebt so viele Steine zur Seite, dass sie sich schließlich setzen kann.
Sie schweigen nebeneinander her.
Johannes betastet seinen Bauch. Seit dem Unfall damals ist sein Magen der Seismograph seines Befindens. Monate lang hat er nichts essen können, hat er an seinen Schuldgefühlen gewürgt. Was half es, dass er den Unfall nicht verursacht hatte? Sein Therapeut mochte sich noch so sehr um ihn bemühen: Auch er konnte Daniel nicht wieder lebendig machen. Johannes hat gelernt mit seinem Magen zu leben und mit seiner Erinnerung. Er hat versucht mit Dietlinde auszukommen, trotz ihrer Schuldzuweisungen und trotz der Veränderung,
die mit ihr vorgegangen ist. Es hat vier Jahre gedauert, bis er schwach geworden ist und sich nach einer schönen Frau umgesehen hat, die er lieben könnte. Vielleicht, denkt er jetzt in die Schwärze, die ihn umgibt, während sich die Kälte in seinem Körper festsetzt, vielleicht hätte ich mit Dietlindes Figur auf Dauer leben können. Was ich nicht aushalte, ist der stille Vorwurf, den ich aus allem herauslese, was sie sagt. Dieser Panzer aus Freundlichkeit, den sie sich zugelegt hat und der nicht echt ist. Den verkrafte
ich nicht mehr.
Dietlinde hat die Arme um die Beine geschlungen und gibt sich den Schmerzen hin. Sie fühlt sich zerschunden, friert. Ihre Gedanken fahren Karussell, umkreisen diesen Augenblick ihrer tiefsten Verzweiflung, den sie bei dem Sturz aus dem Auto nach Jahren des Verdrängens wiedererlebt hat. Warum Daniel und nicht Johannes, fragt sie sich. Warum ein unschuldiges Kind, das sein ganzes Leben noch vor sich hatte? Wie habe ich nur weiterleben können mit dem Bewusstsein, dass es Daniel nicht mehr gibt? Und Johannes? Er
hat ihn getötet, sein eigenes Kind, und trotzdem lebt er weiter, lacht, hat eine Geliebte, fährt mit mir in Urlaub, als ob nichts wäre.
Was hat sie vorhin geschrien? Willst du mich auch noch umbringen, das war's. In ihren Augen werde ich immer Daniels Mörder sein. Daran ändern auch die Tabletten nichts.
Mörder, denkt Dietlinde. Jedes Mal, wenn ich ihn bewusst ansehe, fühle ich: Er ist ein Mörder. Besser, er wäre tot. Dann wäre ich befreit von diesem Albtraum.
Dieser Hass in ihren Augen. Sie hat mir nie verziehen. Johannes spürt, wie Kälte in sein Herz kriecht.
Hat ein Mörder überhaupt ein Recht auf sein Leben? Hat er es nicht längst verwirkt? Dietlinde presst die Lippen zusammen.
Ich muss dem ein Ende bereiten. Johannes greift nach einem Stein. Jetzt ist die Gelegenheit dazu. Ich muss mich von ihr befreien. Sonst gehe ich selbst noch drauf.
Es wäre eigentlich ganz einfach, denkt Dietlinde. Sie nimmt einen großen Stein in die Hand, wiegt ihn. Ich würde seinen Kopf treffen und seine Leiche in die Spalte schubsen. Vorher werfe ich den Stein runter. Johannes ist im Dunkeln abgestürzt. Kann doch passieren.
Jetzt werde ich der Mörder, für den sie mich hält. In der Dunkelheit ist sie in die Spalte gestürzt, werde ich sagen. Ganz einfach. Wer sollte das bezweifeln. Er steht vorsichtig auf, damit sie es nicht hört. Seine Hand krampft um den Stein.
"Was machst du, Johannes?"
"Ich stelle mich eine Weile hin. Kann nicht mehr knien." Mist, sie hat mich gehört.
"Ich komme auch rauf."
Es dauert eine Weile, bis Dietlinde steht. Ihr linkes Bein ist eingeschlafen. Aber sie hält den Stein sicher in ihrer Hand.
Ich muss abwarten, denkt er. Sie muss erst ruhig stehen, sonst könnte ich sie verfehlen.
Dietlinde steht jetzt fest auf beiden Füßen. Sie tastet nach vorn, ihre Fingerspitzen finden seinen Hals. "Ach, da bist du", sagt sie und lässt ihn wieder los.
Gut gemacht, Dietlinde, denkt er. Jetzt weiß ich, wo du bist. Er hebt die Hand mit dem Stein, holt aus.
Sie schwingt ihre Hand mit dem Stein kraftvoll nach hinten, hält einen Moment inne.
Da flammen die Scheinwerfer auf. Die Störung im Elektrizitätsnetz von Kilada ist behoben.
Zehn Jahre später kommt eine Festgesellschaft zusammen, um Dietlindes und Johannes Silberhochzeit zu feiern. Sie sind ein schönes Paar; Dietlinde betont ihre längst wieder attraktive Figur durch ein enges Kostüm, Johannes wirkt daneben ein wenig behäbig. Man beglückwünscht das Silberpaar, Freunde halten rührselige Reden und lassen es hochleben. Mancher Redner rühmt die Kraft der Liebe, die das Paar verbindet und die ihm über jenen Schicksalsschlag damals hinweggeholfen hat, und keiner spricht deutlich aus, dass
damit der tragische Tod ihres kleinen Sohnes Daniel gemeint ist. Noch haben alle vor Augen, wie viele Jahre es brauchte, bis sich vor allem Dietlinde von der Katastrophe erholt hat. Man hebt die Gläser, man trinkt, das Jubelpaar lächelt sich an. Und niemand an der langen Tafel ahnt, dass die Macht, die Johannes und Dietlinde für immer zusammenschweißt, nicht Liebe heißt, sondern Hass, und dass sie einander einst als Mörder gegenüber standen.
Eingereicht am 17. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.