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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Boxhandschuhe

© Michaela Seul

Hätte sie ein Messer gehabt. Wäre das Messer am Boden gelegen. Zufällig neben der Toilettentür am Boden gelegen. Ein Stück Teppich könnte sich gelöst haben und er hätte die unansehnlichen Fransen, in denen man sich barfüßig verheddert, abtrennen wollen. Da die Schere unauffindbar gewesen wäre, hätte er ein Messer aus der Küche geholt. Das erstbeste, riesige Fleischermesser, das immer neben der Spüle liegt, dieses scharfe, spitze, das sie beim Abwaschen nur zögerlich in die Hand nimmt, das ihr schon oft ein komisches Gefühl gemacht hat. Beim Abschneiden der Fransen hätte das Telefon geklingelt und er hätte das Messer vergessen, neben der Toilettentür vergessen, bis.
Sie danach gegriffen hätte ohne es zu merken, die Hände am Teppich und plötzlich die Passform des Griffs, wie gemacht für ihre Finger, nicht gewusst, was sie in der Hand, nur irgendetwas um sich zu befreien aus der Bedrängnis; kein Spaß, auf dem Rücken neben der Toilettentür liegend, hatte er sie verfolgt, überwältigt und nicht gemerkt, es war kein Spiel mehr. Sie hätte sich nur gewehrt. In seine Brust gewehrt.
Danach wäre sie erstarrt wie die Frauen in den Filmen, sie hat nie einen solchen Film gesehen, aber sie hat in der Zeitung gelesen von Männern und Frauen, die dann stehen mit Messern in den Händen und von der Klinge tropft Blut, viel zu laut das dumpfe Seufzen der Klappmessermenschen, vielleicht ein Aufprall, ein Schrei und das Messer fallen lassen, zurückweichen und nicht verstehen, sich umdrehen, da muss doch jemand, muss ein Dritter sein, aber das Messer in der eigenen Hand zurück, als drehten die Schritte die Zeit zurück, das tun sie aber nicht; vielleicht ein Schrei und das Messer fallen lassen oder nicht fallen lassen, nicht schreien, mit dem Messer zum Telefon, der Ruf der Not, nicht wissen, was zu sagen ist, nur: Kommen Sie!
Sie hat kein Messer gehabt. Nur ihre Fäuste. Ihre Zähne. Ihre Fingernägel. Das genügte. Er blutet. Sogar im Gesicht. Sie hat noch nie einen Menschen geschlagen. Schon gar nicht ins Gesicht. Noch nie hat ein Mensch so geblutet in ihrer Gegenwart.
Heftig atmend steht er vor ihr. Mit einem Schrei, so hat sie ihn noch nie gehört, hat er sie weggeschubst und ist auf die Füße gesprungen.
Jetzt steht er da und schaut sie an, wilder Blick. Den würde ich gerne fotografieren, denkt sie. Blut. Viel Blut. Das hat sie nicht gewollt, niemals hat sie das gewollt. Die Spielregel: Nicht ins Gesicht und nicht zwischen die Beine. Immer war sie voll zaghafter Vorsicht im Spiel auf dem Rücken unterlegen und wenn sie hör auf rief, hatte er aufgehört.
Er steht bewegungslos. Wischt nur das Blut weg, das ihm von der Augenbraue übers Gesicht tropft. Mit einer achtlosen Geste. Heldengeste, denkt sie. Er schaut sie an, unentwegt. Es ist der Blick der Leidenschaft, doch diesmal ist er nicht geil, weiß sie, sondern wütend.
Sie hat nicht gewusst, dass er so wütend sein kann. Wie ein Tier sieht er aus, wildes Tier.
Er wendet ihr den Rücken zu. "Ich ...", sagt sie und weiß wieder, wen sie meint.
"Beinahe hätte ich zugeschlagen", sagt er.
"Warum hast du nicht?", fragt sie.
Er dreht sich um. Wieder dieser Blick. Sie hält ihn nicht aus. Schaut zu Boden. Da liegt nichts. Sie will ihm von dem Messer erzählen und dass sie jetzt weiß, wie so etwas passiert. Er geht ins Badezimmer, klatscht sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie folgt ihm. Er hört nicht auf zu bluten.
"Das wollte ich nicht", sagt sie.
"Beinahe hätte ich dich geschlagen", sagt er und es klingt, als spräche er zu sich. In seiner Stimme hört sie eine tiefe Fassungslosigkeit.
"Hast du es denn nicht gemerkt", fragt er, "beinahe hätte ich ..." Sie hört die Erschütterung in seiner Stimme.
"Du hast völlig die Kontrolle verloren", sagt er. Das hat er schon einige Male gesagt, wenn sie sich geliebt haben. Sie hat gelacht. Nein, hab ich nicht. Doch, hast du. Das ganze Haus muss es gehört haben. Sie konnte sich nie erinnern, aber da waren die Spuren ihrer Schreie auf seinem Rücken.
"Mir geht es jetzt viel besser", sagt sie.
"Schön für dich", sagt er und stützt sich auf das Waschbecken. Sie streichelt seinen Rücken. Er schüttelt ihre Hand ab.
Sie will das befreite Gefühl nicht verlieren, nicht in die Bedrückung der letzten Tage zurückfallen. Stundenlange Gespräche, die sich im Kreis drehen: Ich wollte es nicht. Sie ist mir nachgelaufen. Ich war betrunken. Es hat nichts mit uns zu tun. Es war ein Versehen. Ein Unfall.
Sie sucht Worte, findet sie, zögert, sagt bedächtig: "Es war wie ein richtig guter Fick." Er reißt das Handtuch so heftig vom Haken, dass der Handtuchhalter von der Wand fällt.
"Wenn du dich nicht so aufopfernd beherrscht hättest", ruft sie, "würde es dir auch besser gehen!"
"Du meinst, ich hätte einen richtig guten Fick gehabt?", fragt er.
Sie nickt.
Mit dem Handtuch tupft er sein Gesicht ab. Stöhnt.
"Hey, Scheiße", sagt sie, "es tut mir Leid", und streichelt seine Hand.
Diesmal entzieht er sich ihr nicht. Jetzt hat sie auch Blut an der Hand.
Blutsbrüderschaft, Blutsschwesternschaft, Blutsgeschwister, denkt sie.
"Weißt du was", sagt er und sie hört ein kleines Lächeln in seiner Stimme, "zu Weihnachten schenke ich uns Boxhandschuhe."
"Du hast nichts kapiert", sagt sie.
"Was meinst du damit?", fragt er. Das Lächeln ist fort.
Eine freche Antwort sprudelt in ihr, sie zögert, das ist nicht die rechte Zeit für Scherze, aber warum soll sie ihn schonen, denkt sie, so betrunken kann man nicht sein, dass man vergisst, mit wem man ins Bett, sagt es: "Fickst du gern mit Pariser?" Er schüttelt seine Hand frei. Wirft das Handtuch in die Badewanne. "Ich habe das ganze Gesicht voll Blut, du schlägst mir die Augenbraue auf, wahrscheinlich hast du auch einen Zahn erwischt und jetzt geht's dir gut und ich hab nichts kapiert!"
"Es war keine Absicht", sagt sie.
"Nein, natürlich nicht. Überhaupt keine Absicht!", ruft er. "Ein Spontanfick. Ja, das war's. Schön für dich, geradezu beneidenswert. Bist du gekommen?" Sie flüchtet in die Küche, zündet eine Zigarette an.
Er steht in der Tür. "Du bist schon bei der Zigarette danach", stellt er fest.
"Ich mach dir einen Eisbeutel", sagt sie.
"Ich will keinen Eisbeutel", sagt er. "Ich will einen richtig guten Fick." Sie öffnet die Gefrierschranktür, greift nach dem Behältnis mit den Eiswürfeln.
Plötzlich ist er neben ihr, drischt die Gefrierschranktür zu, ihre Hand, es ist knapp, alles geht so schnell, gerade noch schafft sie es, die Hand zu retten. Er reißt ihr die Zigarette aus dem Mund, wirft sie auf den Boden - das kann er später wegputzen, denkt sie - schubst sie an die Wand, biegt ihre Arme auf den Rücken. Das Behältnis, sie hat es vergessen, fällt zu Boden, einige Eiswürfel springen splitternd über das Parkett.
"Lass mich!", schreit sie.
"Warum?", fragt er höhnisch.
"Weil ich es will, weil ich es will!"
"Ich dachte, du weißt nur, was du nicht willst. Boxhandschuhe zum Beispiel. Sonst noch was?" "Lass mich sofort los!" Er lässt sie wirklich los. Aber nur, um sich übers Gesicht zu wischen.
Der Riss in der Augenbraue blutet noch immer.
"Ich gehe", sagt sie.
Er verstellt ihr die Tür.
"Lass mich raus", sagt sie.
Er steht nur da. In der Tür.
"Spinnst du oder was!", schreit sie.
"Nein", sagt er ruhig, gefährlich ruhig. "Ich will einen richtig guten Fick." Langsam kommt er auf sie zu. Sie weicht zurück. Seine Augen. So hat er sie noch nie angesehen. Ihr Blick wandert von dem blutigen Abdruck seiner Hand auf der Gefrierschranktür zu den Eiswürfeln, der Zigarette auf dem Küchenboden. Das gibt's nicht, denkt sie, er ist doch mein Freund. Aber sein Gesicht, das kennt sie nicht.
Sie hat kaum Zeit, sich zu wehren, da hat er sie schon an die Spüle gedrängt, biegt ihren Oberkörper nach hinten. Wild schlägt sie um sich, aber sie kriegt ihn nicht zu fassen. Er dreht ihre Arme auf den Rücken.
Auf einmal ist seine Hand zwischen ihren Beinen, zerrt, reißt an ihrem Rock.
Ihr Rücken bricht gleich. Ihre Schultern, die Arme. Er tut ihr weh.
"Hör auf, hör auf!"
Er lässt ihren Arm los. Sie fasst hinter sich, ihren Rücken zu stützen.
Da ist schon wieder seine Hand zwischen ihren Beinen.
Plötzlich die Passform des Griffs, wie gemacht für ihre Finger, egal was, nur irgendetwas ...


Eingereicht am 17. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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