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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Felicidad
© Sylvia Hess
Die Sterne leuchteten sehr hell in dieser Nacht, seiner ersten auf La Palma. Er wusste noch nicht, dass sie hier immer so strahlen, zumindest dann, wenn nicht gerade wandernde Passatwolken die Hänge hinaufsteigen und im Vorübertreiben Himmel und Meer in feuchten Nebel hüllen und unseren Blicken entziehen. Er wusste auch noch nicht, dass die Sterne über La Palma heller funkeln als anderswo, weil die Straßenlaternen überall auf der Insel schwache orangefarbene Leuchtpunkte setzen, damit sie den Himmelslichtern
keine Konkurrenz machen und die Astronomen der großen Sternwarte auf dem Roque de los Muchachos den Nachthimmel genauer beobachten können. Das alles war im Moment ohnehin unwichtig. Wichtig war: Er war hier, auf der Insel, die für Franz zur zweiten Heimat geworden war; er lag auf dem Rücken und sah in den Himmel und suchte Sternbilder, an die er noch schwache Erinnerungen aus Abbildungen im Schulatlas hatte.
"Kommst du, Holger?"
Franz stand plötzlich vor ihm und verdeckte mit seiner massigen Figur die Aussicht. Er klimperte auffordernd mit einem Schlüsselbund.
"Wohin?" fragte Holger, streckte die Arme über den Kopf und machte sich lang.
"Runter ins Dorf, muchacho, in Fernandos Kneipe. Oder willst du hier liegen bleiben und den Philosophen geben?"
Holger lachte, schüttelte den Kopf und ließ sich von der Liege ziehen.
Kurze Zeit später, nach einer halsbrecherischen Fahrt über die gewundene Küstenstraße, saßen sie auf der hölzernen Terrasse bei Fernando. Das Meer klatschte in regelmäßigen Wellen an den dunklen Strand. Gedämpfte Musik klang aus dem Lokal.
"Hola, Francesco. Que tal?"
Die dicke Amanda kam zum Tisch und legte die Speisekarten vor sie hin. "Muy bien", sagte Franz und stellte Holger vor. "Mein alter Schulfreund aus Deutschland. Endlich besucht er mich mal!"
Er nahm die Karten auf und gab sie Amanda zurück, ohne hineinzusehen.
"Wir suchen uns einen Fisch an der Theke aus. Bring uns Wein, Amanda. Wir haben uns lange nicht gesehen, da braucht es viel Wein."
Franz sah der Alten nach, wie sie sich mit wiegenden Schritten zum Eingang bewegte.
"Hier siehst du eine waschechte Nachfahrin der Guanchen!", flüsterte er.
"Der Ureinwohner? Ich dachte, die seien längst ausgestorben."
Franz schüttelte den Kopf. "Es gibt noch mehr von ihnen als man glaubt."
Sie warteten bis Amanda eine Flasche Rotwein und zwei Gläser vor ihnen abgestellt hatte, und gingen dann zusammen an die Theke. Hinter dem Schauglas lagen die unterschiedlichsten Fische auf Eis. Fernando, ein magerer Mann mit melancholischen Augen, kam aus der Küche und begrüßte Franz mit Handschlag. Sie wählten eine beeindruckend bunte Vieja aus, einen Papageienfisch.
"So mit allem drum und dran, wirst schon sehen", erklärte Franz lapidar die Bestellung, die er in schnellem Spanisch aufgegeben hatte.
Dann stießen sie an.
"Auf unser Wiedersehen", sagten sie fast gleichzeitig und mussten lachen.
Franz hielt dem Freund eine Schachtel Zigaretten hin, doch der wehrte ab: "Bekommt meiner Stimme nicht."
"Verstehe. Naturschutzzone. Die Stimme, das Kapital des Schauspielers." Franz steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Das Feuerzeug flammte auf und ließ seine kleinen Augen funkeln.
Amanda servierte bunten Salat mit exotischen Früchten.
"Na ja, Kapital, das wenig Ertrag bringt", sagte Holger. Er lud sich Salat auf den Teller und begann zu erzählen, sprach von seinen geplatzten Träumen. Statt großer Karriere auf den Bühnen der Welt drittklassige Komödien am Kleinstadttheater, seit über zwanzig Jahren im selben Ensemble. Er war zu einer Art Institution geworden, sah junge Talente kommen und an andere Bühnen weiterziehen und blieb.
"Immerhin ein festes Engagement", warf Franz ein und schenkte Wein nach. "Gesichertes Einkommen. Manche hat's schlimmer getroffen."
"Ich weiß nicht." Holger drehte sein Glas so in der Hand, dass der Wein Schlieren bildete. "Der kippt bald." Er schwenkte das Glas und nahm mit geblähten Nasenflügeln das Bukett auf. "Ist aber noch tadellos."
Franz ging auf das Ablenkungsmanöver ein. "Wie lange willst du bleiben?"
Holger sah hinauf zu den Sternen. Sie wirkten blasser von hier unten. "Eine Zeitlang. Ich habe keinen festen Plan."
Am Theater war Sommerpause. Die Proben für das neue Stück begannen erst in zwei Monaten. Er hatte die Hauptrolle im diesjährigen Weihnachtsmärchen übernommen. Für ihn war es eine Herausforderung.
Eva hatte ihn deswegen Versager genannt.
Da hatte er erstmals an Scheidung gedacht.
Amanda räumte die Salatplatte ab und trug gegrillten Tintenfisch auf.
"Erzähl von dir, Franz."
"Bei mir gibt es nicht viel Neues. Ich habe immer noch die Autovermietung am Flughafen. Zwei Angestellte; der Laden läuft problemlos, ohne Karre bist du hier aufgeschmissen. Ich habe genug Geld, ein paar Freunde und reichlich Freizeit. Was will man mehr?"
"Und Nathalie?"
Franz zerschnitt hingebungsvoll den Tintenfisch und führte ein Stückchen zum Mund, schloss die Augen und kaute genüsslich.
"Butterzart!" Er öffnete die Augen wieder und sah Holger an. "Nathalie kommt nicht zurück. Hat endgültig den Inselkoller gekriegt. Manche vertragen das Leben hier nicht, zu viel Wasser ringsum."
Sie schauten einander an, dann senkte Franz den Blick und murmelte: "Na ja, nicht zu ändern. Konnte sie nicht halten."
"Und du, wirst du bleiben?"
"Si, claro. Ich will nicht mehr zurück. Zu viele Fesseln in Deutschland. Zu viel Enge." Er tippte sich an die Stirn. "Hier oben meine ich, hier oben drin."
Holger nickte und nahm einen großen Schluck vom Roten. Die Enge, ja, die kannte er. Sie hatte ihn bedrängt und gelähmt, eingezwängt in eine Existenz, die er so nie gewollt und die er doch gelebt hatte, die Rolle des braven Bürgers, der er trotz seines künstlerischen Berufes geworden war, des Ehemanns und Vaters. Zwei Töchter hatte er mit Eva, Zwillinge, sie studierten in Berlin. Anfangs war es himmlisch gewesen, das Leben mit Eva, mit der eigenen kleinen Familie, für die er sich verantwortlich fühlte. So verantwortlich,
dass er kein Risiko mehr einging.
Seit ein paar Jahren machten sie sich das Leben zur Hölle, Eva und er.
Amanda brachte die knusprige Vieja und stellte rote und grüne Mojo zu den Schrumpelkartoffeln. Mit einer Handbewegung orderte Franz eine zweite Flasche Wein.
"Es hat sich übrigens noch jemand hier angesiedelt, den du kennst", sagte er.
"So, wer denn?" Vorsichtig schabte Holger die Haut von dem Fisch und löste ein Filet aus.
"Erinnerst du dich an Verena, die aus der Schule?"
Holger sah auf. "Verena Nowak?"
Er sah sie vor sich, schlaksig, in Jeans, die Augen dramatisch schwarz geschminkt, die blonde Mähne durch den typischen Mittelscheitel der Flowerpowergeneration geteilt. Sie war eine Klasse unter ihnen, alle waren damals in sie verknallt gewesen.
Franz verteilte scharfe rote Mojo auf seinem Fisch. "Sie heißt jetzt Evers."
Ein anderes Bild formte sich in Holgers Erinnerung. Verena als Dreißigjährige, elegant, mit Pagenkopf und dezentem Make-up.
"Hm, hat sie ihn also doch noch geheiratet!"
"Du kanntest Evers?"
"Ich hab sie mal mit ihm auf einer Party getroffen. Ist ewig her. War lange vor Evas Zeit."
Holger fuhr sich mit der Hand an die Schläfe, hinter der es pochte. Die andere, die verbotene Erinnerung verlangte Einlass.
"Verena kam damals mit den Tschernobylflüchtlingen her."
Holger schluckte. "Wieso denn, lebte sie ..."
Franz schüttelte energisch den Kopf. "Nicht was du denkst, nein. Ganz La Palma war zu der Zeit voll von Deutschen, die vor den Folgen der Katastrophe geflüchtet sind; möglichst weit weg hieß die Devise."
Er zerquetschte eine mehlige Kartoffel und vermengte den Brei mit grüner Mojo. "Es wurde ja wohl mit typisch deutscher Gründlichkeit Panik verbreitet."
"Na, weißt du, Franz, wir haben schließlich damals die volle Pulle abgekriegt, kam doch alles mit dem Ostwind rüber."
Franz machte eine wegwerfende Handbewegung. "Die Franzosen haben mindestens genauso viel abbekommen, und haben die so ein Drama daraus gemacht?"
"Ist ja auch vorbei, heute redet keiner mehr davon."
Franz nickte. "Genau. Erst haben alle von Verseuchung gesprochen, dann wurde das Thema ad acta gelegt. Die Leute sind nach Hause zurück geflogen, als wäre nach ein paar Monaten wieder alles sauber."
Sie schwiegen und aßen den Fisch, beide in Gedanken versunken. Amanda räumte geräuschvoll das Geschirr zusammen. "Algo mas?", fragte sie mit breitem Lächeln.
"Einen kleinen Nachtisch packen wir schon noch!", sagte Franz.
"Und wie war das mit Verena?, nahm Holger den Faden wieder auf.
Franz zündete eine weitere Zigarette an.
"Sie ist eine von denen, die geblieben sind. War gerade mit ihrem Mann am Ende, als sie kam. Sie hat ihren Sohn hier auf die Waldorfschule geschickt und eine Immobilienvermittlung gegründet. Spanisch konnte sie ja fließend, war wohl vorher Auslandskorrespondentin oder so was."
Holger hob das Glas. "Einen Sohn hat sie auch?"
Franz prostete ihm zu und trank.
"Felice, ein guter Junge. Hat nach der Schule versucht in Deutschland zu leben. Kam aber bald wieder zurück. Jetzt arbeitet er mit seiner Mutter zusammen."
Er fixierte Holger, der seine Schläfen massierte.
"Was ist, verträgst du den Wein nicht? Er ist stark."
"Nein, nein, das ist es nicht." Holgers Blick verfolgte das Schwappen des Weins, als er das Glas erneut hin und her schwenkte.
Am Strand flackerte ein Feuer auf. Eine Gruppe Jugendlicher hatte sich zusammengefunden, Technorhythmen aus einem Ghettobluster übertönten die sanften Klänge der Barmusik in Fernandos Kneipe.
"Wie alt ist er denn, Verenas Sohn?"
"So Mitte Zwanzig", sagte Franz und "muchas gracias, Amanda". Die Alte setzte eine kleine Schale mit dickflüssigem Inhalt zwischen ihnen ab.
"Bien me sabe", flüsterte sie mit verschwörerischem Blick.
"Sag Gutes über mich oder auch: Tu mir Gutes", übersetzte Franz.
Doch das war gar nicht nötig. Auf Holgers innerer Leinwand spulte bei den Worten der Guanchin der verbotene Erinnerungsfilm ab. Verena als strahlender Mittelpunkt der Party. Sein Auftritt als Rezitator. Hesse, Fried. Liebesgedichte. Der gönnerhafte Evers, der Verena aufforderte, ihn zur Belohnung zu küssen. Seine plötzliche Gier nach ihrem Körper. Ihr Blick, als sie seine Erregung spürte. Ihr Mund an seinem Ohr. Bien me sabe, die hineingehauchten, verdrängten aber nie vergessenen Worte, die sich wie heiße Feuerzungen
durch seine Ohrschnecke fraßen. Das heimliche Treffen in einem entlegenen Zimmer der alten Villa. Ihr Körper, ihr Stöhnen. Ihr Duft. Die gemeinsame Flucht aus Evers' Haus, in dem die Party ihren Fortgang nahm, das Wochenende in diesem Hotel am See. Und die abgrundtiefe Zärtlichkeit in ihrem Blick, als sie beim Abschied sagte: Felicidad. Das genau war es, Holger, ein Teilchen vom vollkommenen Glück, nicht wahr?
"Wie findest du es?", fragte Franz und leckte den Löffel ab.
"Süß." Er sog den Duft der Nachspeise ein. "Neu. Und trotzdem irgendwie vertraut."
Franz nickte zufrieden. "Das ist der Honig, der macht den Wiedererkennungseffekt."
Holger hatte Verena nie wiedergesehen. Sie hatten sich nichts versprochen, und er hatte nicht gewagt, sie anzurufen und sich eine Abfuhr zu holen.
Ein paar Monate nach der Party lernte er Eva kennen. Sie sah den kommenden Stern am Theaterhimmel in ihm und schmeichelte damit seinem Ego. Bald danach unterschrieb er den Vertrag am Stadttheater. Dann wurde Eva schwanger.
Die Episode mit Verena hatte er in die hinterste Kammer seines Gedächtnisses gepackt, und nicht einmal in den düstersten Stunden seiner Ehe war sie zum Vorschein gekommen. Nur manchmal war da dieses Pochen in seinen Schläfen gewesen.
Fernando brachte die Rechnung.
"Gefällt Ihnen La Palma?", fragte er.
Holger hob die Schultern. "Ich bin gerade erst angekommen." Er lächelte. "Aber es scheint eine spannende Reise zu werden."
Franz legte einen Geldschein auf den Tisch und zwinkerte Amanda zu, die am Nachbartisch saß und Servietten faltete.
"Willst du nicht auch mal verreisen, Amanda?", fragte er.
Sie legte ein Serviettendreieck auf den Stapel vor sich. "No se necesita ir al extranjero!"
"Was sagt sie Franz?"
"Man braucht nicht ins Ausland zu gehen", übersetzte Franz, während Amanda weitersprach. "Ihr Touristen reist durch die ganze Welt, doch letzten Endes kommt ihr immer bei euch selbst an."
Fernando grinste und steckte den Schein in seine Geldtasche. "Así es. Gracias, Francesco. Adiós."
"Ich möchte sie gern mal treffen", sagte Holger auf der Heimfahrt, "Verena, meine ich." Der Fahrtwind im offenen Cabrio vertrieb die Trunkenheit, die sie beim Aufbruch aus der Kneipe deutlich gespürt hatten.
"Würde schon gern wissen, wie sie heute so ist."
Er lehnte sich zurück und fixierte den Himmel. Die Sterne zogen Leuchtspuren durch das All. Wer weiß, dachte er, vielleicht liegt da ja noch eine Chance, mit der ich nie gerechnet hätte. Ein Stückchen vom vollkommenen Glück. Er lächelte in die Dunkelheit.
Franz konzentrierte sich auf die Straße. Die Scheinwerfer erfassten die Trockenmauern und Opuntiengärten, die sie säumten. Er schwieg. Auch in seinem Innern lief ein Film ab. Verena, wie sie damals bei ihm und Nathalie aufgetaucht war, das Kind an der Hand, das seinem besten Freund aus dem Gesicht geschnitten war. Sie bestätigte seine vorsichtigen Vermutungen nie, stritt sie aber auch nicht ab. Seine erfolglosen Bemühungen, Holger nur ein einziges Mal zu einem Besuch zu veranlassen. Seine Skrupel, wenn er an
Eva und die Zwillinge dachte. Das Versprechen, das Verena ihm abtrotzte, nichts von ihr zu erzählen. Ihre Zähigkeit, mit der sie das Geschäft aufbaute, um die Schule für Felice zu bezahlen, und ihr rascher Verfall, als der Junge nach Deutschland abgeflogen war, um dort zu leben. Partys, Alkohol. Die Welt derer, die mit dem ewigen Frühling nicht zurecht kamen. Als Felice zurückkehrte, hatte sie sich praktisch aufgegeben.
"Was für eine Nacht!" rief Holger enthusiastisch, als er beim Aussteigen die Milchstraße erkannte.
"Ja", sagte Franz. "Was für eine Nacht."
Eingereicht am 17. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.