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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ausgebremst

© Sven Huff

Robinson hatte seine Insel ­ wir den gelben VW-Passat von Max: Nacht für Nacht tauchten Reinhart ("nicht mit 'dt' nur hart" wie er manchmal sagte), Max und ich über die Straßen, durch das bodenlose Lichtermeer der Stadt.
Dabei hatte ich nur ein Ziel: Möglichst lange fernzubleiben, von einem Zimmer, in dem eine alte Matratze zerwühlt und fleckig vor dem flackernden Fernseher lag und einem Waschbecken, auf dessen vergilbter Keramik eine einsame Zahnbürste gestrandet war. Mein Leben war so trostlos, wie der Grünstreifen auf der Autobahn im Herbst. Ich hatte Liebeskummer. Seit Jahren. Was mit den Anderen war, weiß ich nicht. "Lassmabreitfahren" nannte Max unsere Touren. "Wann kiffen wir?" fragte Reinhart und ich sagte: "Lass' uns treffen."
Eines Abends änderte sich alles.
Wie immer fuhren wir durch die Stadt. Ich erzählte Max gegeltem Hinterkopf und Reinharts glatt über den Beifahrersitz schimmernder Glatze von einer TV-Reportage über die beiden Voyager-Kapseln, die 1976 von den Amis ins All geschossen wurden. Wie zwei kosmische Flaschenpost-Sendungen konservieren sie in ihren Bäuchen den kulturellen Status-Quo der menschlichen Zivilisation. Wer sie öffnet, kann sich aus Fotos von stillenden Frauen, Grußworten in 55 Sprachen, dem Periodensystem der Elemente, physikalischen Gesetzmäßigkeiten und außerdem diversen Musikstücken ­ Mozart, Bach, Volkstümliches aus Japan ­ ein Bild der Erde zusammenpuzzeln. Und aus Johnny B. Good von Chuck Berry. "Warum ausgerechnet Johnny B. Good?" fragte ich laut in das Schweigen. "Was regst du dich auf?", fragte Max. "Ist doch Latte." "Weil es vielleicht scheiß-arrogant ist? Die Entscheidung haben doch irgendwelche Wissenschaftler mit Prostataproblemen und Altersflecken getroffen. Die können wohl kaum wissen, was langhaarige Beatniks interessiert, die beim Sex ohne Penispumpe auskommen. 1976 ­ da gab's schon die Beatles. Velvet Underground. Jimmy Hendrix. AC/DC. Warum Chubby Checker?" "Was hättest du denn ins All geschossen?" fragte Reinhart ohne sich umzudrehen. Und dann sagte er "Es ist halt wie mit deinen Tapes: Es gibt trojanische Tapes und trojanische Raumkapseln." Reinhart war wie ein Blutegel: Er liebte es, in Wunden zu bohren. Agnes sprach von "Trojanischen Tapes." So nannte sie Tapes, die ich für Partys mixte. Sie fingen mit dem an, was zum Party-Understatement gehörte und gingen mit dem weiter, was mir gefiel: Kylie Minogue feat. Alien Sex Fiend. Mein Problem war immer, dass ich mehr zum Pragmatismus als zur Wahrhaftigkeit neigte. Aber wozu hat man Ellenbogen? Stattdessen ging ich den Weg des geringsten Widerstandes. Wie jetzt. Ich wollte aussteigen und die schwere Leere in meinem Körper mit Agnes blonden Locken aufhellen. Wollte, dass ihr Lachen den schlaffen Resonanzboden in meiner Brust spannte und sehen, wie ihr Mund dabei einen Wangenhügel vor ihre Augen schiebt. Man kennt das von Amputationen ­ Liebeskummer ist das Gegenteil von Phantomschmerz: Phantomglück.
Da der Regen ein pochendes, nasses Netz um das Auto wob, das Tropfen für Tropfen über die Fenster kroch, stieg ich nicht aus, sondern wechselte das Thema: "Ich habe heute einen alten Klassenkameraden getroffen. Ich kam gerade vom Aldi, bin fast gegen ihn gerannt, als er aus seinem Z3 stieg."
"Geile Karre. 2,8 Liter oder M?" fragte Max.
"Was weiß ich? Der Typ guckt, zeigt mit dem Finger auf mich: Bis du nicht der Schaumal? 'Ja' sag' ich. Dann nickt er mit dem Kopf, lächelt, schlägt zu: Was machst du so? 'Studieren' sage ich in dieses Grinsen, das schmierig über sein glatt rasiertes, gebräuntes, mit Feuchtigkeits-Toniken getuntes Gesicht, diese Karriere-Karosserie glitschte Š" Max lachte: "Alter, wie du abgehst." "Du hättest mal seine Augen sehen sollen. Sie sagen: Überholt!
Diesem Penner erzähle ich, dass ich nicht nur studiere, sondern zusätzlich Praktika mache. Nur um zu zeigen, dass ich irgendwann mal vorhabe, Karriere zu machen. Scheiße, ich bin 29, besitze kein heiles Paar Socken, nur die Turnschuhe an meinen Füßen und habe insgesamt nur drei ausgeblichene, schwarze Jeans von H & M." "Du hast ihm ja nicht von deiner Interrail-Tour erzählt, die du für diesen Sommer planst," sagte Reinhart. Max natürlich, der Nichts-Checker, fragte: "Wie, du planst eine Interrail-Tour? Bist du da nicht zu alt für?" Ich wusste, dass Reinhart mich für ein Weichei hielt.
Einmal fragte ich ihn, wer ihn am meisten beeindruckt. Er sagte: Einer der Rocker von Mad Max 2. Bei der finalen Schlacht schlittert er mit seinem Motorrad unter ein Auto, in das ein zweiter Wagen hineinrast. Die Kamera verharrt bei dem qualmenden Schrotthaufen. Dann sieht man, wie sich unter dem verbogenen Blech ein Arm herausschiebt, der in einer Geste hoffnungslosen Trotzes zitternd den Mittelfinger streckt. Ich gehöre zu der Sorte Mensch, die ihre Hand bei sich, am Körper behalten, damit sie ordnungsgemäß am Stück sterben. Reinhart war das Gegenteil von mir: Als er nach einer Knieverletzung seine Thai-Box-Karriere aufgeben musste, begann er mit Grass und ein bisschen Koks zu dealen. Er lagerte den Stoff in seinen blank polierten Pokalen.
"Und wie verdient der sich seinen Z3?" fragte Max.
Statt einer Antwort streckte ich die Karte nach vorne, die ich seit der Begegnung mit mir rumtrug. "Champs for Brands, Henning Maatz. Creative Director" las Max. Dann fuhr er rechts ran und sagte "Lassmabauen": Er riss die Visitenkarte in zwei Hälften. Die eine Hälfte knetete er zu einem kleinen Röhrchen, das er in einen grün-braun-weißen Teppich aus Papier, Tabak und Grass rollte. Die andere Hälfte steckte er in die Tasche seiner blauen Bomberjacke, während er den Joint anzündete. Leuchtend floss der Verkehr durch das Wummern der Bässe, vorbei an den schlierigen Fenstern, hinter denen Max, Reinhart und ich unser Leben geparkt hatten. So endete jeder Tag für mich an derselben Stelle: Matthias Schaumal, die gefletschte Stirnfalte auf der Rückbank eines gelben VW-Passats. Dann kam irgendwann der Punkt, an dem mein Gewissen eine Art Verkehrskontrolle durchführte: Agnes schaute in den Wagen. Ich sah ihre grünen Augen, die glänzten, wie ein gelutschtes Hustenbonbon. Je länger sie in den schwammigen Nebel hineinguckte, desto stumpfer wurden sie, erloschen zu einem Vorwurf, den nur ich hören konnte: "Steigen Sie aus und gehen Sie auf einer Linie geradeaus." Sagte mein Gewissen. Ich ging drei, vier Jahre zurück: Agnes und ich saßen im Park. Die grauen Wiesen und die schwarzen Dreiecke der Tannen versiegelten unser Flüstern und die Nacht lag weich und warm auf unseren Küssen. Agnes schenkte mir einen Stern: "Dieser da, der Kleine, schräg über der Tanne soll dich immer daran erinnern, dass ich dich liebe." Sagte sie.
Einen Monat später machte ich Schluss. Dabei war es eher so als ob mein Leben sie rausgeworfen hätte. Sie passte da einfach nicht rein, mit ihrer unendlichen Offenheit, ihrer unbezwingbaren Fröhlichkeit und mit ihrer grenzenlosen Zuversicht, die meinen Realismus als Feigheit entlarvte. Sie war wie eine Folie, auf der ich die triefende Spur Selbstmitleid sehen konnte, die ich hinter mir her zog. Wie lange wäre das gut gegangen? Ich hab's nie auf einen Versuch drauf ankommen lassen. Es reichte mir, zu wissen, dass jemand wie sie etwas von mir wollte. Aus mir könnte also noch was werden ­ daran erinnerte mich der Stern. Aber dann vergaß ich, welchen sie mir schenkte.
"Stellt euch mal vor, Aliens landen hier und wir sind die Ersten, auf die sie treffen. Wir drei hier in unserem Canna-Cruiser. Damit würden die doch kein Stück rechnen, wenn in den Kapseln nur klassische Musik und Bilder von stillenden Müttern steckten." Ich weiß nicht, ob es Reinhart von Anfang an ernst meinte: "Sag' ihnen doch, was sie hier erwartet." Der Blinker tickte in das Schweigen. Dann sagte Max: "Coole Idee". Seine Augen glänzten breit und fettig. "Ich habe vor ein paar Jahren eine Zeit beim Objektschutz im Hafen gearbeitet. Da hat auch ein Pyro-Unternehmen einen Container. Ist völlig lasch gesichert. Sollte mit einem Brecheisen aufzukriegen sein." Reinhart knackte mit seinen Fingern, ein Rauchring sickerte aus seiner Glatze. "Und dann?", fragte ich und sackte mit meinem Gewicht in die Rückbank, fühlte mich als ein Teil des Autos, so als ob mein Hautgewebe mit dem Sitzbezug zusammengewachsen wäre und ich mich nur unter Schmerzen und schmatzenden Reißgeräuschen von dem Wagen trennen könnte. "Hast du vielleicht was Besseres vor? Kaffeefilter zu kaufen? Du musst doch morgen wieder zum Praktikum." Reinhart hatte Recht. Was hatte ich zu verlieren, außer das Tagein- Tagaus, das grau und trostlos wie ein Vorortzug an mir vorüber rumpelte? Wir fuhren zum Hafen. Das diesige Licht der Laternen wusch gelbe, rote und blaue Container aus der Dunkelheit und Max steuerte durch ein Gewirr schmaler Containergassen. Im Licht der Scheinwerfer kam uns ein grünes Schild an einem Metallzaun entgegen: 'Brillant Sky-Painting Ltd.' "Der Container da vorne ist bis oben hin voll mit Raketen." Max zeigte über den Zaun. Dann stieg er aus, holte ein Brecheisen aus dem Kofferraum.
"Kommst du mit?". Er meinte Reinhart. "Du kannst ja aufpassen." Sagten sie zu mir, kletterten gemeinsam über den Zaun und hebelten mit dem Brecheisen an dem Container-Schloss herum.
Ich blieb zurück, zwischen den bunten Bäuchen aus Stahl, gefüllt mit Futter für die nimmersatte Stadt: Kugelschreiber, Graphitblöcke, Fahrrad-Bremsen, Quietscheentchen. Ich lauschte in das ferne Ächzen der schlaflosen Kräne und dem verträumten Glucksen vom Pier, das der Wind nass zu mir herüberwehte.
Dann hörte ich ein Schmatzen. Ich dachte erst, es sei der Regen, aber dann sah ich eine Ratte, deren Leib zur Hälfte im Bauch einer toten Möwe verschwand. Ich überlegte erst, die Ratte zu verscheuchen. Aber dann schaute ich ihr zu und dachte: Es ist egal, ob das mit den Raketen klappen würde oder nicht. Genauso, wie es egal gewesen wäre, ob das mit Agnes geklappt hätte. Oder ob jemand irgendwelche Tapes zu Ende hört. Oder ob ein ehemaliger Klassenkamerad, den ich seit 14 Jahren nicht mehr gesehen hatte, mich für einen Versager hält. Irgendwann sind wir alle tot. Bis dahin wollte ich lebendig sein. "Träumst du?" Reinhart stieß mich an. "Wir rufen dich schon die ganze Zeit. Hilf mit, einladen." Max reichte uns 5 Raketen über den Zaun: Jede etwa 1 Meter lang und so dick, wie ein Unterarm. Dann stiegen wir ins Auto und fuhren zu einem Berg am Stadtrand: "Wir brauchen eine große Konservendose, als Behälter für das, was wir reinpacken wollen." "An der Tanke gibt's 5-Liter-Eintöpfe." "Wir leeren das Zeug aus und binden die Raketen drumrum." "Wichtig ist nur, dass wir alle gleichzeitig zünden." "Genau, sonst gewinnt die Ladung nicht an Höhe."
Als wir auf dem Hügel parkten, ließen wir unsere Blicke über einen ausgefransten Teppich aus Licht wandern, der am Fuß der Dunkelheit zu uns herauf, in die Nacht funkelte. Es hatte aufgehört zu regnen. Stumm entfernten wir uns vom Auto, und der Geruch von Erde legte sich wie ein holziger Schleier über uns. Auf einer Aussichtsplattform, zwischen Scherben, Zigarettenschachteln und Bänken, in einem Kleid aus schwarzem Edding, öffneten wir die Konserve und schütteten den Inhalt auf den Boden.
Max legte einen Joint in die Büchse. So wie er guckte, hätte es auch das Bundesverdienstkreuz sein können. "Lächerlich" dachte ich. Doch als Reinhart sein verblichenes Sportabzeichen von den Bundesjugendspielen aus seiner Brieftasche nestelte und damit den Joint zudeckte, wollte ich kein Spielverderber sein. Ich legte mein einziges Foto von Agnes daneben. Wir verschlossen unsere Kapsel mit Silberfolie und befestigten die Raketen. "Was haltet ihr davon, wenn wir sie 'Canna-1' nennen?" Max grinste. "Nichts." sagte Reinhart. "Außerdem steht der Name doch drauf: Deftiger Hausmacher-Eintopf."
Auf 'drei' zündeten wir: Die Glut saugte die Zündschnur auf und riss die Raketen fauchend in die Himmel. Zehn Sekunden später peitschten gelbe und rote Striemen über den schwarzen Leib der Nacht ­ einen rauchigen Schweif hinter sich herziehend, taumelten sie auf die Lichter der Stadt herunter.
Und dann versickerte das städtische Lichtermeer von außen nach innen in der Dunkelheit. Ich verschwand in der Schwärze und dabei sah ich den Sternenhimmel so deutlich wie noch nie: Die Erde trieb durch einen funkelnden Strom Ewigkeit und ich war ein Teil davon. Gierig betrank ich mich an der Weite, Blick um Blick zog ich sie in mich hinein, bis sich alles in einem leuchtenden Punkt konzentrierte: Über mir zitterte wie eine Zelle unter dem Mikroskop der Stern, den mir Agnes geschenkt hatte. Er war immer da, ich hatte nur vergessen, lange genug nach oben zu schauen. Ich weiß immer noch nicht, ob die Raketen in einen sensiblen Elektrizitätsbereich einschlugen oder ob es Zufall war, dass ausgerechnet jetzt überall das Licht ausging. Sirenen heulten und dann stand Reinhart neben mir. Er zitterte.
Reinhart zitterte vor Angst: "Mann ist das dunkel. Gut, dass du da bist."
Gemeinsam gingen wir den Weg zurück zum Auto, das in die Nacht leuchtete.
Max saß auf dem Beifahrersitz. Er drehte aus der anderen Hälfte der Visitenkarte ­ 'atz, ve Director' ­ einen Filter. "Hast du eigentlich mal Mad Max Zwei gesehen?" Fragte ich ihn. "Sollte ich?" Er leckte an seinen Blättchen. "Du erinnerst mich an einen der Charaktere."
In dieser Nacht rauchten wir den letzten gemeinsamen Joint. Dann ging ich nach Hause. Ein paar Tage später brach ich mein Studium ab und kündigte mein Praktikum. Das Leben ist zu kurz, um es wie einen Apfel auf der Stelle verfaulen zu lassen: Die schnellste Verbindung zwischen Geburt und Tot ist abwarten; Mal sehen; Ich weiß nicht. Sogar Robinson verließ seine Insel. Und das ist doch Leben oder? Unterwegs zu sein. Keine Ahnung, wohin es mich führt. Aber ich bewege mich.


Eingereicht am 15. Dezember 2004.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.

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