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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Die Prüfung
© Tobias Wimbauer
Als er zu Tische saß, durchfuhr es ihn mit einem Male. Er ahnte, dass dies sein letzter Tag sein werde. Er ging zu seinem Schreibtisch und entnahm der Schublade das Tagebuch, in das er zunächst sorgfältig, dann aber mit immer hastigeren schnellen Feder-Strichen jene Dinge notierte, die er 'noch gesagt haben wollte'. Seine Aufzeichnungen verschloss er nicht wieder, wie es an gewöhnlichen Tagen für ihn üblich war, sondern ließ sie auf dem Schreibtisch liegen. Man solle sie ja auch finden, dachte er dabei. Wie es
enden würde, wusste er nicht, nur dass es vorbei gehe, das war gewiss.
Er legte den Mantel um und durchstreifte die Gassen, bis er am Fuße des Berges angelangt war. Die Ideen schossen ihm durch den Kopf, werde man ihn auf der Höhe erschlagen, erdrosseln, erstechen? Oder er würde einfach nur tot umfallen. Schmerzlos, den Aufprall bereits nicht mehr spürend? Er werde sich überraschen lassen müssen.
Nun hatte er die letzte Laterne passiert, dunkel war es um ihn herum, die Wege jedoch waren ihm von vielen Gängen der vergangenen Jahre vertraut.
Schneller und rascher ging er nun vorwärts. Den Schirm klappte er zusammen, damit er ihm nicht hinderlich sei. Nun war ihm auch der Regen gleichgültig geworden.
Während er den Berg heraufstieg, spürte er sein Herz Schlag um Schlag schneller pochen, ja, er hörte es, wie das Klopfen an einer Türe, die in das Ungewisse führt. War dort ein Schatten, hörte er nicht plötzlich ein leises Hüsteln hinter der hohen Tanne, deren Umrisse er kaum wahr zu nehmen vermochte? Er blickte schnell um sich, Fuß vor Fuß setzend.
Auf halber Höhe warf er einen Blick auf die Stadt hinunter: Das Tor war erleuchtet, die bunten Scheiben der Kirche wurden von innen beschienen. Nichts aber regte sich. Nur der Wind blies die Gassen entlang, unerbittlich.
Er spürte, dass er den Weg nicht fortsetzen durfte, wollte er weiterleben.
Nein, ich bin noch nicht bereit, murmelte er in den Wind, noch nicht bereit, nein ... nein!
Kurz verweilte er auf der halben Höhe, warf einen Blick in Richtung Gipfel und wandte sich um. Nun ging er nicht mehr hastigen Schrittes, wie er es für den Aufstieg für nötig befunden hatte, sondern behutsam und langsam, sich alle paar Schritte umwendend. Jetzt, jetzt, müsse er doch fallen, der Schuss. Er breitete die Arme aus und schloss, stehen bleibend, die Augen. So, jetzt kannst du, es ist deine letzte Chance heute, verpasst du sie jetzt, wird es lange, lange dauern, bis ich sie dir wieder gebe.
Der Knall blieb aus. Ein nächtlicher Spaziergänger kam ihm entgegen. Ob er wohl dein Mörder ist, fragte er sich, nein, du hast nicht das Gesicht dazu, schob er nach - es klang jedoch nicht erleichtert - als er ihn passiert hatte.
Auch ging er nicht über die Brücke zum Tor, sondern überquerte die Straße, immer noch erwartend, dass er sein Heim nicht mehr erreichen würde.
Zuhause angelangt, legte er sich schlafen.
Verwundert über sein Erwachen, stand er am darauffolgenden Tage auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
Eingereicht am 16. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
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