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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Begegnungen

© Benedikt C. Ahlfeld

Ich bin ein Inselmensch, allein unter einer Palme in der Sonne. Jeder führt sein Inselleben, ganz für sich selbst und ohne andre wahrlich zu erkunden.
Natürlich könnten wir uns einfach wie Einsiedlerkrebse in unserer Schale verkriechen und warten, bis alles vorbei ist. Aber obwohl wir oft bereuen, was wir auf unseren ausgedehnten Reisen entdecken, so finden wir doch irgendwie Gefallen daran. Zumindest im Nachhinein.
Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, deshalb beginne ich da, wo alles aufgehört hat.
" "
Ja; nein - die Stille ist nicht umsonst da. In Wahrheit ist es nämlich noch gar nicht vorbei. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es überhaupt richtig angefangen hat. Vielleicht lag es an dem salzigen Geruch des Meerwassers.
Vielleicht lag es an den dicken, dunkelgrünen Vorhängen in meinem Zimmer und dem Licht, das so verraucht wirkte. Vielleicht, aber nur vielleicht, bin aber auch einfach nur ich schuld. Schuld daran, dass sie plötzlich nichts mehr von mir wissen wollte, obwohl alles so gut angefangen hat, damals, an dem kalten Novemberabend in Sylt.
Ich war in meiner Kindheit oft mit meinen Großeltern hergekommen und besuchte es nun nach so langer Zeit wieder; auf eigene Faust. Den Duft der Krabben in der Hafenbucht hatte ich nie völlig vergessen, es war stets, als ob mich etwas hier gerufen, etwas nach mir verlangt hätte. Das kalte Meer konnte meine Stimmung nicht trüben, ich schwelgte in Erinnerungen und watete an dem nach der Ebbe noch nassen Strand entlang. Ein heller Schrei riss mich aus meinen Gedanken und ließ mich abrupt stehen bleiben - zu meinem Nachteil auf dem Fuß eines jungen Mädchens, sie musste um die zwanzig Jahre alt sein, vielleicht ein oder zwei Jahre älter. Mit einem Lächeln überspielte sie die gerade eben noch aufwallende Wut und forderte eine Entschädigung ein.
Salon 1900. Heißer Café, raues Wetter, warme Stimmung. Das war es - der Anfang. Gleichzeitig war es auch mein Ende, ich wusste natürlich noch nicht weshalb, aber wie so oft im Leben holt einen die Wahrheit früher oder später doch ein, egal wie schnell du läufst.
Ich beende es
wie denn nun? Mit einem letzten Gruß, einem letzten Blick? Einer letzten Begegnung, wenn auch nur im Geiste? Ich sehe mich nicht im Stande, ihr zu widerstehen, sie zerrt mich in ihre Wohnung, es ist warm; aber dunkel. Das Bettlaken kratzt zärtlich auf der Unterseite meiner Handfläche, sie scheint es nicht zu stören; sie war es gewohnt. War ich der erste? Ich wollte es nicht sein - und dann irgendwie doch; und dann plötzlich gar nicht mehr. Sie sieht mich an, fragt was los sei, ich kann ihr nicht antworten, mit einem letzten Blick, mit einem letzten Schritt zurück. Die Tür fällt leise ins Schloss, obwohl ich den Eindruck hatte, sie offen stehen gelassen zu haben; und ich laufe.
Das Telefon klingelt, ich will nicht abheben. Die dunkelgrünen Vorhänge vor dem Fenster lassen eine trübe Stimmung aufkommen, ich will sie nicht beiseite ziehen und mich dem Sonnenlicht aussetzen. Das Läuten will nicht aufhören, sie ist es. Ich hätte nicht gedacht, meine Nummer dagelassen zu haben. Hast du nicht - Sylt ist klein.
Das Wiedersehen war kein wieder, vielmehr ein erneut. Der feine Unterschied ist mir bis dahin selbst nicht klar gewesen, doch sie erneut zu sehen rief in mir Gefühle hervor, die ich nicht erwartet hatte. Hätte ich sie doch nur wieder sehen können … Kein Wort über letzte Nacht, es scheint nicht geschehen zu sein, womöglich nur ein Traum. Nach dem Café muss Schluss gewesen sein; rede ich mir ein.
Habe ich das nötig? Unwahrscheinlich, aber möglich. Rettest du mich? Ja.
Keine Hoffnung, diesmal. Keine stillen Bedenken, kein Kommen und Gehen, einfach ein Schritt vor.
Eine Begegnung aus Erinnerungen, gemischt mit Jetzt und Gestern und ein bisschen Morgen. Ein Abschied nach dem Abschied um einen neuen Abschied zu starten. Ich halte dich fest, so, wie ich will, damit du nicht davon gleiten kannst; auch wenn du es möchtest. Du hältst mich ja auch gefangen, es ist nur Recht so. Und weil wir uns doch verstehen, kann ich damit leben. Eine Weile zwar; aber nicht besonders lange.
Eine rote Rose, fast verwelkt. Im Sand vor uns. Du sitzt neben mir, deine linke Hand um meine Hüfte, sollte es nicht anders herum sein? Ich heb sie auf für dich und starr sie an, obwohl du meinst, ich soll sie lassen.
Vielleicht hat sie Recht, ein Schimmer Schönheit in der Einöde der Welt; ein Schimmer Gefühl.
Gefühlvoll spüre ich sie neben mir, immer. Und dann wieder nicht. Wo warst du? frage ich. Aber die Antwort schuldet sie mir heute noch.
Ein Kommen und ein Gehen, immer eine andere Person, und doch dieselbe. Wo warst du? Frage ich. Aber mein Gefühl sagt mir, sie kommt nicht wieder.
So schreiten wir gemeinsam den Strand hinab und dabei aufeinander zu und keiner fühlt sich wohl dabei; und die See bleibt kalt und die Luft salzig.
Die Ebbe zeigt uns neue Wege, die wir vorher nicht erkennen konnten; nicht erkennen wollten. Aber wagen wir uns auch nur zwei Schritte näher an den Horizont, ertrinken wir schon bald in stiller Flut. Das Tosen, das dabei zu hören ist, kommt nur aus unsrem Kopf, in Wahrheit vergeht das Leben leise.
Wir selbst vergehen ja auch nur zaghaft, so Woche für Woche, bis irgendwann nichts mehr von uns übrig ist, und das schon bevor wir überhaupt das Licht der Welt erblicken, bereits im Mutterleib. So ist die erste Begegnung mit dem Leben praktisch eine erste Begegnung mit dem Tod und die Brutstätte der lebensspendenden Frau nur ein Mordwerkzeug einer grausamen Welt, die uns viel zu wichtig scheint, als dass wir sie mit Geduld genießen könnten.
Und dann war sie eines Tages fort und ich blieb da, wo ich begonnen hatte, um wieder zu beginnen und erneut zu treffen, was ich bereits kannte. Es war ein andrer Mensch an einem andren Ort auf einer andren Insel und im Grunde änderte sich nichts; außer für mich. Und was nach Jahren der Verschwendung übrig blieb, war Schmerz.
Der ist mir jedoch schnell zur Gewohnheit geworden, denn eine wirkliche Plage ist er nicht. Sie hat das verstanden und so akzeptiert, bis ich es selbst ändern wollte und von ihrer Seite wich. Nicht weit weg, nur ein paar Zentimeter fort, aber schon zu viel für eine Zukunft. Ein neuer Weg auf einer neuen Bahn mit Begegnungen die mein Leben ändern werden - weite drei Zentimeter weg entfernt.
Ich schritt täglich auf den Pfaden und Wegen hin und her, zwischen Strand und Appartement, zwischen Zukunft und Vergangenheit. Manchmal nahm ich den direkten Weg entlang der Straße, oftmals aber genoss ich den Umweg durch ein nahe gelegenes Wäldchen. Der weiche Erdboden war durchbrochen von dicken Wurzeln alter Bäume, die kleine und größere Dellen entstehen ließen, über die ich weichen Ganges hinweg schritt. Auf meinen ausgedehnten Spaziergängen ließ ich meinen Gedanken freien Lauf und beobachtete sowohl die Natur als auch die Menschen, die mir begegneten.
Es war ein Wechsel der Zeiten während einem einzigen Spaziergang.
Erinnerungen überschnitten sich mit Hoffnungen und negierten sich gegenseitig, nur um zu bezeugen, dass ich in der Gegenwart feststecken geblieben war. Oftmals kamen mir Leute, meist Frauen, entgegen, die ich ansprach und mit denen ich einen Teil meines Weges zu teilen wusste. Die Themen dieser Gespräche bei meinen Wegabsolvierungen reichten von den Fragen nach dem Gemüt des anderen bis zu ernsthaften Bedenken über das eigene Leben, das einmal mein Begleiter, einmal ich aussprachen und uns so in der Entwicklung der Unterhaltung immer weiter abwechselten, bis ich mein Ziel erreicht hatte und der Strand vor mir lag.
Nicht wenige dieser Spazierbekanntschaften lernte ich auch näher kennen, manche verließen mich an Ort und Stelle, andere blieben länger. So führte ich ein Einsiedlerleben im Sog der Begegnungen und liebte alle Menschen, die mir auf meinem Weg begegneten. Ich liebte sie alle und sie liebten mich, bis es vorbei war und ich weiterziehen musste. Und desto weiter ich kam, desto mehr ich kennen und lieben lernte, desto ähnlicher wurden sie, verschwammen zu einer Masse aus Einheitsbrei und Gebräuchlichkeit.
Hie und da ragte eine Person heraus, sich durch besondere Charakterzüge von der Masse unterscheidend, und so wusste sie oft schneller als ich, was den Menschen bewegte, der ihr gegenübersaß. So gefiel ihnen mein Leben oder nicht - und sie ließen mich oder sie spielten mit mir, wie ich mit ihnen, bis das Spiel vorüber und nichts gewonnen war.
Ich wusste bald nicht mehr, ob ich den Menschen, der da vor mir saß und sich so leidenschaftlich mit mir unterhielt eine alte Freund- oder neue Bekanntschaft war. Ich führte nicht Buch über die Menschen meines Lebens, dafür war mein Weg zu kurz und die Zeit zu knapp, aber ich nahm mir vor, es zu tun, wenn ich am Ziel angekommen wäre - oder kurz davor.
So traf ich auch Frauen, die treu sein wollten. Aber ich wusste, was ich zu sagen, was zu tun hätte, und bald hatten sie ihre Treue vergessen und ich sie ausgesaugt. Und ihr Leben mit ihnen; gleich wie ihre Mitmenschen und noch bevor sie wussten, wie ich hieß, war ich fort; ohne Reue.
Eines Nachts wachte ich auf und ich überlegte lange, was es war, dass mich umherziehen lasen hatte; all die Menschen hatte treffen lassen; das Ganze Verlieben und Entlieben, das ich im Grunde gar nicht verstand. Und ich fragte mich, als ich in dieser Nacht im Bett lag, was dieser Schmerz in mir war. War es Liebe? Dieses Gefühl, das ich noch nie gekannt hatte, von dem ich nicht wusste, was es war; wie es sich anfühlte, von dem ich nur wusste, dass es existierte. Oder war es etwa, die Negation des Gefühls?
Dann wusste ich, was es war. Dass es weder das Gefühl, noch die Negation des Gefühls war; es war das Ausbleiben des Gefühls, das völlige Nichtsein des Gefühls, das den Schmerz in mir verursacht hatte.
Obwohl ich so ruhig war, nach außen und nach innen hin, ergriff mich Panik.
Und die Verzweiflung, und ich erkannte, ich müsse mich verlieben, müsse wissen, was es ist. Alle verlieben und entlieben sich, aber ich tat es nicht, ich wusste nicht warum, ich wusste nur, dass es an der Zeit war, es endlich herauszufinden.
Ich fragte mich, wieso ich mit all jenen Begegnungen Freundschaft geschlossen hatte; wie grotesk; hatte ich ihnen doch das Herz herausgerissen und sie und ihr Leben missbraucht und ausgesaugt, bis nichts mehr da war.
Und sie alle nahmen meine ausgestreckte Hand und wurden zu Freunden, gar zu wahren Freunden. Wieso?
Und dann traf ich sie wieder, die eine, die ich verschmäht hatte; die ich ganz zu Beginn haben hätte können und nicht genommen habe. Die Einzige, die ich nicht missbraucht hatte. Und sie bietet mir ihre Hand in Freundschaft und ich weiß nicht wieso; ich nahm an. Als ich sie sah, sagte ich Weißt du, wieso ich dich damals nicht wollte?
Und meine Antwort war Weil ich blind war. Und weil ich dumm war.
Sie berührte leicht meine Hand, sah mir in die Augen; und da war es. Da war das Gefühl. Und ich ließ ihre Hand nicht mehr los.
Bis sie sprach, sie müsse treu sein. Und ich alles spürte. Liebe, Negation der Liebe, Ausbleiben der Liebe, war im Grunde alles ein und das Gleiche Gefühl - denn jedes einzelne verursachte Schmerz in mir. Und so wurde mir klar, dass diesmal der Schmerz nicht mehr vom Gefühl abhängig war, sondern von ihr.
Am nächsten Morgen jedoch wachte ich auf und wusste, dass es soweit war, dass der Zeitpunkt nun da wäre. Ich strich die Bettdecke beiseite, ich wusste nicht, in welcher Stadt ich war, rutschte an die Bettkante, riss ein Blatt Papier aus dem Block auf dem Tisch vor mir und begann zu schreiben.
"Ich bin
ein Einsiedlerkrebs.
ein Inselmensch.
ein Besucher ohne Aufenthaltsbeschränkung.
ein Urlauber ohne Pass.
ein Menschenbeobachter und -auskoster.
ein Wandler auf der Erde, frei.
Ich bin."
Und weil ich das jetzt niederschreibe auf meiner Insel die von der Flut überwältigt wurde und letzten Endes doch der Ebbe nachgegeben hat, bin ich nun ein Inselschreiber; oder treibt mich mein Begegnungswahn zwar stets zu neuen Ufern, doch somit immer weiter fort von dem mir nun bekannten? Es scheint eine Existenz am Rande der Vernunft zu sein, eine nach Wissen und Erfahrung gierende Welle, die ihren Antrieb nie verliert und dich mit tosender Stille hinein in deinen Untergang reißt.


Eingereicht am 16. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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